Marie Goegg-Pouchoulin (1826-1899): politisches Engagement im Spannungsfeld von dualistischer Geschlechterordnung und feministischem Programm

Regula Zürcher, 2002
Verharmlosungsstrategien I: Feministinnen, Öffentlichkeit und Rezeption

Marie Goegg versuchte von Anfang an, ihrer Vereinigung die Unterstützung von einflussreichen Männergruppierungen zu sichern und Frauen den Zugang dazu als gleichberechtigte Mitglieder zu verschaffen. Dies gelang ihr bereits im Gründungsjahr der AIF, als sie mit einem Referat landesweites Aufsehen erregte. Am 26. September 1868, anlässlich des zweiten Kongresses der »Internationalen Friedens- und Freiheitsliga« in Bern, betrat sie (neben der Sozialdemokratin Virginie Barbet aus Lyon) als einzige Frau das Rednerpult. Sie hielt einen eindrücklichen Vortrag über die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts und forderte – ganz im Sinn der Zielsetzung der AIF – nichts weniger als die Abschaffung sämtlicher Gesetze, die die Frau dem Manne Untertan machten. Sie verlangte die Rehabilitation der Frau als menschliches Wesen, als Person, die für ihr Tun und ihr Schicksal selbst verantwortlich sein müsse. Konkret umgesetzt hieß das in ihrem Sinn nicht nur Egalität vor dem Gesetz, sondern vor allem gleiche Chancen bezüglich Ausbildung und Erwerbsarbeit. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft sei nicht nur unlogisch und geradezu lächerlich, so die Vortragende, sondern ein eigentlicher »non sens«, eine Tyrannei, die es aufzuheben gelte. Am Schluss ihres engagierten Vortrags ersuchte die Sprecherin den Kongress, einer Grundsatzerklärung zugunsten der Frauen zuzustimmen. Diese Resolution beinhaltete den Anspruch auf vollständige Gleichheit der Frau auf ökonomischem, zivilrechtlichem, sozialem und politischem Gebiet und die Forderung nach Anerkennung der Rechte der Frau als Menschenrechte.

Resultat der Rede war nicht nur die Annahme der vorgeschlagenen Resolution durch die Liga, sondern gleich noch die Berufung Marie Goeggs in den Zentralvorstand, als Quästorin und schließlich sogar als Redakteurin der Vereinszeitschrift, ein Amt, das die Genferin in der Folge während gut 20 Jahren treulich versah. Abgesehen von der Unterstützung durch die Friedens- und Freiheitsliga erhielt die AIF jedoch kaum Beihilfe von männerdominierten Gruppierungen. Ernannte der Arbeiterverein von Chiavenna im September 1868 Marie Goegg noch zu seiner Delegierten, stufte hingegen die »Internationale Arbeiterassoziation« das Begehren der Association, Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufzunehmen, als »intempestive« (unzeitgemäß) ein und ging deshalb erst gar nicht darauf ein.

Die Tatsache, dass Frauen es wagten, nicht nur öffentlich und vor zahlreich anwesendem Publikum aufzutreten, sondern gleich noch für die Rechte des weiblichen Geschlechts einzutreten, wurde zum politischen Tagesgespräch. Die beiden Referate wurden in etlichen Tageszeitungen kommentiert und teilweise sogar im Wortlaut abgedruckt. Marie Goegg selbst beschrieb später die Situation folgendermaßen: »The platform and the body of the house were filled to overflowing: >The women are going to speak to-day; it will be funny, was whispered in the crowd. But the crowd was mistaken. It was not funny, but eloquent. The audience was carried away by the very simplicity of the Statement, and by the truth of the reasoning.«

Ihre Einschätzung deckt sich mit den Artikeln in zeitgenössischen Publikationsorganen. Die Kommentatoren zeigten sich mehrheitlich positiv überrascht über die kompetente und sachliche Art, in der die Referentinnen das Thema behandelten. Auffallend ist, dass die beiden Rednerinnen in den Berichterstattungen stets als Gegensatz zu den radikalen, negativ geschilderten englischen Frauenrechtlerinnen beschrieben wurden und dass dabei immer ihr dezentes und schickliches weibliches Betragen hervorgehoben wurde. Exemplarisch für diese Beobachtung sei ein Artikel in einer illustrierten Schweizer Zeitschrift erwähnt. Über die Kongressteilnehmerinnen urteilte der Verfasser abschätzig: »Das schöne Geschlecht ist beim Beginn der Sitzung nicht durch allzuviele Friedenstauben repräsenti[e]rt; vielleicht ist die frühe Stunde daran schuld; jedoch sie mehren sich bald. Veritable Emanzipationsdamen mit rundgeschnittenem, kurzem Haar, die den Redner fixieren und mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschen. Andere scheinen sich mehr um die Personen als um die Sache zu kümmern; so oft ein neuer Redner auftritt, stecken sie die Köpfe zusammen und zischeln. Wahrscheinlich sind es Engländerinnen, welche Rigi-Kulm und Bakunin, die Mutzen [Bären] im Bärengraben zu Bern und den Friedenskongress ohne Unterschied als denkwürdige Ereignisse in ihre Tagebücher einschrieben. «Als Kontrast dazu heißt es im gleichen Text über Marie Goegg, sie habe »in so geistvoller und formvollendeter Weise« über die Frauenfrage gesprochen, »[…] dass nicht allein dieses Stück weiblicher Beredsamkeit, sondern auch die geistreiche Frau um ihrer selbst willen einen wahren Enthusiasmus erregte.«

Analog zu den männlichen Referenten schilderte der Autor in seinem Artikel auch Lebens- und Bildungsgang von Marie Goegg. Während er bei den Männern die politischen Verdienste hervorhob, betonte er bei ihr einerseits die weitgehend autodidaktisch erworbenen, umfassenden Kenntnisse und andererseits die vorbildliche Pflichterfüllung als perfekte Hausfrau, Ehefrau und Mutter: »Marie Goegg hat drei Söhne, die sie vortrefflich erzogen; denn neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ist sie eine thätige und in ihrer Umgebung durch ihre Ordnungsliebe zum Sprichwort gewordene gestrenge Hausmutter. So liefert sie in Wahrheit selber den Beweis, dass die von ihr erstrebten Ziele mit ihren ehelichen und mütterlichen Pflichten wohl vereinbar sind.« Den radikalen feministischen Inhalt des Vortrags und die Forderungen der Referentin überging der Verfasser damit vollständig. Aufsehenerregend ist laut seiner Beschreibung nicht, was die Referentinnen sagten, sondern allein die Tatsache, dass sie überhaupt die Tribüne betraten. Ohnehin erweist sich das Lob der >weiblichen Beredsamkeit und Bildung bei näherer Betrachtung als Abklatsch männlichen Vorbilds: »1849 verheiratete sie sich mit Goegg und folgte ihm nach England, wo sie sich in äußerst glücklichem Eheverhältniss nach und nach die vorgeschrittenen Anschauungen ihres Mannes aneignete.« Marie Goegg stand damit zwar in vordergründig positivem Gegensatz zu den anwesenden Frauenrechtlerinnen, die man(n) aus verschiedenen Gründen ohnehin nicht ernst zu nehmen brauchte: Bereits am verspäteten Eintreffen dieser >veritablen Emanzipationsdamen< ließ sich ja ablesen, dass sie den Kongress nur als Freizeitbeschäftigung betrachteten, und dieses Verhalten zeigte deutlich genug, dass ihnen der Klatsch über Personen wichtiger war als das Interesse an der Sache. Trotzdem erscheint auch Marie Goegg durch die Art der Schilderung in diesem Artikel als harmlos und keineswegs als >Gefahr< für die Männerdominanz in der Gesellschaft: Das Verschweigen ihrer Forderung nach egalitärer Partizipation, die Rückkoppelung ihres Denkens an dasjenige ihres Ehemannes und damit die Herabminderung ihrer intellektuellen Leistung als nicht eigenständig sowie die Betonung ihrer hausmütterlichen Qualitäten stieß sie in den Kreis derjenigen Frauen zurück, die in erwünschter und gewohnter Weise die Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft an das weibliche Geschlecht erfüllten. Dieser Mechanismus der Verharmlosung öffentlichen Auftretens von Pionierinnen der Frauenbewegung und des Nicht-Ernst-Nehmens ihrer Anliegen ist in der Berichterstattung der Zeit häufig zu beobachten. Die Irritation, die weibliche Partizipation an männlich geprägten Räumen und Foren auslöste, ließ sich offenbar nur durch solche Abwehrstrategien bewältigen.

(Textauszug aus: Zürcher, Regula (2002): Marie Goegg-Pouchoulin (1826-1899): politisches Engagement im Spannungsfeld von dualistischer Geschlechterordnung und feministischem Programm. – In: Organisiert und engagiert : Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA. – Huber-Sperl, Rita [Hrsg.]. Königstein/Taunus : Helmer, S. 215 – 218)

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