Zur Reform der sexuellen Ethik

Helene Stöcker, 1905

»Nicht nur fort Euch zu pflanzen, sondern hinauf – dazu helfe Euch der Garten der Ehe.« Nietzsche

Die kritische Prüfung, die Erneuerung und Vertiefung der Ethik überhaupt – das ist die Aufgabe, die uns am Herzen liegt.

Die alten konventionellen Moralanschauungen stammen aus einer sonst überwundenen Kulturepoche und lasten darum heute, unter ganz veränderten Verhältnissen, mit um so stärkerem Drucke auf uns. Wir leiden alle darunter, ob wir uns nun darüber klar geworden sind oder nicht.

Es ist ein großes Ziel, was wir uns da stecken, eine neue Ethik schaffen helfen zu wollen – insbesondere auf sexuellem Gebiet – und wir wollen es mit all dem Ernst erstreben, den dieses kühne Unterfangen verdient. Wenn wir darin nur allein ständen, so müßten wir vielleicht verzagen. Aber ein Rückblick auch auf das letzte Jahrhundert nur, lehrt uns, daß hier die größten Geister uns führend und lehrend vorangeschritten sind. Ich brauche nicht den Namen dessen zu nennen, der auf die ungeheure Bedeutung der ethischen Bewertung zuerst hingewiesen, der mit der ganzen Glut und Intensität seiner Seele um eine neue Ethik gerungen hat. Seit den Tagen der italienischen Renaissance ist vielleicht von keinem anderen so die Unerträglichkeit, ja die Schädlichkeit der alten Moral ans Licht gezogen worden, wie von Nietzsche. Nun wissen wir, daß wir, wenn wir unser Urteil über die Dinge umändern, umwerten, wir damit auch die Dinge selber ändern, – daß wir selber es sind, die unser Leben glücklich oder unglücklich, würdig oder unwürdig gestalten. Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, wozu eine alte Moral ihn zwang! hört er auf, es zu sein. Wenn wir uns so der Macht bewußt geworden sind, die in der ethischen Bewertung liegt, dann werden wir alles daran setzen, unsere alten Sittlichkeitsbegriffe so umzuändern, wie es für das Glück, oder besser gesagt, wie es für die Hebung und Veredelung der Menschheit am besten scheint.

Starke, frohe gesunde Menschen von Körper, von Adel der Gesinnung, von geistiger Reife, von Reichtum der Seele, das scheint uns allen wohl das höchste Ziel. Aber wenn wir nun heute die alte Moral, die das Leben auf dieser Erde nur als einen peinvollen Prüfungszustand auffaßte, den Menschen als einen ungehorsamen Sünder und den Geschlechtstrieb als das Böse an sich, – wenn wir nun diese alte Moral ablehnen müssen, weil durch sie heute unsere höchsten Ziele nicht mehr erreicht werden, dann wollen wir das nicht tun, ohne ihr zu danken für das, was sie uns gegeben hat. Wir wollen nicht in die Engherzigkeit und Selbstgerechtigkeit verfallen, die wir an den Vertretern der alten Moral so abstoßend finden, nicht in jene unbelehrbare Pharisäerhaftigkeit, die sich im unfehlbaren Besitz des Guten und Wahren glaubt. Lieber wollen wir uns an das stolz-bescheidene Wort Nietzsches erinnern: »was gut und böse ist, das weiß noch niemand.« Das wollen wir ja mit vereinten Kräften erst suchen. Aber die alte Moral, von der wir uns heute abwenden müssen, hat doch auch ihr Gutes gehabt: sie erst hat im Menschen jene Verinnerlichung hervorgebracht, das, was wir heute seine Seele nennen. All die Affekte, die sich nicht nach außen entladen durften, haben sich nach innen gewandt. Damit ist es wohl auch psychologisch zu erklären, wodurch die Seele der Frau, der diese Askese in noch viel stärkerem Maße auferlegt war, in so viel höherem Grade Tiefe, Fülle und Umfänglichkeit gewonnen hat. Und wenn wir Frauen nun heute zu dieser Seelenstärke, zu diesem Seelenreichtum auch noch eine intellektuelle Schulung wünschen, so geschieht das gewiß nicht, weil wir dafür unsere alten köstlichen Besitztümer preisgeben möchten, ebensowenig wie wir heute die schwere Zeit der Schulung durch die asketische Moral für die Menschheit missen möchten. Jetzt freilich, wo das Ziel der Menschheit nicht mehr im Jenseits, nicht in einer fernen Ewigkeit liegt, sondern wo es sich darum handelt, dieses Leben, unser Leben so zu gestalten, daß es wert wäre, ewig gelebt zu werden, nun freilich müssen wir eine Ethik suchen, die uns hier schon diesem höchsten Ziele zuführt. Dazu müssen alle Wissenschaften uns helfen, nachdem die Wissenschaften es gewesen sind, die die alte Ethik als schädlich, die alte Weltanschauung überhaupt als unhaltbar nachgewiesen haben. Wir brauchen also die Mithilfe sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaft, der Philosophie und Kulturgeschichte, der Medizin und der Rechtswissenschaft, der Wirtschafts-und Gesellschaftswissenschaft, der Biologie wie der Ästhetik.

Auf diesem Wege können wir hoffen, allmählich die Grundlage zu einer neuen Ethik zu gewinnen, wie sie aus unsern veränderten Einsichten in die Entwicklung des Menschen, in die Zusammenhänge zwischen geistigen und wirtschaftlichen Faktoren hervorgeht. Wir sind uns vollkommen klar, daß wir heute noch kein Allheilmittel, keine unfehlbare Lösung des sexuellen Problems kennen. Wir behaupten nicht: wenn die Reglementierung der Prostitution aufhört, oder die Geschlechtskrankheiten ausgerottet, oder die unehelichen Mütter und Kinder versorgt sind, oder alle dem übertriebenen Alkoholgenuß entsagen, oder der Kapitalismus zerstört ist, dann ist das sexuelle Problem gelöst, wie man wohl sagen hört. Wir wissen nur, daß die Abstellung all dieser Übelstände mit dazu gehört, eine Lösung anzubahnen. Noch wissen wir über das Wesen der neuen Ethik nichts Endgültiges, Festes, noch sind ihre Gebote zum Glück nicht versteinert und drücken mit der Gewalt jahrhundertelanger Traditionen auf die Menschen. Was wir schon von der neuen Ethik wissen, das ist, daß ihr Wesen nicht in düsterer Lebensentsagung und Verneinung bestehen kann, ebensowenig natürlich in roher, genußsüchtiger Willkür, sondern in freudiger Bejahung des Lebens und all seiner gesunden Kräfte und Antriebe. Was das für das sexuelle Problem bedeutet, ist klar genug. Auch hier wird dann nicht mehr der nächst dem Hunger elementarste Lebenstrieb, der sich naturnotwendig in jedem gesunden Menschen regt, von Jugend auf als etwas Böses gebrandmarkt, und dadurch der Mensch mit einer inneren Qual und Not, mit einem ewigen schlechten Gewissen belastet, das die Schwachen noch feiger und verächtlicher macht, die Starken aber um ihre besten Früchte betrügt. Wir werden, wenn wir selber uns nicht mehr schmutzig und sündig fühlen, auch unsere Kinder die geheimnisvolle Schönheit der Menschwerdung lehren können, sich als einen Teil des großen Ganzen der Natur zu fühlen, das ewige Werden, die Schöpfer- und Schaffenslust überall in der Natur zu spüren.

Wir alle wissen vielleicht noch, wie wir als Kinder unter der unschönen oder frivolen Art, in der uns die ungeeignetsten Menschen über diese Dinge belehrten, gequält worden sind. Das Kind hat noch nicht wie der Erwachsene die Macht, solche Dinge abzuschütteln. Es ist gar nicht auszudenken, was es allein für die Entwicklung der Menschheit bedeuten kann, wenn beim Kinde gleich die Reform der sexuellen Ethik beginnt. Wenn der dunkel sich regende Trieb gleich als etwas den Menschen Eingeborenes und von ihm zu Beherrschendes, aber auch als Naturnotwendiges erkannt wird, und nicht mehr als eine furchtbare teuflische Macht, der er hilflos gegenübersteht. Es ist nur eine Konsequenz dieser Anschauung, wenn wir dann auch Knaben und Mädchen nicht mehr so klösterlich voneinander absperren, wenn wir sie nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule gemeinsam erziehen. Das wird auch zwischen den herangewachsenen Geschlechtern dann ein ganz anderes Verhältnis begründen. In reicherem, intimerem Verkehr werden wir erst die Möglichkeit haben, eine feinere Unterscheidungs-Fähigkeit zu beweisen für all die Nuancen von Kameradschaft, Freundschaft und Liebe. Wenn Mann und Frau beide zu einem Beruf erzogen werden, der sie pekuniär unabhängig voneinander macht, dann kann erst das sittliche Verhältnis zwischen ihnen die rechte Weihe erhalten.

Denn was heute überall herrscht: das sind die traurigen Kehrseiten eines glücklichen Sexuallebens: Prostitution und Geschlechtskrankheiten, Geldheirat und Askese der Frau. Ja, gerade die berufstüchtigsten Frauen, wie die Lehrerinnen z. B., um die ihrer pekuniären Unabhängigkeit willen doch die Möglichkeit zur Gründung einer Familie hätten – sie sind von Staats wegen zum Zölibat verdammt – heute noch, im Jahre 1905 – vierhundert Jahre nach der deutschen Reformation. Aber von Luther und Luthers wesentlichsten Taten darf man heute im deutschen Reiche kaum noch reden!!

Die alten Anschauungen haben es dahin gebracht, wo wir heute stehen: wo man die Menschen aus falschen Sittlichkeitsbegriffen um die köstlichsten Lebensgüter: um Gesundheit und Jugend, um die herrliche Gabe der Liebe ohne böses Gewissen, um die Freude an dem Besitz von Kindern betrügt.

Sehen wir zu, welche Arten des geschlechtlichen Lebens heute vor den Anforderungen einer neuen Ethik bestehen können.

Die einzigen vom Staat offiziell anerkannten Formen des heutigen Sexuallebens sind die Ehe und die reglementierte Prostitution. Wenn die Ehe eigentlich den Zweck hat, den menschlichen Geschlechtsverkehr zu regeln, so kann man wohl sagen, daß sie heute jedenfalls diesen Zweck nicht mehr erfüllt, da ja wohl weitaus der größte Teil des menschlichen Geschlechtsverkehrs (wenigstens in den gebildeten Ständen unserer Kulturstaaten) sich außerhalb der Ehe abspielt. Nun hat ja der Staat, aus der Erkenntnis heraus, daß der menschliche Geschlechtstrieb sich nicht auf die Ehe beschränken läßt, eine anderweitige Regelung in die Hand genommen. Er hat dabei nur auf die Bedürfnisse des Mannes Rücksicht genommen, und die wirtschaftlich unselbständige oder schwächere Frau entweder zur Askese oder zur geschlechtlicher Ausnutzung verurteilt.

Gegen die Greuel der Prostitution und ihrer Begleiterscheinungen wissen nun Viele, die auch eine Verbesserung unserer sittlichen Verhältnisse erstreben, kein anderes Heilmittel als die absolute Abstinenz. Wir haben es der alten Moral zu danken, daß bis heute auf sexuellem Gebiet selbst bei wissenschaftlich gebildeten Leuten noch ein geradezu märchenhafter Aberglaube herrscht. Daß es im Grunde bei normal veranlagten Menschen gar keine absolute Abstinenz gibt, sondern daß eine erzwungene Askese höchstens zu einer unnatürlichen Befriedigung natürlicher Bedürfnisse führt, darüber sollten sich die jedenfalls klar werden, die in der Askese die Lösung des sexuellen Problems suchen. Besonders, da diese Askese ja gerade für die zehn bis zwanzig Jahre des Menschen verlangt wird, in denen der Trieb nach Liebe und Fortpflanzung am heftigsten ist. Wenn nun die Askese als Heilmittel für die sexuellen Schäden in Wirklichkeit fortfällt, und die Ehe aus wirtschaftlichen Ursachen noch nicht möglich ist, so bleibt das »Verhältnis«. Sicherlich: so wie es heute besteht, ist es auch nur eine mildere Form der Prostitution: der weibliche Teil wird für seine Dienste entlohnt. Der Mann der höheren Stände kann sich die Frau der unteren Stände kaufen. Diese brutale Tatsache, die nur durch eine radikale Änderung der wirtschaftlichen Lage der Frau ganz auszurotten ist, kann wenigstens schon gemildert werden, wenn wir darauf hinwirken, den kameradschaftlichen Verkehr zwischen Mann und Frau zu mehren. Wenn wir einerseits die Frau pekuniär unabhängig machen, sie intellektuell schulen, wenn Mann und Frau auf gleicher Stufe stehen, dann erst kann ein würdiges Verhältnis zwischen Mann und Frau beginnen.

Wir müssen Möglichkeiten schaffen, daß gebildete Frauen und Männer sich auch außerhalb der konventionellen Geselligkeit kennen lernen. In dieser Beziehung stehen andere Länder (Amerika, England, Skandinavien) schon auf einem höheren Standpunkt. Wir würden viel mehr gewinnen, wenn dieser intimere und kameradschaftliche Verkehr zwischen Mann und Frau selbstverständlich wäre, als durch viele Gesetze. Wenn sich dann das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen bis zu einem Liebesverhältnis verdichtet (auch ohne eine formelle Eheschließung), so ist bei gegenseitiger Achtung eine ganz andere sittliche Grundlage gegeben, als bei dem heutigen Ausbeutungszustand. Wenn sich zwei Persönlichkeiten gegenüberstehen, dann wird die Ehrfurcht voreinander ihrem Verhältnis die Weihe geben, die es ohne diese Ebenbürtigkeit weder durch den kirchlichen Segen noch durch das Standesamt erhält. Jedenfalls ist alles andere besser, als der heutige brutale Machtzustand. Ist die Frau Selbstzweck, Persönlichkeit, – dann kann ihr kein Leid von außen zustoßen, – dann kann sie nie mehr mißbraucht werden. Die Sittlichkeit eines Verhältnisses liegt nicht in der Liebe als solcher, ebensowenig in der Ehe als solcher, sondern jedes Verhältnis zwischen Menschen wird ebenso sittlich oder unsittlich sein, wie die Menschen sind, die diese Ehe oder dieses freie Verhältnis haben. Aber die größte Schwierigkeit des sexuellen Problems liegt ja nicht im Verhältnis von Mann und Frau allein; es erhält seine größte Kompliziertheit erst durch das Kind. Wir wollen nicht in die Heuchelei verfallen, zu behaupten, daß der Geschlechtsverkehr nur sittlich sei, wenn er der Erzeugung von Kindern diene. Wie der Mensch alle anderen Dinge seiner vernünftigen Einsicht unterworfen hat, so muß er auch immer mehr Herr werden über eine der wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit: die Schaffung eines neuen Menschen. Man wird Mittel finden müssen, um unheilbar Kranke oder Entartete an der Fortpflanzung zu verhindern.

Es ist vielleicht auch der traurigste Mißbrauch der Natur, daß bisher die Mutterschaft der Frau so oft ungewollt war. Oder – bestenfalls – willenlos, gedankenlos. Und doch sollten es nur die höchsten Augenblicke, die Zeiten körperlicher und seelischer Kraft und Harmonie sein, in denen die Eltern ihr Leben über sich hinaus in einem andern zu verewigen wünschen.

Vielleicht ebenso verhängnisvoll ist es, daß es ebenfalls die Mutterschaft, diese große Leistung der Frau für die Welt war, die sie nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger und pekuniärer Abhängigkeit hielt.

Man muß es sich einmal klar machen, was es bedeutet, daß bisher sowohl in der Ehe wie in der Prostitution, wie in den sogenannten »Verhältnissen« das sexuelle Leben mit dem Gelde verquickt ist. Fast immer war die Frau der pekuniär abhängige Teil. Es ist nicht schwer zu begreifen, wie das alles herabzieht und gemein machen muß. Daher die Notwendigkeit der Berufstätigkeit der Frau, der pekuniären Bewertung ihrer hauswirtschaftlichen Verwaltung in der Ehe, sowie die Anbahnung der staatlichen Mutterschaftsversicherung. Hier ist erst die sittliche Grundlage zu schaffen, die unserem heutigen ethischen Empfinden Genüge tut.

Das hat aber nicht, wie wohl von Gegnern gern behauptet wird, die Auflösung der Ehe, der Lebensgemeinschaft der Familie zur Folge. Es hieße die menschliche Natur und alle glücklichen Ehen beleidigen, wenn man behaupten wollte, daß es nur der Zwang sei, der sie zusammen halte. Das dauernde Zusammenleben zwischen persönlich sich anziehenden Menschen, die Dreieinigkeit von Vater, Mutter und Kindern wird immer das höchste Ideal bleiben. Insofern muß ich der Anschauung widersprechen, daß etwa die Frau mit dem Kinde schon eine ganze vollkommene Familie darstelle. Es ist eine traurige Unzulänglichkeit des Lebens, daß es so oft zu dieser Trennung kommt; es ist gewiß unsere Pflicht, alles zu tun, um solch ein schweres Los zu mildern, wie z. B. der Bund für Mutterschutz es will. Aber nie werden die Menschen aufhören, auch über den physischen Genuß und die Fortpflanzung hinaus nach einer seelischen Verschmelzung, nach einem Ineinanderwachsen, nach einer gemeinsamen Verantwortung den Kindern gegenüber zu streben. Selbst der primitivste Mensch will in dem Gatten auch noch den Freund und Kameraden sehen. Wir, die wir dem Geschlechtstrieb seine natürliche Unschuld wiedergeben wollen, wir wollen ihn eben deshalb auch immer mehr mit unserem gesamten geistigen und seelischen Leben vereinen und verschmelzen. Diese Vergeistigung und Verinnerlichung hat unsere seelisch-sinnliche Liebe zu einer so köstlichen, seltenen Wunderblume der Kultur gemacht. Wir wollen »Erotiker des Ideals« werden, wie Plato und Christus, wie Goethe und Nietzsche es uns vorlebten.

Aber, so fragen sie ungeduldig, was soll uns das Ausmalen vornehmer Ideale, wenn die brutale Wirklichkeit, die wirtschaftliche Not für die meisten Menschen, Männer wie Frauen, eine solche innere Kultur unmöglich machen?

Die Erkenntnis des heute noch kulturhemmenden Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher und geistiger Entwicklung ist es, die uns verpflichtet, nicht nur hohe Idealisten, sondern ebenso energische Kämpfer und Sozialreformer zu sein. Auch das Streben der Frau nach wirtschaftlicher Selbständigkeit geschieht nicht aus bloßem Übermut. Das Ziel der Frauenbewegung, wie wir sie meinen wenigstens, ist, Zustände zu schaffen, in denen sich zu dem Broterwerb auch das Heim, die Liebe, die Elternschaft gesellen können. Aber über der mühseligen Einzelarbeit an der Verbesserung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse wollen wir nicht vergessen, welche Macht in uns selbst liegt, in unserer Art, die Welt zu sehen und unser Leben zu gestalten. Freilich wir, die wir diese Seelenkraft schon beglückend und befreiend spüren können, wir sind schon Auserwählte vor vielen Tausenden. Wir haben deshalb die Pflicht, für die zu sprechen, die es selbst noch nicht vermögen. Wir, die wir selbst unser tiefstes Leid noch zu einem inneren Reichtum zu gestalten vermögen, was wissen wir von der Qual der er, die stumm leiden in ohnmächtigem Groll, die nur dumpf ahnen, was sie eigentlich entbehren, um was für ein Leben in innerem Lichte sie betrogen werden? Wer derer gedenkt, der wirtschaftlich Enterbten, und der Frauen, der heute noch zweifach Enterbten, der weiß, wie die Aufgabe des Lebens lautet.

Unsere Augen wollen wir zu den fernsten Sternen des Ideals erheben; wir wollen aber keinen Augenblick vergessen, daß unsere Füße fest auf dem Boden der härtesten nüchternsten Wirklichkeit stehen bleiben müssen, um den Weg zu diesen Idealen zu bereiten. Viel Mißdeutung, viel Anfeindung wird es auf diesem Wege geben. Darauf sind wir gefaßt. Viel tiefer als alle äußere Verleumdung es je kann aber würde es uns beugen, wenn wir uns selber schwach und mutlos, aus Menschenfurcht feige vor dem zurückweichen sähen, was uns als notwendig erscheint.

Nach den Geboten der wahren Ethik gibt es nur eine Sünde: den eigenen höchsten Idealen untreu zu werden.

Wir haben auch eine Tatsache für uns, die uns wohl Mut geben kann auf den Weg, den wir gehen wollen. Es sind Männer und Frauen gewesen, die sich hier verbündet haben. – Männer und Frauen, die gemeinsam an einer neuen ethischen Grundlage für das Verhältnis zwischen Mann und Frau arbeiten wollen. Was gäbe es Tröstlicheres und Zukunftverheißenderes?

So können Mann und Frau miteinander einer neuen höheren Entwicklung entgegenstreben, – so können sie als Weihe – das Wort auf sich anwenden:

Eurer Kinder Land sollt Ihr lieben! Diese Liebe sei Euer neuer Adel! – das unentdeckte im fernsten Meere. Nach ihm heiße ich Eure Segel suchen und suchen. An Euren Kindern sollt Ihr gut machen, daß Ihr Eurer Väter Kinder seid. Alles Vergangene sollt Ihr so erlösen!

(Quelle: Stöcker, Helene (1905): Zur Reform der sexuellen Ethik. – In: Mutterschutz : Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik, Nr. 1, S. 3 – 12)

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