Brief an den Sohn

Olympe de Gouges, 1793

Ich sterbe, mein geliebter Sohn, ein Opfer meiner abgöttischen Liebe für Vaterland und Volk. Seine Feinde, die sich trügerisch der Maske des Republikanertums bedienen, haben mich skrupellos aufs Schafott entsandt.
Nach fünf Monaten Gefangenschaft wurde ich in ein Irrenhaus gebracht, wo ich mich frei wie zu Hause bewegen konnte. Ich könnte fliehen; meine Feinde und meine Henker wissen Bescheid. Ich war jedoch so überzeugt, daß es bei aller zu meinem Verderben vereinten Böswilligkeit nicht gelänge, mir auch nur eine einzige gegen die Revolution gerichtete Handlung vorzuwerfen, so verlangte ich selbst nach dem Richtspruch. Konnte ich denn ahnen, daß reißende Tiger als Richter auftreten und gegen die Gesetze, ja gegen ein Publikum entscheiden könnten, das ihnen bald meinen Tod vorhalten wird. Drei Tage vor der Hinrichtung legte man mir die Anklageschrift vor; sowie ich davon Kenntnis genommen hatte, stand mir nach dem Gesetz das Recht zu, meine Verteidiger und meine Bekannten zu sehen. Jeder Kontakt wurde indes unterbunden und mein Aufenthaltsort geheim gehalten, nicht einmal mit dem Kerkermeister durfte ich ein Wort wechseln.

Nach dem Gesetz hätte ich auch meine Geschworenen auswählen können; die Liste brachte man mir um Mitternacht, um sieben Uhr früh werde ich dem Gericht vorgeführt. Krank und hinfällig, ungeübt in der Kunst, vor einem Publikum zu sprechen, nicht nur was die Tugenden betrifft, sondern auch hierin Jean-Jacques ähnlich, wurde ich mir meiner Unzulänglichkeit bewußt und verlangte nach dem Verteidiger meiner Wahl. Da sagte man mir, er sei nicht anwesend oder er wolle sich nicht mit meinem Fall befassen. Ich ersuche um einen andern, worauf man mir entgegnet, ich sei klug genug, mich selber zu verteidigen. Ja, ohne Zweifel, Verstand hatte ich genug, um meine Unschuld zu verteidigen, die in den Augen aller Anwesenden für sich selber sprach. Ich wies jedoch nicht so nachdrücklich, wie das ein Verteidiger getan hätte, auf all die Dienste und Wohltaten hin, die ich dem Volk erwiesen habe.

An die zwanzig Mal habe ich meine Henker erbleichen sehen. Da sie nicht wußten, was sie auf jeden meiner Sätze, die meine Unschuld und ihre Böswilligkeit zum Ausdruck brachten, antworten sollten, so haben sie das Todesurteil verhängt, aus Angst, das Volk könnte das beispiellose, nie dagewesene Unrecht entdecken.

Adieu, mein Sohn, ich werde nicht mehr am Leben sein, wenn Du diesen Brief erhältst. Gib Deine Stellung auf; die Ungerechtigkeit, die Deiner Mutter widerfahren ist, und das Verbrechen, das man an ihr verübt…
Mach es Dir zur Pflicht, denk an meine Prophezeiungen. Ich hinterlasse die Uhr Deiner Frau, ebenso den Pfandschein für ihren Schmuck, das Fläschchen und die Kofferschlüssel, die ich. . .

Olympe Degouges

Gegen Schluß des Briefes sind einige Wörter unleserlich und die Sätze abgebrochen (vgl. Faksimile).

Vermutlich hat Olympe de Gouges diesen letzten Brief einem Schreiber im Gefängnis diktiert. Von ihrer eigenen Hand finden sich auf demselben Briefbogen die folgenden Zeilen: Ich sterbe, mein Sohn, mein geliebter Sohn, ich sterbe unschuldig. Alle Gesetze hat man verletzt für die tugendreichste Frau ihres Geschlechts. . .

(aus den Archives Nationales, Paris, Dossier 210)

(Quelle: Gouges, Olympe de (1793): An den Bürger Degouges : Offizier in der Rheinarmee. – In: Schriften. – Dillier, Monika [Hrsg.] ; Mostowlansky, Vera [Hrsg.] ; Wyss, Regula [Hrsg.]. Basel : Roter Stern, 1980, S. 130 – 131)

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