Schweigen die Frauen?

Anita Augspurg, 1902

Wir haben bei gegebener Gelegenheit mehrfach behauptet, daß nicht ein Monat vergeht, in welchem nicht aus irgend einer Stadt des Reiches Meldung erfolgt von einem polizeilichen Mißgriff, der nach Maßgabe des § 361, 6 Strafgesetzbuch und unter der Herrschaft der Reglementierung der Prostitution völlig ehrbare, unbescholtene Frauen einem schmählichen, beleidigenden Verfahren, längerer Freiheitsentziehung, körperlicher Untersuchung, roher Behandlung u.s.w. unterwirft. In letzter Zeit haben sich derartige eklatante Fälle wieder einmal gehäuft und die Presse hat weithin die schändlichen Zustände, die solchen Möglichkeiten Boden gewähren, beleuchtet und gegeißelt. – Es handelte sich um zwei Fälle in Kiel und in Hannover, deren Einzelheiten wenig zur Sache thun. In beiden Fällen wurden ganz junge unerfahrene und schutzlose Mädchen in brutalster Weise von Schutzleuten arretiert, ohne den geringsten Versuch, ihre Persönlichkeit und ihren Leumund festzustellen, auf die Polizeistation geschleppt, in derselben ehrenrührigen Weise, die von höheren und niederen Polizeiorganen eingeschriebenen Prostituierten gegenüber beliebt wird, behandelt, bis zum nächsten und übernächsten Tage in Polizeigewahrsam gehalten, dann körperlich untersucht, völlig gesund und unberührt gefunden und ohne Entschädigung, ohne Entschuldigung, vermutlich noch mit Grobheiten über eine Mystifikation des hohen Herrn Schutzmannes ent- und ihrem Schicksal überlassen. In Hannover sollen der so Mißhandelten, einem Dienstmädchen, noch 80 Pfennige, die sie im Besitz hatte, abgenommen worden und „für Kaffee und Frühstück“ aufgerechnet worden sein, trotzdem sie während ihrer ca. fünfstündigen Inhaftierung nicht ein Körnchen Nahrung oder Erfrischung erhalten hat.

In dem einen Fall hat der Polizeichef den Mißgriff als Mißgriff anerkannt und erklärt, der schuldige Beamte sei bestraft und versetzt worden, im anderen Falle, – in Kiel, – wurde die Handlungsweise des Schutzmannes als korrekt und instruktionsgemäß von seinem Vorgesetzten in Schutz genommen. Letzteres ist für das Publikum nicht viel schlimmer als ersteres: das Schlimme und Unerträgliche ist, daß dergleichen Verhaftungen überhaupt und unter irgend einem Scheine des Rechtes und der Ordnung vorkommen können; diese Möglichkeit stempelt das deutsche Reich absolutem Maßstabe nach, – mag es relativ auch ein so hochcivilisiertes Land wie Frankreich auf diesem Gebiete noch zum Genossen haben, – zu einem Barbarenstaate.

Oft und oft ist von denjenigen Frauen der Frauenbewegung verschiedener Parteien, welche die Dinge und Zustände in ihrer vollen Tragweite überblicken, die Schmach des Fortbestehens von § 361, 6 Strafgesetzbuch, der die persönliche Freiheit des ganzen weiblichen Geschlechts andauernd gefährdet, in Rede und Schrift dargestellt worden; vorurteilsfreie Männer und gerechte Preßstimmen haben denselben Ton angeschlagen; die vom Verein für Frauenstimmrecht eingeleitete Deputation an den deutschen Reichskanzler hat die Beseitigung dieses Paragraphen als notwendigste, dringendste Forderung der Frauen in den Vordergrund gerückt, aber das alles sind gewissermaßen akademische Aeußerungen, die momentane Zustimmung und Anerkennung finden, aber keinen unmittelbaren Wandel schaffen können, weil hierzu der akute Anlass und eine aktuelle Gelegenheit fehlt.

Ganz anders, wenn ein thatsächliches Geschehnis den Hintergrund für einen Protest gegen die unerträgliche Mißachtung der Persönlichkeit der Frau bildet, die jeden Augenblick jeder Laune eines Polizeimannes vogelfrei ausgeliefert ist. Kann man mit Fingern auf das Beispiel zeigen, welches das Produkt gesetzlicher Bestimmungen ist, so findet die ehrliche Entrüstung ein tausendfaches Echo und die Institution erhält einen Stoß, der ihre moralischen Grundvesten zum Wanken bringt. Die Frauen, aus deren unmittelbarer Nähe ein Opfer zum Exempel für alle herausgegriffen worden ist, sind es diesem Opfer und sind es der Gesamtheit schuldig, daß sie einmütig in geschlossener Reihe vor die Öffentlichkeit treten, zu klagen und zu richten, zu protestieren gegen den schlechten Beamten, der die Gesellschaft bedroht, anstatt sie zu schützen, gegen die Verwaltung, die unfähige Übelthäter mit Beamtenmacht und -autorität ausstattet, gegen die Gesetze, die solche Vorkommnisse nicht allein zulassen, sondern herbeiführen. Derartige Proteste der Frauen, mit Ernst und Nachdruck vorgebracht und dem Forum der Öffentlichkeit unterstellt, haben schon mächtigen Eindruck hervorgerufen und werden allein jenes Gesetz zum Falle bringen. Die Frauen in Kiel und in Hannover jedoch schwiegen bisher still, keine Aeußerungen vieler, keine Einzelstimme hat noch verraten, daß sie alle sich getroffen und beleidigt fühlen, in der einen, die brutalisiert wurde, daß sie alle solidarisch mit ihr Gerechtigkeit verlangen, und Garantien gegen Wiederholungen solcher Fälle. – Haben die Frauen in Hannover und in Kiel wirklich nichts zu sagen, wenn ihnen von ihren Behörden so begegnet wird? oder fehlt ihnen die Stimme und das Wort, um die Empörung auszudrücken, die jeden ergreift, der nur in weiter Ferne hört, was ihnen geschehen ist? – Dann wird allerdings nichts übrig bleiben, als daß man von außen kommt und in ihren Städten zur Erörterung bringt, was dort bisher verschwiegen wurde, denn unbesprochen, von Frauen unbesprochen darf das nicht bleiben, was dort geschah!

(Quelle: Augspurg, Anita (1902): Schweigen die Frauen?. – In: Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung : Beilage der Frauenbewegung, Nr. 14, S. 17 – 18)

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