1977

EMMA und Courage erscheinen. Damit haben Feministinnen erstmals eine überregionale, öffentliche Stimme. Die Einheitsfront der Bewegung differenziert sich in unterschiedliche politische Strömungen.

Erste EMMA, 26. Januar 1977, Externer Link: EMMA-Lesesaal
Cover der ersten EMMA

21.-23. Januar 1977
Elf Frauenreferate bundesdeutschen Universitäten veranstalten in Frankfurt ihr erstes zentrales Treffen.

26. Januar 1977
Die erste Ausgabe der EMMA erscheint. Die Erstauflage von 200.000 ist in kurzer Zeit vergriffen, ebenso die nachgedruckten 100.000 Exemplare. Herausgeberin der Zeitschrift von Frauen für Frauen ist Alice Schwarzer. In der Kölner Redaktion arbeiten zu diesem Zeitpunkt neben Schwarzer die andernorts festangestellten Journalistinnen Sabine Schruff und Angelika Wittlich mit. Einzige Vollzeit-Mitarbeiterin ist Redaktionssekretärin Christiane Ensslin (die als Schwester von Gudrun Ensslin quasi in Sippenhaft genommen worden und arbeitslos war).

EMMA-Redaktion 1977, Bildquelle: EMMA-Archiv
EMMA-Redaktion 1977

Das Blatt ist im Vorfeld nicht nur der Häme der Männermedien ausgesetzt (Spiegel), sondern wird auch von Teilen der Feministinnen angefeindet. Die Kritik entzündet sich an der ‚Kommerzialität’ des Projektes und der (falschen) Unterstellung, EMMA gehöre zum Gruner & Jahr-Verlag. Die Frauenzeitschrift Courage ruft einige Monate vor Erscheinen der EMMA zu einem Informationsboykott auf. Die Schwarze Botin behauptet, „marktfreundlicher Journalismus und die Interessen der Frauenbewegung“ seien „nicht vereinbar“ und kündigt an: „Im Januar sollen 200.000 Frauen penetriert werden“ (eine Anspielung auf den Begriff der sexuellen ‚Penetration’, den Schwarzer im Kleinen Unterschied lanciert hatte).

Virgina Woolf, Abbildung aus EMMA 1/1977, S. 53
Virginia Woolf

Im Gegensatz zur Courage, die bewusst von nicht-professionellen Frauen gemacht wird und sich in Sprache und Inhalten stärker an die Frauenszene richtet, versteht sich EMMA als professionelle Zeitschrift, die sich am allgemeinen Zeitschriftenmarkt positionieren will. EMMA vertritt die radikalfeministische Position, die davon ausgeht, dass es keinen ‚natürlichen’ Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt.

1981 pendelt sich die Auflage der EMMA bei 100.000 ein. Alice Schwarzer im Rückblick über die Gründerzeit: EMMA lebt – und wenn die Jungs sich totärgern (EMMA 2/87)

In der ersten EMMA-Ausgabe wird Virginia Woolf (1882-1941) portraitiert. Die Engländerin ist literarisch wie politisch neben Simone de Beauvoir die bedeutendste feministische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Ihre Werke waren zu dem Zeitpunkt auf Deutsch vollständig vergriffen. Die jungen Feministinnen entdecken diese bis dahin ignorierte Vordenkerin wieder. Der Fischer-Verlag editierte wenig später die meisten ihrer Werke neu und veröffentlicht seit 1989 sukksessiv das Gesamtwerk Woolfs in einer exzellenten Neuübersetzung.

Hedwig Dohm, Abbildung aus EMMA 2/1977, S. 54
Hedwig Dohm in EMMA

Im nachfolgenden Heft wird Hedwig Dohm  (1831-1919) portraitiert. Sie ist die brillianteste und polemischste Autorin der Historischen Frauenbewegung und war zu ihrer Zeit eine berühmte Frau. Dennoch geriet sie völlig in Vergessenheit, zuletzt verbrannt auf dem Bücher-Scheiterhaufen der Nazis. Die jungen Feministinnen entdecken ihre bis dahin ignorierten Vorgängerinnen Schritt für Schritt. Einige Jahre später wird sich die wahre Frauengeschichte auch an den Universitäten etablieren.

Über die ‚Männerjustiz’ schrieb Alice Schwarzer in Anlehnung an den Begriff ‚Klassenjustiz’ in der ersten EMMA-Ausgabe. Sie zeigt auf, in welchem Maße Frauenmord der ‚Männerehre’ wegen auch von der Justiz als Kavaliersdelikt behandelt wurde, und wie die ‚Männerjustiz’ männliche Täter und weibliche Opfer nach zweierlei Maß behandelte. Die erste deutsche Juristin, Anita Augspurg  (1857-1943) hatte bereits Anfang des Jahrhunderts diesen Begriff geprägt – aber das war in Vergessenheit geraten und wurde erst in den 80ern wiederentdeckt.

1. Nacht-Demo in Berlin 1977, Bildquelle: EMMA-Archhiv, ©Margarete Redl-von Peinen
1. Nacht-Demo

1. März 1977
In Berlin veranstalten Frauen zum ersten Mal eine Nacht-Demonstration gegen sexuelle Gewalt. Anlass: In Charlottenburg war die 26-jährige Susanne Schmidtke vergewaltigt und dann mit Tritten und Schlägen so stark misshandelt worden, dass sie drei Wochen später daran starb. In dem Flugblatt zur Aktion heißt es: „In der BRD werden 35.000 Frauen im Jahr vergewaltigt. D.h. jede Viertelstunde wird eine Frau vergewaltigt. Davon werden 7.000 Vergewaltigungen angezeigt und nur 700 Vergewaltiger werden verurteilt (0,5 %). Das Schweigen über Vergewaltigungen muss gebrochen werden!“

Frauenkongress 1970er Jahre, Bildquelle: EMMA-Archiv, © Inge Werth (FMT-Signatur: FT.02.0246)
Frauenkongress

5.-6. März 1977
Auf dem Nationalen Frauenkongress der autonomen Frauenbewegung in München diskutieren rund 800 Teilnehmerinnen die Arbeit in ihren boomenden Projekten. Die anwesenden Projekte reichen von der Cafégruppe Frankfurt über die Berliner Initiativgruppe Arbeitslosigkeit bis zur den Gründerinnen des Berliner Hauses für geschlagene Frauen. Der Themenkatalog reicht von Gewalt über Ökologie bis Kunst. Immer stärker rückt das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen in den Mittelpunkt. Die Teilnehmerinnen beschließen, in der Nacht zum 1. Mai – der ‚Walpurgisnacht’ – bundesweit Nacht-Demonstrationen zu organisieren. Motto: „Frauen erobern sich die Nacht zurück!“

Plakat zur Ausstellung "Künstlerinnen international" (FMT-Signatur: PT.1977-01)
„Künstlerinnen international“, 1977

Allerdings tauchen mit dem Boom an Frauenprojekten auch erste Konflikte auf. So ziehen die Veranstalterinnen des Nationalen Frauenkongresses in München das resignierte Resümee: „Der Sprung in die Welt der Geschäfte, auch wenn es Frauengeschäfte sind, ist nicht abgelaufen, ohne Schaden zu nehmen. (…) Ein Boykott jagt den anderen, inhaltliche Diskussionen sind passé, heute geht es ums Feilschen von Prozenten, ums Aufpassen, nicht vom Schwesternprojekt übers Ohr gehauen zu werden. Die Konkurrenz und der Machtkampf zwischen Frauen wuchert dermaßen, dass wir keine Frau gefunden haben, die bereit war, zum Thema Frauenprojekte einige zusammenhängende Sätze zu sagen.“

6.-8. März 1977
In Berlin findet die Ausstellung Frauen in der Kunst statt. Eine Gruppe Feministinnen präsentiert in Zusammenarbeit mit der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst internationale Künstlerinnen wie Magdalena Abakanowicz, Giorgia O’Keeffe und Meret Oppenheim. Und stellt die Frage: „Gibt es eine weibliche Ästhetik?“

Ende April folgt die Ausstellung Künstlerinnen International 1877-1977 in Frankfurt. Die Gruppe Frauen in der Kunst hat unter dem Dach des Frankfurter Kunstvereins die Werke und Biografien von 182 Künstlerinnen aus 100 Jahren zusammengetragen. Der „Ausbruch der Frauen“ (Frankfurter Rundschau) beginnt nun auch in der bisher dem ‚kreativ-genialen’ Mann vorbehaltenen Kunst.

Bildquelle: EMMA-Archiv
Claudia Caputi (links)

Anfang April 1977
In Italien bringt der Fall Claudia Caputi Tausende Frauen auf die Straße. Die 18-jährige Claudia war in Mailand von 16 jungen Männern vergewaltigt worden. Sie erstattet Anzeige. Obwohl ihr die Täter während des Prozesses mit Einschüchterung drohen, ordnet die Staatsanwaltschaft keine Schutzmaßnahmen an. Das Opfer wird noch einmal vergewaltigt und mit Rasierklingen verletzt.

Claudia Caputi wird zur Symbolfigur für das Movimento per la Liberazione de la Donna (MLD). Auch in Deutschland, wo Frauengruppen das Ausmaß der Sexualgewalt und die steigende Zahl von Gruppenvergewaltigungen immer lauter thematisieren, erregt der Fall großes Aufsehen.

Titelbild konkret, April 1977
konkret 4/1977

6. April 1977
Als Reaktion auf ein sexistisches Titelbild der Zeitschrift konkret mauert die Frauengruppe Militante Panther-Tanten die Hamburger Redaktionsräume zu. In der Titelgeschichte Feminismus 77 – Schwach auf der Brust werfen drei Autoren und eine Autorin den Feministinnen die Ignoranz der Klassenfrage vor: „Die Konsequenzen aus diesem klassenneutralen Männer-Herrschafts-Konstrukt sind entweder zynisch oder reaktionär, bestenfalls dumm.“ Der zu Beginn der Frauenbewegung noch moderate bis sympathisierende Ton der linken Presse wird zusehends heftiger: „Man möchte am liebsten seinen ganzen linken Chauvinismus zusammennehmen und die Emmas mal richtig rannehmen.“

Auch in den ‚bürgerlichen Medien’ verändert sich die anfangs noch wohlwollende Berichterstattung angesichts der Beständigkeit und Radikalität der Frauenbewegung. Typische Schlagzeilen lauten: „Der Feminismus schwankt zwischen Hass und Selbsthass“ oder „Frauenbewegung am Ende?“

11. April 1977
Im Spiegel erscheint ein Artikel mit dem Titel Feminismus: Emma mit der Dornenkrone, der zwar mit Polemik nicht spart, den Zeitgeist aber dennoch präzise spiegelt. Da wird das Versacken weiter Teile der Frauenbewegung in der ‚neuen Weiblichkeit’, ‚neuen Innerlichkeit’ und ‚neuen Esoterik’ geschildert. „Halb mater dolorosa, halb Hüterin des Weltgeheimnisses, so wallte die Frau, das unerkannte Wesen durch Verena Stefans Roman Häutungen,“ heißt es. Und auch EMMA kriegt wegen eines Romy-Schneider-Portraits ihr Fett ab als „plötzlich beseelt vom Frauenideal der Hedwig Courths-Mahler“. Droht der politische Feminismus in Selbstmitleid und Selbstgefälligkeit zu versinken?

21. April 1977
Auf dem Frauenhof Graiganz kommen Historikerinnen zum ersten überregionalen Treffen zum Thema Frauen in der Geschichte. Feministinnen entdecken nun auch die Geschichte als wissenschaftliches Thema für die Frauenforschung. Ein Jahr später wird in Berlin das erste Historikerinnentreffen Berlin stattfinden.

Flugblatt der Roten Zora 'Frauen erhebt euch und die Welt erlebt euch!', 1977 (FMT-Signatur: FB.07.102)
Flugblatt der Roten Zora

28. April 1977
Die Rote Zora verübt einen Sprengstoffanschlag auf das Gebäude der Bundesärztekammer. („Wir verstehen die Bundesärztekammer als Vertreter der Vergewaltiger in weißen Kitteln, die sich über unser Selbstbestimmungsrecht hinwegsetzen!“) Er gilt als der erste Anschlag der militanten Frauengruppe, die sich als Teil der ‚Revolutionären Zellen’ versteht, sich aber gleichzeitig den Zielen der Frauenbewegung verpflichtet fühlt. Es stellt sich heraus, dass bereits der Anschlag auf das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1974 auf das Konto der Roten Zora geht. Anlass war das Kippen der Fristenlösung durch die Verfassungsrichter. Die Gruppe verübt bis in die 80er Jahre Anschläge gegen Sexshops, Frauenhändler oder Pornokinos, beschränkt sich dabei aber stets auf Sachbeschädigung. Motto: „Frauen erhebt euch und die Welt erlebt euch!“

Walpurgisnachtdemo, Bildquelle: EMMA-Archiv, © Margarete Redl-von Peinen (FMT-Signatur: FT.02.0166)
Walpurgisnachtdemo

30. April 1977
In der ‚Walpurgisnacht’ (der Nacht der Hexen auf dem Blocksberg) gehen tausende Frauen gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung auf die Straße. Motto: „Frauen erobern sich die Nacht zurück!“ In ganz Deutschland demonstrieren Frauen mit Fackeln, Kerzen und weiß bemalten Gesichtern gegen die Gefahr, die ihnen alltäglich droht: „Ausgangssperre bei Dunkelheit ist das Los der Weiblichkeit!“

Mai 1977
In Köln findet der erste Kongress zur feministischen Therapie statt: Feminismus und Psychoanalyse. Das Themenspektrum reicht von der Mutter-Tochter-Beziehung über weiblichen Masochismus bis zur Anorexie.

Plakat: Internationales Frauentreffen Paris, Mai 1977 (FMT-Signatur: PT.1977-03)
Plakat vom Pariser Frauentreffen

Pfingsten 1977
Rund 4.000 Frauen aus aller Welt kommen zum Internationalen Frauentreffen nach Paris. Eingeladen haben französische Frauengruppen, die sich als „klassenkämpferische Strömung innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung“ bezeichnen. Auf dem Kongress offenbart sich die Kluft zwischen den radikalen Feministinnen und den Initiatorinnen, deren erklärtes Ziel es ist, „die Kämpfe der Frauen zu vereinheitlichen und sie zu einem Bestandteil der Arbeiterbewegung zu machen“.

Ein ähnlicher Konflikt offenbart sich bei einem zweiten Frauen-Kongress Anfang Juni in Amsterdam. Courage beklagt: „Über das Stück Tesafilm, mit dem der Feminismus an die sozialistische Theorie geklebt wurde, kamen wir nicht hinaus.“

14.-16. Juni 1977
In Rom treffen sich über 200 Frauen aus Europa, den USA, Südamerika und Australien zum 1. Internationalen Frauengesundheits-Kongress.

1. Juli 1977
Das neue Eherecht tritt in Kraft. Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts ist die ‚Hausfrauenehe’ abgeschafft. Bis dato war die Ehefrau „zur Haushaltsführung verpflichtet“. Berufstätig durfte sie nur sein, wenn sie dadurch ihre „familiären Verpflichtungen nicht vernachlässigt“, ihr Ehemann durfte Arbeitsverträge seiner Frau ohne ihr Einverständnis kündigen. Gleichzeitig waren Ehefrauen zur unbezahlten Mitarbeit in Beruf oder Geschäft des Mannes verpflichtet.

Diese Kernstücke des Familienrechts waren seit seiner Aufnahme ins Bürgerliche Gesetzbuch im Jahr 1900 nicht wesentlich verändert worden. So war das Gesetz, das dem Ehemann die „Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ zusprach, schon von der Historischen Frauenbewegung aufs Schärfste kritisiert worden. (Anita Augspurg: Ein typischer Fall der Gegenwart ; Louise Dittmar: Für die Entfaltung der weiblichen Persönlichkeit)

Mit dem neuen Eherecht müssen Eheleute ab jetzt die „Haushaltsführung einvernehmlich regeln“. Auch Frauen haben nun das Recht auf Berufstätigkeit, auch Männer müssen auf ‚familiäre Verpflichtungen’ Rücksicht nehmen. Die unbezahlte Mitarbeitspflicht ist aufgehoben. Auch das Scheidungsrecht wird reformiert: Das Schuldprinzip ist abgeschafft. Bisher hatten schuldig Geschiedene kein Recht auf Unterhalt – zum Beispiel Ehefrauen, die ihre ‚familiären Pflichten’ vernachlässigt hatten.

Die Zeit stellt fest: „Ginge es allein nach dem Gesetz, so hätten Ehefrauen die Wahl zwischen Haushalt, Beruf oder einer Kombination zwischen beidem. In der Praxis haben sie diese Wahlmöglichkeiten meistens nicht: Ihre Ausbildung ist schlecht, ihre Berufsaussichten sind schlecht, ihre Bezahlung würde schlecht sein und ihr Selbstvertrauen ist nach einigen Jahren der Isolation in Haushalt und Familie mindestens angeknackst. Das zu ändern, wird mehr Zeit brauchen als die Änderung des BGB.“

23. Juli 1977
Zum ersten Mal in der bundesdeutschen Pressegeschichte spricht der Deutsche Presserat eine Rüge wegen Sexismus aus. Grund: Ein Titelfoto des Spiegel. Zur Schlagzeile Kinder auf dem Sex-Markt – Die verkauften Lolitas zeigt das Foto eine 12-Jährige nackt und in Prostituierten-Kluft. EMMA, Courage, Unsere kleine Zeitung und der Kinderschutzbund protestieren beim Presserat: „Was in einer pornografischen Publikation direkt angeboten würde, wird hier wie zum Hohn auch noch moralisch kaschiert.“ Der Presserat rügt.

Sommer/Herbst 1977
Der ‚Deutsche Herbst’. Angesichts der hohen Anzahl weiblicher Terroristen – wie Ulrike Meinhof, Susanne Albrecht oder Gudrun Ensslin – die an Anschlägen und Entführungen beteiligt sind, sinniert die Presse über die Verbindung von Feminismus und Terrorismus. Der Spiegel titelt: Die Terroristinnen – Frauen und Gewalt und konstatiert: „Unter Westdeutschlands Terroristen sind Mädchen mittlerweile in der Mehrheit. Exzess der Emanzipation?“ Sowie: „Macht die Emanzipation Frauen zu Terroristinnen?“ fragt Brigitte. Und Die Welt macht eine „gewisse Spielart des Feminismus“ für den hohen Frauenanteil unter den TerroristInnen verantwortlich.

In EMMA analysiert Alice Schwarzer die Presse-Berichterstattung als „Diffamation der Emanzipationsbewegung“. Eine Frankfurter Frauengruppe verfasst den satirischen Aufruf an alle Frauen zur Erfindung des Glücks.

Sigrid Fronius: Frauenverbände und Feministinnen an einem Tisch : Berliner Frauenkonferenz 1977. Courage, 9/1977, S.20.
Bericht über die Frauenkonferenz in Courage

September 1977
In der gesamten Bundesrepublik gründen sich Aktionsgruppen gegen die ‚Klitorisbeschneidung’. Nachdem EMMA im März zum ersten Mal über diese bisher ignorierte Menschenrechtsverletzung an Millionen Mädchen und Frauen berichtet hatte, wurde die Redaktion von Briefen überrollt. Die Aktionsgruppen protestieren bei der Weltgesundheitsorganisation, UNO, dem Entwicklungsministerium und anderen Behörden gegen das ‚millionenfache Massaker’. Auch international formiert sich der feministische Protest gegen Genitalverstümmelung.

16.-18. September 1977
Zum ersten Mal kommen Gruppen der autonomen Frauenbewegung und traditionelle Frauenverbände zu einer gemeinsamen Veranstaltung zusammen: der Berliner Frauenkonferenz. Impuls und Finanzierung gehen aus von der Europäischen Gemeinschaft (EG), die anlässlich der bevorstehenden Wahlen zum Europa-Parlament Frauengruppen über die EG informieren will. So ist die Kontaktaufnahme zwischen autonomen Frauen und traditionellen Frauen zunächst noch von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Der Frauenausschuss des DGB, die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) und andere traditionelle Frauenverbände sagen ihre offizielle Teilnahme ab, viele Mitglieder kommen dennoch inoffiziell.

Flugblatt des FFGZ Berlin, 1977 (FMT-Pressedokumentation: PD-FE.03.01-1977)
Flugblatt des FFGZ Berlin

Oktober 1977
Drei Jahre nach der ersten Vorführung einer vaginalen Selbstuntersuchung durch die Amerikanerin Carol Dawner im Berliner Frauenzentrum eröffnet in Berlin Europas erstes Feministisches Frauengesundheitszentrum (FFGZ). Das Zentrum, in dem eine Ärztin, eine Krankenschwester und eine Medizinisch-Technische Assistentin mitarbeiten, versteht sich als Alternative zur ‚männerdominierten’ und schulmedizinisch orientierten Gynäkologie. Das FFGZ, setzt auf einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und auf einen selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper: „Durch Selbsthilfe wollen wir uns in die Lage versetzen, über unseren Körper und unsere Sexualität selbst zu bestimmen.“

Das Zentrum bietet Anleitungen zu Abstrichen und Selbstuntersuchung per Spekulum, informiert über Verhütungsfragen und Schwangerschaftsabbrüche. Die Reaktion der Ärzteschaft folgt auf dem Fuß: Das Deutsche Ärzteblatt rechnet die aufkeimende Frauengesundheits-Initiativen zur ‚Terrorszene’.

Ein Jahr später eröffnet auch in Frankfurt ein FFGZ, bald folgen Hamburg, Bremen und Hannover. Heute gibt es in Deutschland 18 Feministische Frauengesundheits-Zentren.

Die Eröffnung des Berliner FFGZ im Oktober 1977 steht in der Tradition der Historischen Frauenbewegung: Genau hundert Jahre zuvor hatten die Ärztinnen Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus in der Schönhauser Straße die erste deutsche Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder eröffnet.

Artikel zur Sommer-Uni von Sigrid Fronius
Artikel zur Sommeruni

3.-8. Oktober 1977
5.000 Frauen kommen zur 2. Sommeruniversität in Berlin. Ihr Schwerpunkt-Thema: Frauen – Bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte. Fast alle der 70 Arbeitsgruppen kreisen um „die unbezahlte Arbeit im Haus – die unterbezahlte Arbeit außer Haus.“ Nach wie vor wird das Thema Lohn für Hausarbeit kontrovers diskutiert.

22./23. Oktober 1977
Auch auf dem Nationalen Treffen Feministischer Alltag in Neu-Isenburg, an dem rund 250 Feministinnen aus der ganzen Bundesrepublik teilnehmen, sind die unbezahlte Hausarbeit und die Situation berufstätiger Frauen das Kernthema.

28.-30. Oktober 1977
In Köln kommen rund 160 Frauen zum Nationalen Lesbentreffen zusammen. Thema: Offensive Lesbenpolitik – Wie können wir Lesbenpolitik in die Öffentlichkeit tragen?

November 1977
Das Literatursymposium, das im Rahmen des ‚Steirischen Herbstes’ in Graz stattfindet, trägt den Titel: Männersprache – Frauensprache – Frauenliteratur – Männerliteratur. Sieben Jahre bevor Luise Pusch Das Deutsche als Männersprache entlarven wird, erklärt die deutsche Journalistin Marielouise Janssen-Jurreit (Sexismus) in Graz: „Eine Frau kann ihre Identität grundsätzlich schwerer finden und ausdrücken, denn die Sprache bildet die Erfahrungswelt der Männer ab.“

Ursula Scheu: Wir werden nicht als Mädchen geboren - wir werden dazu gemacht : zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft. - Orig.-Ausg. - Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 1977. (FMT-Signatur: LE.03.017)
Ursula Scheu, 1977

Schon 70 Jahre früher stellte Frauenrechtlerin Dr. Käthe Schirmacher in ihrem Aufsatz Der Sexualismus in der Sprache  fest: „Man braucht nur ein so organisch gewachsenes, so historisch gewordenes Gebilde wie die tägliche Umgangssprache der ‚Kulturländer‘ zu studieren, um zu sehen, wie stark der Sexualismus auch auf diesem Gebiet herrscht.“

Von Ursula Scheu erscheint das Buch: Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht (in Anlehnung an den berühmten Beauvoir-Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“). In ihrer Analyse weist die Psychologin und Mit-Gründerin des Berliner Hauses für geschlagene Frauen nach, wie Mädchen (und Jungen) von Geburt an in ihre Geschlechtsrolle gedrängt werden: „Die für ursprünglich gehaltenen weiblichen Eigenschaften wie Mütterlichkeit, Emotionalität, soziales Interesse und Passivität sind nicht etwa natürlich weiblich und angeboren, sondern kulturell anerzogen.“ Das Buch wird zur Standardlektüre für Psychologie-StudentInnen.

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