Die Rede von Marie Goegg in Bern, 26.9.1868

Am Montag und Dienstag, 28. und 29. September 1868: ZWEITER KONGRESS DER FRIEDENS-UND FREIHEITS-LIGA. Rede der Frau Marie Gögg, Vorsitzende des internationalen Frauenbundes.

Meine Herren und Damen!

Im Namen des internationalen Frauenbundes ergreife ich das Wort und danke Ihnen, meine Herren, vor Allem für Ihren hochherzigen Entschluss, uns Frauen als gleichberechtigt mit Ihnen auf diesem Kongresse zu betrachten. Ich hoffe, dass Ihr edles Beispiel in ganz Europa seinen Widerhall finden und eines Tages seine Früchte tragen werde; ich hoffe aber auch, dass die Arbeiter an die ich mich für ihren letzten Kongress in Brüssel im Namen unseres Frauenbundes gewandt habe, schon das nächste Jahr erkennen werden, dass sie Unrecht gehabt, meine Adesse nicht in Betracht zu ziehen, und nicht auch Ihrem Beispile zu folgen und die Frauen an den Beratungen teilnehmen zu lassen.

Meine Herren und Damen! Unser Programm bezweckt, wie Sie wissen, in den Familienkreisen die hohen Ideen der Friedens- und Freiheitsliga zu verbreiten und zur Geltung zu bringen. Allein da finden wir in der durch Gewohnheit und Gesetze künstlich geschaffenen Stellung der Frauen ein unübersteigliches Hindernis. Diese, einst von unsern Vorfahren aus Stolz, Selbstsucht und Unmenschlichkeit gemachten Gesetze sind heute für die Männer selbst von grossem Nachteile; denn dadurch haben sie (die Männer) Lebensgefährtinnen, welche für den nunmehr nötigen, grossen, geistigen Kampf nicht vorbereitet sind. Die Verhinderung jeder geistigen selbständigen Betätigung hat bei den einen totale Erschlaffung, bei den andern Gleichgültigkeit, bei den meisten Kleinlichkeit und Lächerlichkeit in Geschmack und Ideen erzeugt.

Um diesem Uebel zu steuern, ist eine rationelle, radikale Aenderung nötig, welche als ein Akt der Gerechtigkeit nichts anderes ist, als die Aufhebung aller Gesetze, welche die Frau dem Manne unterwerfen, d.i. mit einem Worte die Wiederherstellung der Frau als selbständiges, für seine Handlungen und sein Schicksal verantwortliches menschliches Wesen.

Bis heute war die Frau nur zu der von Männern vorgeschriebenen oder geduldeten Arbeit berechtigt, und diese kleine Auswahl von Berufsfächern hat die Töchter der begünstigten Klassen von der Arbeit überhaupt abgehalten, hat bei den ärmeren eine Konkurrenz erzeugt, welche den Gewinn illusorisch macht und hat jene beklagenswerte Immoralität hervorgerufen, welche immer höher und höher steigt und nach und nach die ganze Gesellschaft überflutet, wenn nicht rasche und energische Gegenmittel angewandt werden.

Ausserdem ist der Unterricht für die Frauen wenn auch nicht als durchaus unnütz, aber doch als sehr untergeordnet betrachtet worden, so dass verhältnismässig sehr wenige Frauen die Wohltaten des Wissens geniessen, während sie ihre Brüder von Klasse zu Klasse aufsteigen und zu den höchsten Stufen der Wissenschaft sich erheben sehen. Sie, die armen, unterdrückten Geschöpfe, mussten sich als unvollkommene Wesen betrachten, ihre innere Stimme, welche sie doch auch zur Ausbildung drängte, unterdrücken und sich unter dem Einfluss des Priesters beugen, welcher ihnen das Wort „Resignation“ zuflüsterte und als Preis und Trost für ihre Tränen den Himmel wies.

Heute beschäftigen sich allerdings in jedem Lande die aufgeklärtesten Männer mit den zwei von mir aufgeworfenen Fragen, nämlich mit dem Rechte auf Arbeit und Untericht für die Frauen, und es ist wahrscheinlich, dass diese zwei Fragen zur Befriedigung der Urheber in Bälde gelöst werden; allein, meine Herren und Damen, dieses Resultat kann nur praktisch sein, wenn es vom wahren Hauch der Freiheit begleitet wird, und deshalb richte ich diese Worte an Sie, hier versammelte Apostel der Menschheit, damit Sie für die Frau nicht bloss die Gleichheit in der Arbeit und dem Unterrichte, sondern auch die vollständige Gleichheit vor dem Gesetze verlangen.

Wie wäre es in der Tat möglich anzuerkennen, dass die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft von den unterrichteten Frauen verlangen, die in Zeiten der Unwissenheit geschmiedeten Ketten dennoch zu tragen? Die Stellung der Frau im Mittelalter und in noch früheren Zeiten erklärt sich durch die Lebensweise der Männer in jenen Epochen. Da hatten die Männer nur Sinn und Streben für Herrschaft und suchten demzufolge die schwachen Geschöpfe zu unterdrücken; da war bei den Männern die einzige Beschäftigung der Krieg und war es somit natürlich, dass die Frauen, welche solche Leidenschaften nicht teilten und an den Kämpfen sich nicht beteiligten, als geringere Wesen betrachtet und behandelt wurden; da waren Bildung und Unterricht bei den Männern so zu sagen gar nicht vorhanden, so dass noch im vorigen Jahrhundert grosse Feldherren sich rühmten, ihre Namen nicht unterzeichnen zu können; es ist also nicht zu verwundern, dass die Frauen noch weniger Bildung besassen und dass ihnen von den Männern, von dem Grundsatze des Rechtes des Stärkeren ganz und gar eingenommen, beschränkende Gesetze auferlegt wurden. Allein heute, gegenüber dem ausserordentlichen geistigen Fortschritte der Gesellschaft, ist die Stellung der Frau eine Anomalie, ein Widerspruch, eine Tyrannei, welche wie jede Tyrannei, sofern sie von Dauer ist, den Tyrannen selbst Unheil bringt. Heute können Sie, meine Herren, nicht ohne auffallende Inkonsequenz das Ihnen auferlegte Joch der Willkür der Stärkeren abzuschütteln suchen, wenn Sie nicht auch zugleich gegen die Willkür des Mannes überhaupt, welche der Natur Grenzen vorzuschreiben wagt, protestieren.

Wenn unter den Zuhörern einige noch nicht von der Gerechtigkeit unserer Sache überzeugt sind, so mögen sie mir erlauben, ihnen zu sagen, dass ihr eigenes Interesse als Männer des Fortschritts auf dem Spiele stehe. Wenn sie in Wahrheit gründlichen Fortschritt wollen, werden sie ihn nur durch die Hülfe der aufgeklärten Frauen erreichen; denn die Frauen sind es ja, welchen die Erziehung der Kinder zukommt und welche in den Herzen der Kinder die Gefühle wecken, welche auf das ganze Leben Einfluss haben.

Die Männer, welche durch die Gesetze von 1789 die Welt umgestaltet haben, waren erzogen von Frauen, welche von den Ideen der Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere von den Schriften des Verfassers des „Emil“ und des „Contract social“ begeistert waren. Wenn diese Männer ein schwankendes Gebäude aufgerichtet haben, war es, weil sie, berauscht von ihrem Ruhme, die heldenmütige Hülfe ihrer Mütter und Frauen mit Undank belohnt, nur für sich die Freiheit geschaffen und nicht auch für die Frauen die unveräusserlichen Menschenrechte proklamiert haben. Sie haben ihren Fehler schwer gebüsst und heute noch leiden dadurch ihre Nachkommen. Indem der Mann in seinem Stolze die Frau als seinesgleichen verleugnete, hat er seiner eigenen Erhebung geschadet. Wenn die Frau von 1789 an berufen gewesen wäre, von allen ihren, durch die Natur gespendeten Gaben einen freien Gebrauch zu machen, würde die Gesellschaft, statt rückwärts zu gehen, vorgeschritten sein. Der Militärdespotismus hätte sich nicht so leicht festsetzen können; die Geistlichkeit würde kein so geneigtes Ohr für die Wiedererlangung verlorner Rechte gefunden haben, würden sich in unsern Tagen die Männer nicht wie geduldige Schafe in den Krieg treiben lassen, würde die Kirche sich nicht ins Bürgerliche und Politische mischen, würden die Schulen besser und mehr verbreitet sein. Ja, meine Herren, all‘ dies würden Sie haben, wenn die Generationen seit der französischen Revolution mit der Muttermilch die Liebe zur öffentlichen Wohlfahrt, zu Gerechtigkeit und Wahrheit eingesogen hätten.

Welches sind die grössten Gegner der Frauenemanzipation? Es sind die Dollmetscher der Religionsdogmen, welche wohl wissen, dass ihre Macht und ihr Einfluss aufhören, sobald die Frau aufgeklärt sein wird. Es gibt allerdings noch andere zahlreiche Egoisten, welche die Freiheit nur für sich wollen, wieder andere nicht minder zahlreiche, welche als Gewohnheitsmenschen sich vor jeder Aenderung fürchten, und endlich eine grosse Zahl genusssüchtiger, unmoralischer Lebemenschen, welche ihre unnatürlichen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können glauben, wenn die Frau nicht mehr gegen das Elend anzukämpfen haben und infolge des Unterrichts und der Ausübung ihrer Rechte das wahre Gefühl ihrer Würde besitzen wird; allein an der Seite all‘ dieser verrächtlichen Beweggründe ist es der religiöse Sauerteig, welcher alle mehr oder weniger beeinflusst. Leset die ultramontanen oder pietistischen Blätter und Schriften, bei allen findet sich derselbe Refrain: „Die Frau soll sich mit dem Platze begnügen, den Gott ihr angewiesen hat“ usw.

So war, meine Herren, ganz dieselbe Sprache in bezug auf die Männer in den Zeiten, wo die Geistlichkeit und der Adel mit Hülfe des Landsknechts den Bürger, Arbeiter und Bauer, in allen Weisen drückten, Reklamationen verlachten und für unverschämt erklärten, sich für ihres Gleichen zu halten. War es nicht im Namen derselben Religion, dass der Bauer sein ganzes Leben an die Scholle gebunden, für seine Herren arbeiten und oft aus Hunger und Elend mit seiner Familie zu grunde gehen musste? War es nicht im Namen derselben Religion, dass man den Sklaven belehrte, seinem Herrn zu gehorchen und schweigsam seine schlechte Behandlung zu ertragen? Und dennoch haben Ihre Vorfahren das Haupt erhoben. Der Bauer ist so frei und unabhängig, wie sein ehemaliger Herr geworden. Der Sklave hat seine Ketten zerbrochen und die Menschheit, statt darunter zu leiden, hat darüber Freudengesänge angestimmt. Fort darum mit all den Bedenken in bezug auf die Frau. Wie die unterrichtetsten und intelligentesten Männer und mit Hülfe der Vernunft auch der besten Ehegatten und Väter sind, ebenso werden die Frauen bei der Möglichkeit der Ausübung all ihrer Anlagen vozüglichere Wesen und anhänglicher an das Familienleben werden und ihre Pflichten als Gattinnen und Mütter verstehen und ausüben.

Uebrigens beklagt man sich, meine Herren, so oft über uns, dass ich eigentlich erstaunt bin, den Versuch zu einer Aenderung fürchten zu sehen. Wenn ich nicht fürchtete, Sie zu ermüden, so würde ich noch zwei von den Männern ausgehende Anschuldigungen zu widerlegen suchen. Einesteils beschuldigt man die Frau, dass sie von Natur aus aristokratisch gesinnt sei, andernteils dass sie den Gewinn dem Fortschritt vorziehe.

Die Hand aufs Herz, wie kann ein Mann, der sich selbst achtet, uns diesen Titel geben, wenn er dessen Ursprung kennt? Welcher uns zuerst diese Beleidigung ins Gesicht geschleudert hat, ist gerade derjenige, welcher einen Teil des Werkes der Revolution zerstört hat, ist der Despot, welcher sich auf Kosten der Freiheit emporgeschwungen und sich nur vermittelst Eroberungskriegen auf dem usurpierten Throne gehalten hat. Warum füchtete denn Bonaparte die Frauen so sehr, wenn er sie der Gewaltherrschaft ergeben gehalten hätte? Warum hat er denn das weibliche liberale Genie seiner Zeit, Frau v. Stael, verfolgt, indem er ihr in grober Weise zurief, dass er das Weib nur nach der Zahl der Kinder, welche es dem Vaterlande schaffe, achte? Ich glaube im Gegenteil, meine Herren, dass die Natur, welche, das Frauenherz dem Mitleid für jedes Missgeschick öffnet, der Frau auch die wahren humanen Gefühle in jeder Richtung verliehen hat. Wenn es unter den Frauen wie bei den Männern Aristrokaten gibt, so ist das vielmehr Folge der Erziehung und der Vorurteile und eher das Werk der Männer, als der Natur.

Bezüglich der Bevorzugung des Geldes gegenüber dem Fortschritt ist es sehr leicht, ein Urteil, das aber oft ungerecht ist, abzugeben. Wie soll sich die Frau für den Fortschritt interessieren, wenn man sie ausserhalb jeglichen Fortschrittes belassen hat? Die Frauen – ich meine die grössere Zahl – lesen sie die Zeitungen? Sucht man diesem Geschmack bei ihnen anzuregen? Spricht man mit ihnen von ernsthaften Dingen? Erleichtert man ihnen, sich für das öffentliche Wohl zu interessieren, wenn man ihnen stets nur zuruft, dass ihre Pflicht sei, sich bloss um häusliche Angelegenheiten zu bekümmern? Ziehen manche Ehegatten nicht vor, ihre Frauen eher mit den Priestern verkehren, als dieselbe Zeit zur Besprechung gewisser Fragen von allgemeinem Interesse verwenden zu sehen? Warum daher sich wundern, dass die grössere Zahl gleichgültig für Dinge bleibt, mit denen sie sich zu beschäftigen niemals Gelegenheit gehabt?

Meine Herren! Ich protestiere gegen diese beiden Anschuldigungen, wie ich auch im Namen des Frauenbundes gegen die Idee, als ob die Frau, welche die von der Natur vorgeschlagenen Rechte erlangt hat, dem Ehebündnis weniger günstig und anhänglich sei, protestiere. Wir erklären im Gegenteil, dass wir dasselbe als die wahre und einzige Grundlage der modernen menschlichen Gesellschaft betrachten.

Zum Schlusse bitte ich den Kongress, zu unseren gunsten Resolutionen zu fassen, und wende ich mich insbesondere noch mit einem Wort an Sie, meine Damen! Je mehr wir selbst für unsere eigene Bildung und unsere Unabhängigkeit arbeiten, je mehr werden wir den Männern Achtung einflössen und uns ihre Hülfe sichern, und, in dieser Weise vorangehend, bin ich überzeugt, dass wir eines Tages siegreich aus unserem Kampfe hervorgehen werden, der, ich wiederhole es, keinen anderen Zweck hat, als überall die Herrschaft des Rechtes, die Freiheit, die Bildung und den Wohlstand für jedes menschliche Wesen zu erringen.

(Textauszug aus: Rahm, Berta (1993): Marie Goegg (geb. Pouchoulin) : Mitbegründerin der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit, Gründerin des Internationalen Frauenverbundes, des Journal des Femmes und der Solidarité. – Schaffhausen : Ala-Verl., S. 95 – 100)

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