1976

Die Gewalt gegen Frauen wird zum zentralen Thema. In Berlin öffnet das erste Frauenhaus seine Pforten. Studentinnen und Akademikerinnen fordern Frauenstudien an allen Universitäten.

Januar 1976
In Berlin wird der erste Frauenbuchvertrieb (FBV) gegründet. Dem Projekt liegt die Idee zugrunde, sich immer stärker von ‚Männerprojekten’ unabhängig zu machen, in diesem Fall: Die in den neuen Frauenverlagen gemachten Bücher nicht von ‚Männervertrieben’ verbreiten zu lassen.

Februar 1976
Sechs Aktivistinnen aus dem Berliner Frauenzentrum eröffnen die erste Beratungs- und Informationsstelle für Frauen (BIFF).

Bildnachweis: Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz - Abisag Tüllmann Archiv
Aktion des Frauenzentrums Frankfurt, Hollandfahrt

12. Februar 1976
Der Bundestag verabschiedet mit den Stimmen der SPD/FDP-Koalition den neuen § 218 mit dem erweiterten Indikationsmodell. Das Gesetz sieht jetzt auch eine ‚soziale Indikation’ vor: Eine Frau darf in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft abtreiben, wenn sie sich „in einer Notlage befindet, die so schwer wiegt, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft von ihr nicht verlangt werden kann“. Ob und wann diese Notlage vorliegt, bestimmt ein Arzt, der den Schwangerschaftsabbruch nicht vornehmen darf. Die Bevormundung der Frauen bleibt bestehen.

Die Frauenbewegung, die alle Kräfte für eine Fristenlösung mobilisiert hatte – die das Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassungsklage von CDU/CSU schließlich kassierten – beklagt die „erbärmliche Konzession, die die Männergesellschaft unter sich ausgehandelt hat“ (Frauenkalender). „Dieses Gesetz wird die Frauen weiterhin in die Kriminalität und in die Hände von Kurpfuschern treiben“ (Frauenzentrum München).

Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Frankfurt am Main: Fischer, 1978. (FMT-Signatur: SE.03.164.[02])
Susan Brownmiller
Dennoch ist durch die ‚soziale Indikation’ das Schlupfloch einer legalen Abtreibungspraxis geschaffen worden. Der Abbruch wird zudem von den Krankenkassen finanziert. Einige Frauengruppen organisieren weiterhin provokante ‚Abtreibungsfahrten’ nach Holland, andere bauen zusammen mit ÄrztInnen Abtreibungskliniken in Deutschland auf. Die Forderung nach der ersatzlosen Streichung des § 218 bleibt zwar prinzipiell erhalten, steht aber von nun an nicht mehr im Mittelpunkt der Politik der Frauenbewegung.

27. Februar 1976
Unter dem Titel Die Frau als Opfer der Männer berichtet die Zeit über das Thema Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe. Sie referiert dabei auf das Buch Against Our Will der amerikanischen Feministin Susan Brownmiller. Das Thema (Sexual)Gewalt gegen Frauen, das von der Frauenbewegung nun immer stärker in die Öffentlichkeit gebracht wird, stößt auf eine so breite Resonanz, dass es nun auch immer öfter von den Medien aufgegriffen wird.

Grusswort zum ‚Internationalen Tribunal Gewalt gegen Frauen’ von Simone de Beauvoir
Grußwort Simone de Beauvoir

4.-8. März 1976
In Brüssel kommen 1.500 Teilnehmerinnen aus 33 Ländern zum internationalen Tribunal Gewalt gegen Frauen. Die ‚Anklagen’ der Frauen umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche: Von häuslicher Gewalt über diskriminierende Gesetze bis Pornografie. Konkrete und strukturelle Gewalt werden als „Teil eines Kontinuums von Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen“ benannt. Das Tribunal liefert der bundesdeutschen Frauenhausbewegung, die mittlerweile entstanden ist, wichtige Impulse.

Ankündigung des Amazonen-Frauenverlags, Quelle: UKZ, Mai 1976. (FMT-Signatur: Z-L301)
Ankündigung Frauenverlag

April 1976
In Berlin gründen vier Frauen den Amazonen-Frauenverlag. Der erste Verlag der Bundesrepublik, der ausschließlich lesbische Literatur verlegt, soll „das lesbische Anliegen selbstbewusst und offensiv vertreten“. Zu den ersten Büchern, die im Amazonen-Frauenverlag erscheinen, gehören Jill Johnstons Analyse Nationalität Lesbisch (Originaltitel: Lesbian Nation) und der historische Lesbenroman Sind es Frauen? von Aimée Duc aus dem Jahr 1901.

Im Laufe des Jahres gründen sich weitere Frauenverlage: In München der Frauenbuchverlag (ab Ende der 80er Jahre: Antje Kunstmann Verlag) und in Münster der Verlag Frauenpolitik.

Der Stern veröffentlicht die Umfrage Mein Mann hat mich vergewaltigt. Ergebnis: „In jeder fünften Ehe wird die Frau zum Sex gezwungen.“ Ebenfalls jede fünfte Frau ist der Ansicht, eine Ehefrau müsse „ihrem Mann sexuell zur Verfügung stehen, wann immer er es will“.

Pizzey, Erin (1984): Schrei leise : Mißhandlungen in der Familie. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl. (FMT-Signatur SE.07.008). Original von 1971, dt. Erstausgabe 1974.
Erin Pizzey, Ausgabe von 1984

Bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheint das Buch schrei leise Misshandlungen in der Familie von Erin Pizzey, der Leiterin des Londoner Women’s Aid Centre. Es wird zur Basisliteratur der Frauenhaus-Aktivistinnen.

Die Bochumer Frauengruppe initiiert erstmals die Aktion Frauen nehmen Frauen mit. Mit dem gleichnamigen roten Aufkleber am Auto geben sich Fahrerinnen Frauen zu erkennen, die eine Mitfahrgelegenheit suchen. Hintergrund: Jeden zweiten Tag wird – meist auf dem Weg zwischen Stadt und der außerhalb liegenden Universität – eine Tramperin vergewaltigt.

Die Berliner Frauen-Rockgruppe Flying Lesbians, die 1975 aus der Berliner Rockfete im Rock hervorgegangen waren, veröffentlichen ihre erste LP. Auf der LP, die über den Münchner Verlag Frauenoffensive vertrieben wird, ist unter anderem der legendäre Text Frauen gemeinsam sind stark (von Renate Stefan) vertont.

Sticker "Frauen nehmen frauen mit", Bochum (FMT-Signatur: VAR.01.083)
Sticker „Frauen nehmen frauen mit“

26. April 1976
In der ARD läuft die WDR-Dokumentation Schreien nützt nichts – Brutalität in der Ehe von Sarah Haffner. Auf rund 400 Fälle häuslicher Gewalt stieß die Autorin bei ihren Recherchen. „Wir hörten Geschichten, die an Grausamkeit alles übertrafen, was wir uns haben vorstellen können, ohne dass grundsätzlich Abhilfe geleistet wird.“ Haffner, die ihre Recherchen später auch in dem Buch Gewalt in der Ehe verarbeiten wird, stellt auch das Londoner Women’s Aid Centre vor.

In Großbritannien gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits 80 dieser Zufluchtshäuser für misshandelte Frauen und Kinder. Auch in Holland, Norwegen, Dänemark, den USA und Australien hat die Frauenbewegung die Einrichtung von Frauenschutzhäusern durchgesetzt. In Deutschland wird im November das erste Haus für geschlagene Frauen seine Pforten öffnen.

Treffen schreibender Frauen, 1976, © Ina Suchert, Quelle: EMMA-Archiv, Treffen schreibender Frauen in München, Mai 1976 (FMT-Signatur: FT.02.0248)
Treffen schreibender Frauen, 1976

8./9. Mai 1976
In München lädt der Verlag Frauenoffensive zum 1. Treffen Schreibender Frauen. Etwa 100 Frauen kommen, darunter auch bekannte Autorinnen wie Christa Reinig, Monika Sperr und Hedi Wyss. Mit den Gründungen von Frauenverlagen, den ersten Fachpublikationen und Literaturforen wird die programmatische Debatte über ‚Frauenliteratur’ und das ‚Schreiben von Frauen’ fortgesetzt.

13. Juni 1976
Alice Schwarzer lädt interessierte Journalistinnen zu einem Treffen ein, bei dem über die Gründung einer überregionalen Frauenzeitschrift nach dem amerikanischen Vorbild Ms. beraten werden soll. Im Gegensatz zu den existierenden Zeitschriften der Frauenbewegung, die „von nicht-professionellen Frauen gemacht werden“, die stark „in der Bewegung verharren“, plant Journalistin Schwarzer ein professionelles Blatt, das sich auf dem allgemeinen Zeitschriftenmarkt behaupten soll. Die Frauenzeitschrift soll „maximal allgemeinverständlich und populär sein, d.h. in breitem Umfang den Problemen und Interessen der Mehrheit der Frauen Rechnung tragen, gleichzeitig jedoch die theoretische Diskussion über die Frauenfrage kreativ und kühn vorantreiben“. Das Frauenzentrum in Berlin, wo Schwarzer zu dieser Zeit noch lebt, fordert ‚Rechenschaft’ über ihre Pläne. Die erzählt im überfüllten Plenum, was sie plant. Schwesternstreit liegt in der Luft.

Es wird noch knapp sieben Monate dauern, bis am 26. Februar 1977 in Köln die erste Ausgabe der EMMA erscheint.

Clio : die Zeitschrift für Frauengesundheit. Feministisches Frauen-Gesundheits-Zentrum [Hrsg.]. (FMT-Signatur: Z-F002)
Erstausgabe der CLIO
Anfang Juli 1976
Die als ‚Terroristinnen’ verurteilten Inge Viett, Juliane Plambeck, Monika Berberich und Gabriele Rollnick brechen aus der Berliner Frauenhaftanstalt Lehrter Straße aus. Bild nimmt den Ausbruch der ‚Terror-Mädchen’ zum Anlass für eine anti-lesbische Hetzkampagne („Ausbruch, weil sie lesbisch sind?“). Es ist die Zeit, in der die selbsternannte ‚linke Volksguerilla’ – von der militanten Spaß-Guerilla-Truppe bis hin zum bewaffneten Kampf der RAF – Staat und Öffentlichkeit bewegen. Ulrike Meinhof, Ex-Chefredakteurin von konkret (und Ehefrau des Herausgebers Klaus Rainer Röhl), ist nicht die einzige auch feministisch bewegte Frau, die sich für den ‚bewaffneten Kampf’ gegen den ‚imperialistischen Schweinestaat’ entschied. Die anfangs noch schweigende legale Linke und die Frauenbewegung beginnt, sich zu distanzieren. Gleichzeitig gibt es eine Tendenz in den Medien, Terroristinnen und Feministinnen gleichzusetzen. Der polemische Begriff ‚Sympathisantin’ grassiert.

In Berlin erscheint die CLIO, die erste deutsche feministische Zeitschrift zur gesundheitlichen Selbsthilfe von und für Frauen.

Frauen und Wissenschaft : Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976. Gruppe Berliner Dozentinnen [Hrsg.] - Berlin: Courage-Verl., 1977. (FMT-Signatur: FE.03.009.01)
1976: 1. Sommeruniversität in Berlin
1. Juli 1976
Das Namensrecht wird reformiert. Ab jetzt dürfen bei der Hochzeit auch Männer den Namen ihrer Ehefrau als Familiennamen annehmen.

6.-10. Juli 1976
In Berlin findet die 1. Sommeruniversität für Frauen  statt. Organisiert und finanziert wird sie von Dozentinnen der Technischen Universität und der Freien Universität Berlin nach dem Vorbild der amerikanischen ‚Women’s Studies’. Die Initiatorinnen fordern die Erhöhung des „lächerlich geringen Frauenanteils“ an der Studentinnenschaft (bis zum Jahr 1971 war nur jeder 31. Hochschulabsolvent weiblich) und der Hochschullehrerschaft. Sie wollen Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten mit frauenspezifischen Forschungsinhalten und die Einrichtung von Studienschwerpunkten zur Situation der Frau in allen Fachbereichen. Sie fordern Frauenprofessuren und die Einrichtung einer Frauenbibliothek.

Die Vorträge, die auf der Sommeruniversität gehalten werden, zeigen das Spektrum dieser ‚frauenspezifischen Forschungsinhalte’: Von der Gretchen-Episode in Goethes Faust über die Situation der Hausarbeit heute bis zu Erfahrungen mit männlichen Therapeuten. 600 Teilnehmerinnen aus der ganzen Bundesrepublik kommen zu dieser 1. Sommeruniversität, die bis 1983 insgesamt sieben Mal stattfindet und sich zum wichtigsten Austauschforum der Akademikerinnen innerhalb der Neuen Frauenbewegung entwickelt.

Bildquelle: EMMA-Archiv ©Margarete Redl-von Peinen
Frauendemo gegen Gewalt, 1976

27. August 1976
In Frankfurt organisieren das Lesbenzentrum, das Frauenzentrum und der Frauentreffpunkt Niedenau eine Nachtdemonstration Gewalt gegen Lesben. Anlass für die Aktion ist der Prozess gegen zwei homosexuelle Frauen wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Das Paar hatte sich nachts gegen die wiederholten Zudringlichkeiten eines Mannes gewehrt. In ihrem Flugblatt fordern die Initiatorinnen der Demonstration den Freispruch der Frauen: „Kriminell sind alle Männer, die Frauen auf irgendeine Weise bedrohen. Wir erkennen keine Männerjustiz an, deren Recht Unrecht gegen Frauen ist.“

Erstausgabe der Courage (FMT-Signatur: Z-Ü104)
Erstausgabe der Courage

September 1976
Die erste Ausgabe der Courage erscheint in Berlin (Null-Nummer im Juni). Die Frauenzeitschrift startet mit einer Auflage von 12.000, die sich innerhalb von drei Ausgaben auf 22.000 erhöht. Das rund zehnköpfige Redaktionskollektiv rekrutiert sich aus Aktivistinnen des Berliner Frauenzentrums und des Lesbischen Aktionszentrums (LAZ). Das Blatt, das bewusst von ‚Nicht-Journalistinnen’ gemacht wird und sich in erster Linie an die Frauenbewegung und die alternative Szene richtet, soll „ein Medium werden, in dem Frauen ihre Situation öffentlich darstellen können. Frauen sollen durch Courage Anregungen bekommen, sich mit ihrer und der Situation anderer Frauen auseinanderzusetzen“. Innerhalb des feministischen Spektrums vertritt Courage die Strömung der ‚neuen Weiblichkeit’ und des ‚sozialistischen Feminismus’. So bejaht Courage die Entlohnung von Hausarbeit, geht von einer natürlichen ‚weiblichen Friedfertigkeit’ von Frauen aus. Courage wird bis 1984 erscheinen.

Quelle: EMMA-Archiv
Solidaritätsaktion für Judy Anderson

November 1976
Frauengruppen starten eine bundesweite Solidaritätsaktion mit Judy Andersen. Seit ihrer Verurteilung zu lebenslänglich 1974 sitzt Andersen in Einzelhaft. Begründung: Die lesbische Frau könne andernfalls die Gelegenheit zu sexuellen Kontakten mit ihren Mithäftlingen nutzen. Die Dänin Andersen, die im Gefängnis bereits einen Selbstmordversuch unternommen hat und mit Psychopharmaka behandelt wird, hat ihre Verlegung nach Dänemark beantragt, die dänische Regierung hat ebenfalls einen Auslieferungsantrag gestellt. Die Frauengruppen protestieren mit Briefen an Justizministerium und Bundesregierung gegen die Haftbedingungen und fordern die Auslieferung von Judy Andersen nach Dänemark.

Andersen wird erst zehn Jahre später nach Dänemark überführt und dort im selben Jahr begnadigt.

Quelle: EMMA-Archiv (FMT-Signatur: FT.02.0215)
Frauenhaus Berlin, 1977

1. November 1976
In Berlin eröffnet das erste Haus für geschlagene Frauen der Bundesrepublik. Finanziert wird das Schutzhaus als ‚Modellprojekt’ von Bund (80 Prozent) und dem Berliner Senat (20 Prozent). Zwei Jahre hatte die elfköpfige Initiativgruppe Frauenhaus – Frauen helfen Frauen gebraucht, um diese allererste öffentliche Förderung für ein ‚autonomes Frauenprojekt’ durchzusetzen. Bundesfamilienministerin Katharina Focke bewilligt den Zuschuss wahlwirksam wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Obwohl die Berliner Familiensenatorin Ilse Reichel das Projekt befürwortet, bewilligt der Senat den Zuschuss erst nach öffentlichem Druck und einer Umfrage in Berliner Eheberatungsstellen: Jede achte Frau wendet sich wegen Misshandlungen durch ihren Ehemann an die Beratung. Schon vor Eröffnung des Hauses bitten geschlagene Frauen um Unterbringung. Die 80 Plätze sind innerhalb weniger Tage belegt. Allein in den ersten drei Monaten suchen 193 Frauen mit 300 Kindern im Frauenhaus Zuflucht.

Mehr dazu:
Frankfurter Rundschau: Mit einem vorübergehenden Asyl ist es nicht getan
Alice Schwarzer: Ein Tag im Haus für geschlagene Frauen (EMMA 1/77)

Mit ihrem Buch Sexismus – Über die Abtreibung der Frauenfrage lanciert die Berliner Journalistin Marielouise Janssen-Jurreit den Begriff ‚Sexismus’ auch in Deutschland.

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