Auf der Schwelle

Rosa Mayreder, 1919

Eine Welt ist zusammengebrochen, – eine neue ringt in schweren Erschütterungen nach Entstehen. Zu den wesentlichen Erscheinungen dieses ungeheuren Umwandlungsprozesses gehört der Eintritt der Frauen als gleichberechtigte Staatsbürger in das öffentliche Leben. Mit einem Schlage wurden sie in Rechte eingesetzt, die eine kleine Anzahl unter ihnen seit Jahrzehnten zu erkämpfen strebte, während die grosse Mehrzahl gleichgiltig oder sogar ablehnend ihnen gegenüberstand. Und diese sind es, die Gefahr laufen, aus Mangel an eigenem politischen Urteil sich blindlings der bisherigen, durch die Männer für die Männer gemachten Politik unterzuordnen. Dadurch aber würden sie gerade die Interessen ihres eigenen Geschlechtes am schlimmsten schädigen. Auf der Schwelle der neuen Stellung, die den Frauen zugefallen ist, darf für sie nichts wichtiger sein, als sich zur besinnen, was sie speziell als Frauen an die erste Linie ihrer politischen Tätigkeit setzen müssen.

Noch zittert in unserer Seele die furchtbare Erschütterung der vier Kriegsjahre; wir möchten den Blick von dem Grauen der Vergangenheit abwenden, um uns an der Perspektive einer besseren Zukunft aufzurichten. Aber diese Zukunft wird nur besser werden, wenn wir unerbittlich die Eindrücke festhalten, die der Krieg mit grausamen Zügen in unser inneres Leben eingeschnitten hat; denn aus diesen Eindrücken müssen wir den Impuls der Abwehr immer von Neuem schöpfen. Die Frauen sind vor allem berufen, den Kampf gegen den Krieg aufzunehmen; wenn es Möglichkeiten gibt, diesen Fluch, den die Menschheit durch die Jahrtausende ihrer Geschichte schleppt, aufzuheben, so darf man unter sie auch den Eintritt der Frauen in die politische Machtsphäre zählen.

Was aber kann der letzte und tiefste Sinn dieser sozialen Umwälzung sein? Ihre Gegner haben immer behauptet, sie würde aus dem Weib einen Mann machen. Und in der Tat wäre, falls die neue Stellung der Frauen nicht eine wesentliche Aenderung der bestehenden Ordnung zur Folge hätte, diese Gefahr in mancher Hinsicht drohend; zum mindesten müsste sich das weibliche Geschlecht in die Lebensformen und Anforderungen pressen lassen, die vom Manne für den Mann geschaffen wurden. Unter diesen nimmt der Krieg die erste Stelle ein, ebensosehr durch die ideelle Ausschmückung, die er erfahren hat, wie durch seine materiellen Wirkungen.

Als objektive Lebenserscheinung aufgefasst, stellt der Krieg die äusserste Ausgeburt des Mannwesens dar, die letzte und fürchterlichste Konsequenz der männlichen Aktivität. Neben dieser höchsten Steigerung der Männlichkeit nach aussen hin kann das spezifisch Weibliche sich nicht als etwas Gleichberechtigtes behaupten; es muss notwendigerweise auf der zweiten Stufe bleiben, selbst wenn die Frauen andere mit dem Krieg einhergehende Aufgaben von sozialem und wirtschaftlichen Rang erfüllen. Das Gesetz des Krieges, sein innerstes Wesen, ist Eroberung durch Zerstörung, indes das Gesetz des weiblichen Wesens nach seiner ursprünglichsten und allgemeinsten Funktion Lebenderhaltung ist. Ueber diesen Grundsatz der Frau zum Kriege hilft keinerlei Berufung auf Gemeinschaftsideen patriotischer Art hinweg. Dem Weibe muss geborenes Leben unter allen Umständen teurer sein als dem Mann, weil die Natur das Weib allein mit den Leiden und Beschwerden, die seine Entstehung kostet, beladen hat. Als Konsequenz dieser natürlichen Ungleichheit bei der Verteilung der generativen Aufgaben ergibt sich von selbst, dass der Wert des Menschenlebens an sich von den Frauen ganz anders empfunden und in Rechnung gestellt wird als von den Männern. Je stärker der Verbrauch an Menschenleben, desto drückender die Anforderungen der generativen Aufgabe an die Frauen. Solange die Vergeudung von Menschenleben, wie sie der Krieg fordert, die Frauen verpflichtet, ihre ganze Gebärfähigkeit aufzuwenden, um Ersatz für den Massenmord zu schaffen, sind sie genötigt, sich gänzlich ihrer generativen Aufgabe zu widmen, – eben jener schweren, alle physische und geistige Lebenskraft aufzehrende Ueberbeanspruchung, der es zuzuschreiben ist, dass die Frau bisher in allen anderen Leistungen hinter dem Manne zurückblieb. Dazu kommt, dass der Krieg als solcher ihr keines der Aequivalente bietet, die er unter Umständen der männlichen Natur gewährt. Der Mann, der sein Leben im Kampf aufs Spiel setzt, erlebt seelische Sensationen, die eine Art Rausch, eine besondere Entfaltung und Anspannung dessen mit sich bringen, was man somatisches Selbstgefühl nennen könnte. Wahrscheinlich wirkt dabei die Wiedererweckung von Urinstinkten mit, die bei sehr Vielen durch das Kulturleben unterdrückt und gehemmt sind, sodass für sie in der Tat die kriegerische Lebensweise, trotz aller mit ihr verbundenen Gefahren und Strapazen, etwas Befreiendes hat. Diese sind es auch, die sich nur schwer und ungern wieder an das Friedensleben anpassen und die Gewaltmethoden des Krieges nicht fahren lassen wollen.

Eben weil der Krieg nicht bloss Machenschaft beutegieriger Machthaber ist – und könnte denn eine so ungeheuerliche Einrichtung sich dauernd behaupten, wenn sie nur durch eine kleine Gruppe von Interessenten den Völkern aufgezwungen wäre, ohne durch deren Grundinstinkte gefördert zu werden? – ist er vollends unvereinbar mit einer höheren Stellung des Weibes im öffentlichen Leben. Denn es besteht ohne Zweifel ein Zusammenhang der kriegerischen Impulse mit einer bestimmten Art der männlichen Geschlechtsimpulse; solange diese Art die Herrschaft führt, bleibt für die Frau als eigenberechtigtes, dem Mann sozial nicht mehr untergeordnetes Wesen kein Raum. Die Greueltaten, die über das gesetzmässig geordnete gegenseitige Morden hinaus auch unter den vermeintlich so hochzivilisierten europäischen Nationen der Gegenwart begangen wurden, zeigen, welche Gewalt die Instinkte des Urmenschen noch in der modernen Psyche erreichen können, wenn die Hemmungen des Kulturlebens wegfallen. Im Krieg wird ein atavistischer Zustand des Männertums über die psychischen Erwerbungen jüngeren Datums Herr. Es ist keine zufällige, sondern eine gesetzmässige, mit der kriegerischen Disposition eng verknüpfte Erscheinung, dass in jedem Krieg Vergewaltigung an Frauen der feindlichen Nation geübt wird; das sadistische Element in der männlichen Natur zeigt hier seine nahe Verwandtschaft mit den seelischen Erregungen, die den Kampf und Mord begleiten.

So darf man wohl sagen: die ganze Welt des Krieges, Ihre Herkunft von einer Stufe des Denkens, auf der an der Grenze des Stammes der Mensch aufhört und der Feind nicht als wesensgleiches Geschöpf gilt, steht in einem tragischen Gegensatz zu der intellektuellen Stufe des modernen Menschen, – nicht bloss des weiblichen, sondern auch des männlichen. Deshalb werden die Frauen in ihrem Kampf gegen den Krieg gerade die edelsten, die differenziertesten Männer auf ihrer Seite haben. Man wende nicht ein, dass eben, weil der Krieg auf Urinstinkten beruht, der Kampf gegen ihn aussichtslos sei. Ist nicht jedes Kulturbemühen untrennbar von dem Kampf gegen die Barberei, d.h. also gegen die zerstörende Wildheit der Urinstinkte? Bedeutet Kultur nicht ihrem Wesen nach Bändigung dieser Urinstinkte – ?

Es muss das stärkste, allen Frauen ohne Unterschied gemeinsame Bestreben sein, in ihrer Politik den Krieg als den verworfensten Massenmord zu bekämpfen und vor allem gegen jenes System aufzutreten, das ihn dauernd als ehrenvolle Einrichtung zu erhalten strebt, gegen den Militarismus. Es muss aber auch ihre dringenste Aufgabe sein, Einsicht in die tiefgehenden Wurzeln zu gewinnen, durch die er mit dem wirtschaftlichen und sozialen Leben verwachsen ist. Militarismus, Nationalismus und Imperialismus haben in ihrer Verquickung so unermessliches Unheil in die Welt gebracht, dass es ein unvergänglicher Ruhm der Frauen sein wird, wenn sie mit ihrem Eintritt in die Politik den Kampf dagegen aufnehmen.

(Quelle: Mayreder, Rosa (1919): Auf der Schwelle. – In: Die Frau im Staat : eine Monatsschrift, Nr. 2, S. 2 – 4)

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