Lida Heymann & Anita Augspurg

Anna Dünnebier / Ursula Scheu, 2002

Sie sind zwei der mutigsten Menschen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts gewesen: Anita Augspurg (1857-1943) und Lida Gustava Heymann (1868-1943). Ihre Wege kreuzten sich um die Jahrhundertwende, und seither lebten, kämpften und reisten sie zusammen. Mit über 70 machten die beiden noch den Führerschein und waren nicht nur am Steuer ganz vornean. Schon 1896 forderten Augspurg und Heymann das Wahlrecht für Frauen und 1923 die Ausweisung des Österreichers Hitler; 1933 warnten sie vor dem Holocaust und 1935 vor den Pogromen der Nazis. Sie agierten nicht nur in Deutschland und ganz Europa, sie waren auch international vernetzt. Und sie beschäftigten sich mit den Fragen, die auch heute noch und wieder brandaktuell sind. Sie waren: Feministinnen, Pazifistinnen, Ökologinnen, Nazi-Gegnerinnen, Anti-Imperialistinnen und Kosmopolitinnen. All das machte die beiden Frauen zu ihrer Zeit so berühmt wie berüchtigt. Dennoch gerieten die Pionierinnen der ersten Frauenbewegung nach ihrem Tod im Schweizer Exil 1943 ganz in Vergessenheit, die Pionierinnen der zweiten Frauenbewegung kannten zunächst noch nicht einmal mehr ihre Namen. Den neuen Feministinnen ist die erste Veröffentlichung der Lebenserinnerungen von Heymann im Jahre 1972 zu verdanken („Erlebtes. Erschautes“), und 1977 porträtierte EMMA Augspurg/Heymann. Jetzt liegt erstmals eine Biografie dieses so mitreißenden und schillernden Frauenpaares vor: „Die Rebellion ist eine Frau“ von Anna Dünnebier und Ursula Scheu. Nachfolgend Auszüge. – Rechts Augspurg & Heymann auf der Stimmrechtskonferenz in Berlin 1904 (links von ihnen Susan B. Anthony und Minna Cauer).

Das hat die Hauptstadt des Deutschen Reiches noch nicht gesehen!“, schreibt das „Berliner Tageblatt“. Tausende von Feministinnen aus aller Welt kommen zu dem internationalen Frauenkongress nach Berlin, dampfen mit Schiffen aus Amerika über den Ozean, reisen in tagelanger Bahnfahrt aus Russland und Italien an. Sie diskutieren über Frauenrechte, Prostitution, weibliche Kreativität und den kleinen Unterschied, streiten sich, feiern miteinander. Und das im Jahr 1896, zur Zeit Kaiser Wilhelms! Zu der Zeit sind Frauen in ihre Kleider und in Rollenzwänge eingeschnürt, sie tragen Korsett und zahlreiche Untertaillen unter ihren gewaltigen Röcken, mit denen sie die Straße fegen. Und haben wenig Chancen im Leben: Die Ärmeren müssen schuften und die Bessergestellten heiraten. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.

Die „Emanzipierten“ sehen das anders. Sie kämpfen für Stimmrecht und Studium, für das Recht auf Arbeit und auf die eigene Meinung. Sie sehen auch anders aus: Lila Latzhosen tragen sie nicht, aber ihre lose geschnittenen bequemen Reformkleider sind zur Zeit der geschnürten Taillen mindestens genauso ungewöhnlich bis ausgeflippt. Diese Frauen nehmen auch wie Männer ihren Platz im Leben ein: Auf dem Kongress finden sich Anwältinnen und Journalistinnen, Ärztinnen und Künstlerinnen. Berlin staunt.

Pressevertreter wieseln um die Frauen herum, fragen sie, wie sie zur freien Liebe stehen, was sie über den Kaiser denken und ob sie die deutsche Familie zerstören wollen. Es gibt auch noch andere Herren auf dem Kongress, die sich eifrig Notizen machen: Wo Frauen in der Öffentlichkeit auftreten, ist immer auch die politische Polizei dabei. Das Kaiserreich wittert Gefahr, wenn Frauen sich nicht an die vorgeschriebenen Rollen halten. Die jetzt am Rednerpult über Frauenrechte spricht, Anita Augspurg aus München, ist der Polizei schon dort aufgefallen. „Unsere Ehegesetze normieren dasjenige Maß von Unrecht, welches man, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, seiner Ehefrau zufügen darf, ruft sie leidenschaftlich in den Saal. Das grenzt ja an Umsturz… Die Herren notieren fleißig. Im faszinierten Publikum ist eine junge Frau, die diese Begegnung niemals vergessen wird: Lida Gustava Heymann aus Hamburg: „Wo ist das Recht der Frau? Diese mit Kraft und selten klangvoller Stimme in den mächtigen Saal gerufene Frage traf mich tief, ließ mich aufhorchen und aufschauen. Am Rednerpult stand ein Mensch in an griechische Art erinnerndem Gewände aus braunem Sammet. Schon ergrauendes kurzes Haar umrahmte eine hohe Stirn, unter der zwei klar schauende Augen blitzten. Ein scharfes Profil stand in merkwürdigem, aber nicht unharmonischem Kontrast mit einem liebevollen kleinen Munde, Kinn und kleinen Ohren. Die Klarheit ihrer frei gehaltenen Rede, die Schärfe ihrer Beweiskraft – das imponierte mir restlos. Hier vereinte sich starkes Selbstbewusstsein mit einer völlig natürlichen, uneitlen Art, sich zu geben.“ So schreibt sie später in ihren Lebenserinnerungen.

Die lebenslustige, exzentrische Anita Augspurg und die beherrschte, empörte Lida Heymann – das Zusammentreffen der beiden ergibt eine kreative Mischung. Fast ein halbes Jahrhundert bleiben sie zusammen, provozieren durch ihr Leben wie durch ihre politischen Kämpfe. Sie fordern gleiches Recht für Frauen, im Parlament wie im Bett. Sie prozessieren gegen den Hamburger Senat wegen Zuhälterei, rufen auf zum Eheboykott, gründen das erste deutsche Mädchengymnasium, geben feministische Zeitschriften heraus. Sie demonstrieren auf der Straße, debattieren im Reichstag, organisieren Go-ins von Frauen in die Wahllokale, initiieren internationale Kongresse.

Sie hassen den Nationalismus, den Männerstaat und den Krieg, kämpfen gegen Antisemiten und gegen Kolonialisten, die Juden oder Farbige für Menschen zweiter Klasse halten. Sie bleiben auch dann Kosmopolitinnen und Pazifistinnen, als ganz Deutschland 1914 dem Taumel des Nationalismus und der Kriegseuphorie erliegt. Und sie kämpfen seit den zwanziger Jahren gegen die Nazis: Anita Augspurg und Lida Heymann fordern schon 1923 beim Bürgermeister in München die Ausweisung des Österreichers Hitler. Sie leben das Leben, das sie sich ausgesucht haben. So verschieden auch ihre Herkunft war – beide rebellierten schon früh gegen die Rolle, die ihre Familien für sie vorgesehen hatten, und gingen zielstrebig ihre eigenen Wege.

Im September 1896 fuhr Lida Gustava Heymann, die Hamburger Kaufmannstochter, als Delegierte des Hamburger Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (AdF) nach Berlin. Es wurde ein unvergessliches Ereignis, ein ungeahntes Fest. Sie konnte es kaum fassen. Da waren Hunderte von rebellischen Frauen wie sie. Sie war nicht mehr allein, vom Rest der Welt als verrückt beiseite geschoben. Hier war eine ganze Welt von Gleichgesinnten. Atemlos sah sie sich in dieser Versammlung um, bestaunte die kecken Hosen, in denen manche erschienen waren, den soliden Tweed der Engländerinnen, in denen die eine oder andere schon Weltreisen überstanden hatte, die reich verzierte, farbenfrohe Tracht einer armenischen Prinzessin, die auf dem Kopf einen Spitzenschleier mit einem dicken Edelstein über der Stirn trug und im übrigen Medizin studierte. Heymann wirkte in Ihrem grauen korrekten Reisekostüm und dem großen Hut fast zu normal.

Da waren Deutsche, die im Ausland studierten. Da waren promovierte Ärztinnen aus Italien gekommen, eine Rechtsanwältin aus Amerika und eine, die den Journalistinnen-Verband vertrat, sogar eine leibhaftige protestantische Pastorin war aus Amerika angereist. Da waren englische und holländische Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht, Lehrerinnen, eine Landwirtin, Rechtsgelehrte und Künstlerinnen. Manche waren jünger als sie selbst. Und alle waren gut gelaunt und kontaktfreudig und schienen mit ihrem emanzipierten Leben hoch zufrieden. „Auffällig war die große Anzahl hübscher Mädchen, denen man es ansah, dass sie nicht aus Resignation sich der Frauenbewegung angeschlossen hatten“, so befand auch der Reporter vom „Berliner Tageblatt“.

In Berlin fand zur selben Zeit eine große Gewerbeausstellung statt, die alles vorführte, was die neue Technik und Industrie zu bieten hatte: Fotografie und bewegte Bilder, Telegraf und Telefon, Automobil und sogar einen Fesselballon, mit dem die Berliner ihre Stadt von oben sehen konnten. Berlin präsentierte sich als moderne Großstadt. Besucher aus aller Welt wurden erwartet.

Auf dieses Datum hatten Minna Cauer, Lina Morgenstern und Hedwig Dohm ihren großen „Internationalen Frauenkongress“ gelegt. Möglicherweise aus Respekt vor dem internationalen Besuch war der Magistrat großzügig gewesen und hatte den Frauen seine beste Stube überlassen: den Festsaal des Berliner Rathauses. Sonst waren die Frauen es eher gewohnt, von der Obrigkeit bei ihren Versammlungen überwacht und schikaniert zu werden.

Der erste Tag begann feierlich: mit einer eigens für diesen Anlass gedichteten und komponierten Hymne, die von einem Mädchenchor vorgetragen wurde. Dann ging es an die Arbeit. Die Delegierten berichteten von ihren Zielen, Kämpfen, Erfolgen oder Niederlagen. Augspurg begann ihren Bericht über den Kampf für ein frauenfreundlicheres Familienrecht mit dem Satz, der sich Heymann so tief einprägte und das Motto ihres Lebens wurde: „Wo ist das Recht der Frau?“

Ob Heymann während dieser sieben Tage der Konferenz einen ebenso prägenden Eindruck auf Augspurg hinterlassen hat? Die 39-jährige Augspurg war immerhin schon ein „Star“ der Frauenbewegung – und die 29-jährige Heymann eine Debütantin. Sicher ist, dass sich von nun an ihre Wege kreuzten und in nicht allzu ferner Zeit zusammengehen würden.

Die Gegensätze zogen sich an: Anita Augspurg aus der Münchner Boheme, bekannte Fotografin, früher Schauspielerin, nebenher Studentin in Zürich zu einer Zeit, als in Deutschland noch keine Frau studieren darf – und Lida Gustava Heymann, reiche Erbin aus hanseatischer Familie, die mit ihrem Vermögen die zu kurz Gekommenen unterstützt: Arbeiterinnen und Arbeitslose, geschlagene Ehefrauen, hungrige Kinder, Prostituierte. Die herbe Kühle aus dem Norden mit dem heißen Gerechtigkeitsgefühl und die flippige Exzentrikerin aus dem Süden mit ihrer intellektuellen Schärfe.

Viele Delegierte berichteten von ihrer Arbeit im Sozialen oder in Berufsgenossenschaften. Heymann schwirrte der Kopf vor Ideen. Der Mittagstisch und der Kinderhort sollten ja nur ein Anfang sein. Da war von der elenden Lage der Frauen die Rede, die in Läden oder Büros angestellt waren: schlecht bezahlt, schlecht ausgebildet, jederzeit kündbar, der Willkür der Chefs ausgesetzt. Und erst die erbärmliche Lage der Schauspielerinnen, wenn sie denn keine Eleonora Düse waren! Da sprachen Delegierte, die Hilfsvereine für Arbeiterinnen oder Büroangestellte gegründet hatten, die eine Stellenvermittlung betrieben, Rechtsberatung für Frauen leisteten, in einem Verein für Bühnenangehörige aktiv waren, Jugendgruppen leiteten, auf höheren Mädchenschulen oder Gymnasien unterrichteten, Hygienekurse gaben oder in Ferienkolonien ehrenamtlich tätig waren. Vorbilder, Anregungen.

Augspurg aber wollte von „Wohltätigkeitskram“ nichts hören. Für sie klang all dies wie eine Programmrede von Helene Lange oder einer anderen Gemäßigten. Denen war der Kongress der Radikalen zu politisch — sie boykottierten ihn. Keiner der „gemäßigten“ Frauenvereine war erschienen. Bei ihnen hatten sich „warnende Stimmen erhoben, die einen solchen Frauenkongress für unsere deutschen Verhältnisse noch für verfrüht erklärten und die weitere Entwicklung der eben im Fluss befindlichen Fragen abzuwarten rieten“, so schrieb Helene Lange in ihrer Zeitung „Die Frau“. Die ängstlichen Abwarterinnen setzten mit ihrer Mehrheit durch, dass sich der „Bund“ nicht beteiligte. „Die Frau“ vermisste dann beim Kongress die eigenen Leute: „Die führend in der Frauenbewegung, Deutschland hinter sich haben, die an der Spitze des Bundes deutscher Frauenvereine stehen – jene großen Namen, auf welche die Frauenwelt mit Stolz blicken darf, fehlten.“ – „Vermisst hat man sie nicht“, konterte Minna Cauer grimmig in ihrer Zeitung.

Vermisst hat man schon eher die Frauen der Arbeiterinnenbewegung. Lina Morgenstern und Minna Cauer hatten ausdrücklich die Sozialdemokratinnen eingeladen, auf dem Kongress zu sprechen. Clara Zetkin lehnte ab – und wusste zu verhindern, dass eine aus ihren Reihen hinging. Auf einer Versammlung der Berliner Ortsgruppe der SPD-Frauen drückte Zetkin einen Beschluss durch: Niemand dürfe an dem bevorstehenden Kongress der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen teilnehmen. Zetkin selbst allerdings nahm sich die Freiheit.

Außerhalb der Vorträge und Diskussionen hatten die Berlinerinnen ein umfangreiches Rahmenprogramm organisiert, für jedes Interesse war gesorgt, ob Besuch im Zoo oder Kunstausstellung, ob Wohlfahrtseinrichtungen oder die Gewerbeausstellung. Für einen Abend war ein gemeinsames Essen in einer von Lina Morgenstern betriebenen Suppenküche vorgesehen – für den nächsten ein Galadiner im Restaurant des Luxushotels „Adlon“ auf der Gewerbeausstellung.

Zu der gastfreundlichen internationalen Atmosphäre dieser Tage passte es gar nicht, dass einige Restaurants Gruppen von Delegierten — Frauen „ohne Begleitung“ — abwiesen. Das waren die meisten von zu Hause nicht gewohnt. Ob es denn keine Frauenclubs in Berlin gäbe, fragten die Engländerinnen verwundert. Und sofort bildete sich eine Gruppe, die so etwas auch in Berlin gründen wollte – und ein Jahr später auch wirklich einrichtete. Am ausführlichsten berichtete die „Vossische Zeitung“ und kommentierte: „Man hört so oft die Wortführerinnen der Frauenbewegung von der Knechtung, Unterdrückung und Rechtlosigkeit der Frau durch die schlechten Männer reden. Auffällig ist es aber, dass von den Frauenrechtlerinnen nie der Frauen gedacht wird, die durch schlechte und liderliche Wirthschaft die Männer zu Grunde richten.“

Hedwig Dohm hatte schon in den siebziger Jahren versucht, Frauen für das Stimmrecht zu agitieren, „denn nur über das Stimmrecht geht der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau“. Damals war sie die einsame Ruferin in der Wüste gewesen. Nun, in den 90ern des 19. Jahrhunderts, saß sie abends gern im Frauenclub in der Schadowstraße 11, freute sich über die Radikalität der Nachwachsenden wie Augspurg, Pappritz oder Stöcker und konnte zu deren Erkenntnissen nur nicken.

Wenige Monate später brachte Bebel für die Sozialdemokraten die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in den Reichstag ein – der Antrag wurde abgelehnt. Bei seiner Bemerkung, „es würde für unsere Gesetzgebung außerordentlich wohltätig wirken, wenn wir weibliche Kollegen hätten“, vermerkt das Reichstagsprotokoll „große andauernde Heiterkeit“. Und die meisten Frauengruppen fanden es „zu politisch“, das Stimmrecht zu verlangen; sie fürchteten ein Verbot ihrer Vereine nach dem preußischen Vereinsgesetz.

Zur Sitzung des Berliner Kongresses kamen einige hundert Frauen — zur Veranstaltung der Suffragetten in die Queens Hall strömten mehrere Tausend. Dort sprachen nicht nur Feministinnen aller Länder, allen voran die Amerikanerin Susan B. Anthony, die mit ihren achtzig Jahren geradezu eine Ikone der internationalen Frauenbewegung geworden war. Am letzten Kongresstag präsentierten sich 20 Frauen aus einem Dutzend Ländern, darunter Augspurg, Cauer, Pappritz, Susan B. Anthony und Josephine Butler, der Öffentlichkeit und der Presse: „Die hier versammelten Frauen aller Länder beschließen, zu einer gemeinsamen internationalen Aktion und Propaganda zusammenzutreten, behufs Erlangung der ökonomischen, gesetzlichen und politischen Gleichstellung des weiblichen Geschlechts.“ Ein Verein ohne Satzung, Vorstand oder Beitragslisten war gegründet, der sich „International Union of Progressive Women“ nannte. Ein Verband für Frauenrechte, eine Möglichkeit, sich schnell informieren zu können, Rednerinnen einzuladen, neue Gedanken und Entwicklungen auszutauschen. Seine Position innerhalb der Frauenbewegung beschrieb der deutsche „Verband fortschrittlicher Frauenvereine“ in vier Punkten: keine doppelte Moral; politische Rechte für Frauen, vor allem das Stimmrecht; keine Höhere-Töchter-Schulen, sondern Mädchen-Gymnasien; Zusammenarbeit mit der Arbeiterinnen-Bewegung. Seine Mittel: „Mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln einzutreten, auch selbst da und dort, wo ihm das Gesetz den Kampf bitter erschwerte“, so Minna Cauer.

Heymann brachte den Unterschied auf den Punkt: „Die Konservativen wollten, immer unter Betonung der Andersartigkeit des weiblichen Geschlechts, den Frauen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten schaffen, um ihnen stufenweise das Hineinwachsen in eine helfende und unterstützende Betätigung im bestehenden Männerstaat zu ermöglichen. Ihre Taktik hieß immer: ,Vorsicht! Nicht anstoßen! Man darf die Männer nicht zu stark herausfordern, denn sie sind die Herrschenden im Staate, wir brauchen sie.‘ Anders die radikale Richtung! Sie bestritt einfach unter Hinweis auf die unbefriedigenden Zustände in Staat und Gesellschaft den Männern das Alleinbestimmungsrecht, ohne jede Rücksichtnahme auf Entrüstung und Empfindlichkeit der Männer.“ In den Vorstand des neuen Verbandes wurden Cauer, Augspurg und Heymann gewählt. Für die Bildung von „Propaganda-Ausschüssen“, also für die Wirkung nach außen, war Katharina Erdmann zuständig. So entstand ein Beziehungsviereck aus gewesener, gegenwärtiger und entstehender Liebe, voller Eifersucht, Hoffnung, Abneigung und unterschwellig brodelnder Gefühle, wie es konfliktreicher kaum vorstellbar ist.

Und dann verbrachte Augspurg die Weihnachtsfeiertage 1899 weder mit Cauer noch mit Erdmann, sondern in Hamburg mit Lida Gustava Heymann. Ahnten sie zu diesem Zeitpunkt schon, dass sie von nun an jedes Weihnachten und Silvester gemeinsam feiern würden? Ohne Weihnachtsgans, denn beide lebten ja vegetarisch, weil es sie grauste, Tiere zu töten oder für sich töten zu lassen. Vielleicht lasen sie sich Goethe-Gedichte vor, denn für beide war er der größte Dichter. Brauten sich Punsch, wie es Augspurg von späteren Jahreswechseln berichtete. Sicher schmiedeten sie Pläne, politische, vielleicht Reisepläne, Schäftlarn im Sommer, beide liebten die Natur… Dieser Jahrhundertwechsel war privat und politisch volle: Turbulenzen, auch voller Aufbruch und Hoffnung. Der Frieden, die Frauenrechte, die große Liebe – alles war im kommenden Jahrhundert möglich. Das neue Jahrhundert begann mit einem guten Zeichen: Eine deutsche Großstadt setzte einer feministischen Vorkämpferin ein Denkmal. In Leipzig wurde in den Parkanlagen neben der Johanniskirche eine marmorne Louise Otto-Peters mit Lorbeerkranz enthüllt. Mehr hätte auch keine Frau Goethe verlangen können. Das „Centralblatt“ sprach von einem „geschichtlichen Ereignis“, das nichts anderes bedeute als „die offizielle Anerkennung der Frauenbestrebungen und die prinzipielle Anerkennung der Frau als Bürgerin“.

„Es gab Zeiten, wo der Lehrerinnenberuf, das Schlittschuhlaufen und Radfahren als Gipfel der wildesten Emanzipation galt, durch Gewöhnung haben sie sich Heimatrecht erobert“, so erinnerte sich Augspurg, als sie das Pressematerial zu einem Treffen der „Fortschrittlichen Frauenvereine“ sichtete. „Durch Gewöhnung diskutiert die Berliner Presse sachlich die Fragen der gemeinsamen Erziehung, die politischen Rechte der Frau.“

Die Masse an Presseberichten, die sie zu sichten hatte, wog 380 Gramm – nicht die Zeitungen, sondern nur die Ausschnitte. Nettogewicht. Und es handelte sich nicht einmal um ein besonders herausragendes Ereignis. Das unglaublich breite Presse-Echo, das schon der Kongress von 1896 gefunden hatte, setzte sich fort. Sowohl Gegner wie auch Unterstützer gingen auf alle Aktionen der Frauenbewegung ein. Man konnte damals sogar mehr Beschimpfungen von „Emanzen“, mehr Berichte über Kongresse und mehr Diskussionen über feministische Politik lesen als in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Viele Tageszeitungen hatten eine eigene Frauenbeilage – wenige allerdings eine so feministische wie der „Tag“ in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, als Augspurg für diese Seite verantwortlich war. Sie schrieb dort über ähnliche Themen wie in der „Frauenbewegung“: Stimmrecht, Ehegesetze, Sittlichkeit. Gern brachte sie Berichte aus anderen Ländern wie Amerika, in denen die Emanzipation schon weiter fortgeschritten war.

Neben der „Frauenbewegung“ existierten mehrere große Frauenzeitungen, „Die Frau“ von Helene Lange, „Neue Bahnen“, die Zeitung des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“, das „Centralblatt“ des Bundes, die „Hausfrauenzeitung“ Lina Morgensterns, der radikale „Abolitionist“ von Katharina Scheven und die von Clara Zetkin herausgegebene sozialdemokratische „Gleichheit“.

Im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts erschien auch die „Bibel“ der Gegner der Emanzipation: Das Buch „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ von Paul Julius Möbius. Die spöttische Kritik von Hedwig Dohm, die das Werk in der „Frauenbewegung“ lustvoll und ironisch zerpflückte, war von weit höherem literarischem und geistigem Niveau als das Original. Aber dieses Buch sollte für einige Zeit den „wissenschaftlichen Beweis“ darstellen, dass Frauen nicht zum Denken geboren sind.

Die Frauen kümmerte das wenig. Hunderte von Vereinen und Gruppen schufen allmählich ein immer größeres Netz von Frauenkultur, veranstalteten Mitgliedertreffen, öffentliche Vorträge, Diskussionen und Kongresse und luden gegenseitig fachkundige Frauen aus anderen Städten ein. Eine Vortragszentrale in Mannheim vermittelte Referentinnen in ganz Deutschland.

Dem Frauenclub in der Schadowstraße 11 – es war der erste in Deutschland und Lieblingstreff von Augspurg, Cauer und Freundinnenkreis – folgten bald weitere. In der Schadowstraße konnte man essen, lesen, schwatzen, musizieren, abends fanden oft Vorträge und Diskussionen statt, jeden Mittwoch ein Konzert. Der Club war zugleich behagliches Zuhause und Ausgehvergnügen.

1908. Über die Lahmheit, den Zank, die Kleinlichkeit der deutschen Frauenvereine hatte Anita Augspurg sich schon häufiger ausgelassen. Wahrscheinlich war es ihr nur recht, keine Funktion mehr in ihnen innezuhaben – außer in ihrem jüngsten Kind, dem „Stimmrechtsverband“. Nicht einmal für ihre „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“ nahm sie sich noch viel Zeit – es war fast nur noch Heymanns Name, der unter den Artikeln stand. Ihre neuen Freundinnen und politischen Vorbilder waren die englischen Suffragetten, die mit kühnen Aktionen hervortraten und nicht mit quälenden Antragsdebatten und nie erfüllten Petitionen. Und ihr neues Interesse war das Landleben.

Denn das war sie nun: Gutsherrin. Auf einem nicht leichten Gelände. Das Wohnhaus war stark vernachlässigt, Wirtschaftsgebäude und Stallungen verkommen, teilweise baufällig. Das größte Stück Land lag an einem Nordhang, in siebenhundert Metern Höhe – was sollte dort wachsen? Außerdem gehörte ein Moorgebiet zum Hof. Es gab Weideland, das zum Teil sehr morastig war, 43 Kühe, einen Gemüsegarten, der hauptsächlich aus Unkraut bestand, und Hunderte von Obstbäumen, auf denen, wie sich schnell herausstellte, kein Tafelobst wuchs, sondern mickeriges Kleinobst zum Saften. Aber es gab auch einen zauberhaften Blick über das Tal bis zur Alpenkette.

Im Frühjahr 1908 zogen sie mit Pferd und Hunden in den heruntergekommenen „Siglhof“ ein und begannen mit der Renovierung. Mit einer Schar von Leuten und einem Verwalter ließen sie feuchte Wiesen mit Gräben drainieren, kahle Hänge aufforsten, Obstbäume mit edleren Sorten anpflanzen. Da Milchwirtschaft allein nicht rentabel schien, begann Augspurg mit der Schweinezucht – zu Heymanns Entsetzen. Zur Schweinezucht gehörte das Schlachten. Selbst wenn man das blutige Geschäft nicht auf dem Hof erledigen würde – war es denn besser zuzusehen, wie die Tiere zum Schlachthof abgekarrt würden?

Während Augspurg Kontakt zur staatlichen Moorkulturanstalt aufnahm und versuchte, von dort eine Beteiligung beim Kultivieren ihres Geländes zu gewinnen, ging Heymann auf Vortragsreisen. Würzburg, Baden-Baden, Mannheim, Hamburg. Dort traf sie ihre alten Freundinnen von der Föderation und gab auf einem „Mütterabend“ Ratschläge, wie Frauen am besten ihre Kinder aufklären sollten.

Ihre Heimat war nun ihr Bauernhof in Bayern, und ihre Freundinnen lebten in Amerika, England, Frankreich und Ungarn. Im Juni 1908 fuhren die beiden Neu-Bäuerinnen vom Hof in die Welt – nach Amsterdam zum Stimmrechtskongress. Aus dem Stallgeruch und fort von den weiten Wiesen und glucksenden einsamen Mooren ins strahlend erleuchtete, mit Fahnen und Blumen farbenfroh geschmückte, rappelvolle Konzerthaus in Amsterdam, in dem die Musikerin Catharina van Rennes zum Auftakt des Kongresses ihre eigens für diesen Anlass komponierte Festkantate dirigierte — mit einem Militärorchester und mehreren Chören.

Für Augspurg und Heymann war „ihr“ Höhepunkt das Treffen mit den Suffragetten. Die 70-jährige Mrs. Despard, die schon mehrmals im Gefängnis gesessen hatte, berichtete von ihren Erfahrungen. Sie hinterließ tiefen Eindruck, aber auch Verwunderung, denn diese alte Dame mit dem Spitzenhäubchen auf dem weißen Haar und den milden Gesichtszügen war so gar nicht die Megäre, die die Presse gern aus Suffragetten machte.

Da die Suffragetten erzählten, dass sie gleich nach der Heimkehr aus Amsterdam eine gewaltige Massendemonstration planten, fuhren Heymann und Augspurg kurz entschlossen mit nach London. Das wollten sie erleben! 30 Sonderzüge aus allen Teilen Englands, aus Irland und Schottland hatten die Suffragetten organisiert, zwanzig Rednertribünen im Hyde Park bereitgestellt – sie rechneten mit einer Viertelmillion Teilnehmerinnen. Die beiden Deutschen mochten das kaum glauben. Aber als sie am Morgen des 21. Juni in London auf die Straße traten, sahen sie gleich vor ihrer Haustür die ersten Fahnen und Transparente. Alles strömte Richtung Hyde-Park.

An sieben Stellen wollten sich die Frauen sammeln und in sieben Kolonnen aus verschiedenen Richtungen zum Treffpunkt marschieren.

Augspurg und Heymann blieben eine Zeit lang am Straßenrand stehen und sahen die Frauen an sich vorbeiziehen. Von den Bahnhöfen Paddington, Euston und Liverpool Street kamen zu Hunderten, zu Tausenden die Arbeiterinnen, die mit Zügen aus dem Norden und Westen angereist waren, mischten sich unter die Zehntausende, die schon die Straßen füllten, und schwenkten die Fahnen ihrer Städte und Gemeinden und immer wieder die weiß-grün-purpurfarbene Fahne der Suffragetten. Diese Farben bestimmten das Straßenbild: Viele Frauen waren entsprechend angezogen, im weißen Kleid mit grünen und purpurfarbenen Schärpen. Und die Musik! Immer wieder zogen größere oder kleinere Musikgruppen vorbei, spielten ihre Stimmrechtshymnen und andere Lieder aus der Frauenbewegung, und ein vielhundert-stimmiger Chor sang mit.

Wo gab es das in Deutschland, dass Frauen aller Schichten sich zusammentaten? Hier marschierten Bürgerinnen und Ladys, Arbeiterinnen und Intellektuelle, Bürofrauen und Dienstmädchen gemeinsam, ganz junge Mädchen, fast noch Kinder, waren auf den Beinen, Frauen im besten Alter und Großmütter. Besonders auf die Jungen sahen die beiden Deutschen mit Interesse. In Deutschland waren ihre Mitstreiterinnen doch fast alle inzwischen zwischen vierzig und fünfzig, wenn nicht darüber… Sie hatten auch ihre Fahne mitgebracht, mit dem bekannten Bild: der Frau, die vor der aufgehenden Sonne ihre Ketten zerbricht. Mit begeisterten Rufen kam eine Gruppe Frauen auf die beiden zugelaufen und begrüßte sie auf deutsch: Es waren Deutsche, die in London lebten, die „ihre“ Fahne erkannt hatten.

Langsam schob sich der Zug Richtung Hyde-Park. Ganz London, so schien es, war voller Frauen. Und voller Zuschauer, die dicht gedrängt am Straßenrand standen und staunten. Und voller Polizisten, die meisten hoch zu Pferd: Sie bahnten den Frauen den Weg durch die Zuschauermenge und hielten an Kreuzungen die Fahrzeuge zurück: Die „Times“, die der Frauenbewegung eher ablehnend gegenüberstand, schätzte nach der Veranstaltung die Zahl auf 750.000 und gab zu: „Es ist unmöglich, sich irgendeiner Demonstration in England zu erinnern, die sich an Größe vergleichen lässt mit der Menge, die das Frauenstimmrecht am 21. im Hyde-Park versammelte.“

In dem weitläufigen Park hatten die Veranstalterinnen 20 Tribünen für die Rednerinnen errichtet. Alle waren in Hochstimmung, sangen Stimmrechtshymnen. Die beiden Besucherinnen drängten sich durch zu einer Tribüne: Augspurg redete. Sie sprach zu dieser unübersehbaren Menge von Frauen, und die antworteten nicht ganz unisono, aber dafür aus dreiviertel Millionen Kehlen: „Votes for Women!“

Bei der nächsten Gelegenheit, einem Treffen aller Stimmrechtsvereine Deutschlands in Berlin, schlug Augspurg eine solche Demonstration vor. Die Presse kreischte schon, bevor überhaupt etwas beschlossen war, und warnte davor, dass „der Diskant der Straße die Oberstimme führe“, dass diese Frauen, die ohnehin nur Männern die Arbeitsplätze wegnähmen, auf der Straße von Arbeitslosen verprügelt würden. Es wurde dann auch nichts beschlossen. Die Mehrheit der deutschen Stimmrechtlerinnen mochte nicht auf die Straße gehen.

Am sonnigen 31. Juli des Jahres 1914 befanden sich Anita Augspurg und Lida Heymann im Isartal. Sie hatten auf dem Bürgermeisteramt zu tun. Dort herrschte große Aufregung, keiner war ansprechbar, und endlich erfuhren sie, was los war: Der Bürgermeister hatte den Befehl zur Mobilisierung erhalten. Alle militärpflichtigen Männer hatten sich bei ihren Kasernen einzufinden. Die beiden waren wie vor den Kopf gestoßen.

Erst recht nicht hatten sie mit dem gerechnet, was nun geschah: Deutschland geriet in eine regelrechte Kriegseuphorie. Heymann in ihren Erinnerungen: „Es war ein Jubel, ein Taumel, wie die damals lebende Generation ihn überhaupt noch nicht erlebt hatte. Das deutsche Volk, sonst zerrissen, fühlte sich plötzlich wie ein mächtiger Koloss einig. Alle Unterschiede waren ausgeglichen; in den Armen lagen sich Junker und Bauer, Pfaff und Freigeist, Kapitalist und Arbeiter, Presse, Parteien und Bevölkerung. Wer es gewagt hätte, gegen diese Einheit aufzustehen, der wäre überrannt, erdrückt, gelyncht worden.“

Deutschland marschierte. Am 1. August erklärte es Russland den Krieg, zwei Tage später Frankreich und besetzte gegen alles Völkerrecht das neutrale Belgien. Darauftrat England in den Krieg ein. In des Kaisers Erklärung ans Volk hörte sich das so an: „Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand.“ Und sein Volk glaubte es – das war ein Verteidigungskrieg. Dies glaubte auch die geistige Elite. In einem Aufruf „an die Kulturwelt“ versicherten 69 Intellektuelle: „Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat.“

Wer wie Augspurg und Heymann den Krieg als „das größte Verbrechen“ ansah, als „Kulminationspunkt männlicher Raff- und Zerstörungswut“ und nicht als patriotische Großtat, der wurde nun sehr einsam. Die liberale Münchner Kunstszene war über Nacht nicht wiederzuerkennen.

Auf wen sollten Augspurg und Heymann noch zählen? Ausgerechnet in dieser Lage hatten sie keine eigene Zeitung, um gegen den allgemeinen Wahnsinn anzuschreiben. Sie fühlten sich ohnmächtig: „Es waren nur wenige innerlich überzeugte Pazifisten in den ersten Augusttagen 1914, aber diese wenigen litten unmenschliche seelische Qualen. Abgeschnitten von der Welt, durch nichts verbunden mit der eigenen Nation, dem Hohn und Spott ihrer Umgebung preisgegeben, verlassen von Freunden, Bekannten und Verwandten, waren sie einsam, einzeln zerstreut, völlig machttos, ohne jede Bedeutung.“

Auch die Münchener Frauenszene stieß ins nationale Hörn, genau wie die Vorsitzende des „Bundes deutscher Frauenvereine“, Gertrud Bäumer: „Wir Frauen fühlen uns mit aufgenommen in dieses große, ernste Zusammenwachsen aller nationalen Kräfte zu einem großen, gemeinsamen Willen: durch den uns aufgezwungenen Weltkrieg die Macht und Größe unserer Nation zu erhalten.“ Bäumer begann am Tag der Mobilmachung, einen „Nationalen Frauendienst“ zu organisieren, für „vaterländische Aufgaben an der Heimatfront“. Auch die Sozialdemokratinnen riefen zu Hilfsdiensten auf.

In den ersten Augustwochen wurde bekannt, wie brutal deutsche Truppen in Belgien hausten; die halbe Stadt Löwen samt ihrer kostbaren alten Bibliothek hatten sie verwüstet und in Brand gesetzt und Menschen, die sich widersetzten, sofort erschossen. Ohne Kriegserklärung. Aber als Augspurg und Heymann versuchten, ihre Mitglieder zu einem Protest gegen den Einmarsch ins neutrale Belgien zu bewegen, stießen sie auch bei denen auf den allgemeinen Kriegsrausch. Es blieben nur wenige, die sich auflehnten.

Eine davon war Minna Cauer in Berlin – die alte Kampfgefährtin, mit der sie sich über den Stimmrechtsfragen zerstritten hatten und die sich von Augspurg wegen der Zeitung verraten fühlte. Trotz allem gab sie Heymann in ihrer „Frauenbewegung“ Platz für einen Artikel gegen den Krieg. „Recht unter den Völkern – Faustrecht“ erschien Anfang September 1914. Dies war für ganz Deutschland die erste öffentliche Äußerung gegen den Krieg! Man kann sich ausmalen, welcher Mut dazu gehörte.

Lida Heymann schrieb: „Wir Frauen aller Nationen, die wir keinen Teil am Völkerkrieg, an Zerstörungen, Morden und Hinschlachten hatten, wir sind dazu berufen, in Zukunft die Träger wahrer Kultur zu sein. Uns Frauen beseelt kein Völkerhass, wir vergaßen nicht einen Augenblick, was die jetzt kämpfenden Völker einander an höchster geistiger Kultur, an wirtschaftlichem Fortschritt schulden. Das Gefühl von Mensch zu Mensch, gleichviel welcher Nation er angehört, ist in den Frauen um nichts verringert worden. Wir reichen den Frauen aller Nationen, die mit uns gleichen Sinnes sind, die Hand.“

Dies taten sie nicht nur symbolisch. Knapp ein halbes Jahr später reichten wahrhaftig Frauen der verfeindeten Länder einander die Hände. Heymann setzte alles daran, die internationale Zusammenarbeit nicht abreißen zu lassen. Sie war in dieser Zeit aktiver als Augspurg, korrespondierte, schrieb Artikel und versuchte zu organisieren. Sie hatte die Vision, mit ihren politischen Freundinnen aller Länder gemeinsam gegen den Krieg zu protestieren. Und dieser Protest müsste in einem neutralen Land stattfinden. Am besten in der Schweiz.

Zur gleichen Zeit bemühten sich Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, einen Friedenskongress der Sozialistinnen in der Schweiz zu organisieren. Die beiden hatten Mitte September, zusammen mit Karl Liebknecht und Franz Mehring, in ihrer Partei gegen Kriegskredite und Krieg protestiert. Ein Zusammengehen kam für „Bürgerliche“ und „Sozialistinnen“ nicht in Frage – aber der alte Hass war nun begraben. Zetkin schrieb Anfang 1915 in ihrer „Gleichheit“: „In Deutschland treten besonders die Führerinnen in den Vordergrund, die sonst den Kampf für das allgemeine Frauenwahlrecht am energischsten führen.“ Und Cauers Zeitschrift antwortete: „In diesen schweren Zeiten ist es erfreulich, wie ein Teil der Frauenwelt – leider nicht die gesamte – zusammenhält.“

November 1918. Mehrere Träume wurden wahr, für die Augspurg und Heymann lange gekämpft hatten: Der Frieden. Die Republik. Das Wahlrecht für Frauen. Am 7. November rief Kurt Eisner in München die Bayerische Republik aus. Er erklärte das Königshaus und die bisherige Regierung für abgesetzt, das Volk für souverän – und die Frauen für stimmberechtigt. Seit dem 3. November meuterten Marinesoldaten, schlossen sich ganze Regimenter an. Der Krieg war vorüber. Nun kam die Revolution. Sie begann wie ein Jahr zuvor jene in Russland. Meuternde Soldaten und streikende Arbeiter nahmen kampflos eine Stadt nach der anderen ein und bildeten Arbeiter- und Soldatenräte. Im ersten Schock der Überraschung zogen sich die alten Machthaber widerstandslos zurück. Heymann war in Hamburg, dessen Militärbehörde bereits von revoltierenden Matrosen abgesetzt war. Am Telefon hörte sie von einer überglücklichen Anita Augspurg, was in München los war. Sofort beschloss sie, dorthin zu fahren. Vor der Abreise nach München schaffte Heymann es noch, in Hamburg eine riesige Frauenveranstaltung zusammenzubringen, um von der neuen Republik (von welcher auch immer) die Mitarbeit der Frauen einzufordern. In München tat Augspurg das gleiche. Gemeinsam mit Freundin Gertrud Baer und mit Hedwig Kämpfer von der USPD, dem abgespaltenen, pazifistischen Teil der SPD, bereitete sie eine Großveranstaltung von Frauen vor. Die politischen Rechte waren erklärt, nun mussten sie verwirklicht werden. Am 18. November lud ein Bündnis aus Stimmrechtsfrauen, dem „Frauenausschuss für dauernden Frieden“, Gewerkschafterinnen und Sozialistinnen ein, und Hunderte von Frauen kamen. Zum ersten Mal seit 1915 konnten sie wieder öffentlich auftreten. Augspurg begrüßte die Versammlung, und dann sprach Heymann. Sie begrüßte die neue Zeit und die neue Regierung und forderte als Erstes die Gründung von Frauenräten, um das männliche Revolutionstrio von Arbeitern, Soldaten und Bauern zu vervollkommnen. Überall in Staat und Verwaltung müssten Frauen wichtige Stellen einnehmen, auch als Richterinnen. Sie schlug für die Landtagswahl eine Frauenquote auf den Wahllisten aller Parteien vor.

Schon in dieser ersten Rede übte Heymann bereits Kritik an der revolutionären Gewalt — gegen Frauen. Ja, das Volk hatte die Macht ohne Kampf übernommen. Aber es war ein offenes Geheimnis: Auch Soldaten der Republik schreckten nicht vor Vergewaltigung zurück. Ernst Toller beschreibt in „Eine Jugend in Deutschland“, wie er dem Opfer einer Massenvergewaltigung begegnete – die von „Linken“ verübt worden war.

Am nächsten Morgen gingen Augspurg und Heymann zu Kurt Eisner. Sie wollten mitregieren. Sie kannten ihn als Friedenskämpfer aus den Kriegsjahren und schätzten ihn als einen Menschen, der „vom wahren Puls der Menschenliebe erfüllt war“ – so Augspurg, von „Sehnsucht nach Befreiung von jeder Knechtschaft, nach Freiheit und Gerechtigkeit für Mann und Frau“ – so Heymann. Eisner war einverstanden. Augspurg wurde Mitglied im provisorischen Nationalrat, Heymann bekam einen Sitz in der Erziehungskommission.

„Nun begann ein neues Leben! Zurückdenkend erscheinen die folgenden Monate wie ein schöner Traum, so unwahrscheinlich herrlich waren sie. Endlich konnten Frauen aus dem Vollen schaffen. Frauenmitarbeit war auf allen politischen und sozialen Gebieten erwünscht.“ So erinnerte Heymann in den trüben Tagen des Exils die optimistische Zeit.

Schließlich ging es um nichts Geringeres als darum, die Verfassung, die Gesetze, die Prinzipien eines neuen Staates zu erarbeiten. Augspurg und Heymann mussten nicht lange nachdenken. Sie hatten ihre Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten wieder und wieder einem uninteressierten Reichstag vorgelegt: gleiche Rechte für Mann und Frau. Ein besseres Familienrecht. Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern, keine Diskriminierung lediger Mütter, nieder mit dem Paragraphen 218! Frauen in alle Berufe: von der Bürgermeisterin über die Ministerin und Anwältin bis zur Richterin! Frauen an die Börse! Bessere Mädchenschulen!

1919. In Deutschland regierte mehr und mehr der Terror. In ihrer Zeitschrift, der „Frau im Staat“. zog Anilid“ – so das Pseudonym von Ani(ta) und Lid(a) – eine düstere Bilanz der politischen Gewalt: „In geometrischer Progression haben sich die politischen Morde gehäuft. Immer sind es dieselben Methoden. Erst wird eine beispiellose Hetze durch Wort und Schrift gegen bestimmte unbequeme Personen eingeleitet, und dann finden sich, wie von ohngefähr Unverantwortlich‘, die auf irgend einen höheren Befehl den Mordstahl führen.“ 318 Opfer zählten sie, die von Militär und von Reaktionären ermordet wurden – von Eisner und Luxemburg bis Rathenau und Erzberger.

Inflation, Hunger, rechte Gewalt, all dies war inzwischen Münchner Alltag. Wer angeblich jüdisch oder irgendwie ausländisch aussah, den beschimpften und bedrohten Nazis auf der Straße: einen Angestellten der spanischen Botschaft schlugen sie in aller Öffentlichkeit blutig zusammen. Abends wagten sich viele Juden gar nicht mehr aus dem Haus. Pöbeleien, Drohbriefe, Hetzartikel, Nazi-Störer bei allen öffentlichen Auftritten, all dies war Alltag für Augspurg und Heymann. Auf einer Friedensveranstaltung im Januar 1923 begann ein Nazitrupp eine Prügelei und drosch auf die Zuhörer ein, mit Knüppeln und Schlagringen. Einen schlugen sie krankenhausreif. Diesmal beschwerten sich Augspurg und Heymann nicht beim Polizeipräsidenten, sondern gleich beim Innenminister.

Zusammen mit Ellen Ammann vom „Katholischen Frauenverein“, mit Frauen der „Friedensgesellschaft“ und anderer Gruppen machten sie im Februar 1923 Minister Schweyer eineinhalb Stunden lang die Hölle heiß. Regierung und Polizei waren dafür da, Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu sichern und die Bürger vor Gewalt zu schützen — und nicht tatenlos zuzusehen, wie brauner Terror die Straßen beherrschte. Augspurg und Heymann und die anderen Frauen verlangten, dass der Kopf dieses Terrors, der Österreicher Adolf Hitler, aus Bayern ausgewiesen würde.

Minister Schweyer von der Bayerischen Volkspartei wand sich. Ausweisen könne er Hitler nicht – er sei ja kaum ein Ausländer, über den Inn an der bayerischen Grenze gebürtig. Empört fragte Heymann zurück: Was der Minister wohl tun würde, wenn ein Kommunist aus Braunau in München die Massen aufhetzte und zu Gewalttaten aufriefe? Am Ende desselben Jahres versuchte der von Schweyer so sorgsam geschützte Herr Hitler einen Staatsstreich.

Als 1923 der trübe Winter gar nicht enden wollte, als weder Sonne noch politische Hoffnung schien, packten Anita und Lida ihre Rucksäcke und wanderten auf Goethes Spuren den Brenner hinab. Der hieß nun Brennero und war voller italienischer Soldaten. Südtirol gehörte jetzt zu Mussolinis Italien.

Im Juni 1924 fand in Washington das Treffen der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ statt. Die Schiffspassage spendierte die amerikanische Sektion der „Liga“. Augspurg, Heymann und Gertrud Baer fuhren über England und wurden auch dort schon in Frauenclubs, Privathäusern und öffentlichen Sälen herumgereicht zu Vorträgen und Diskussionen. Die englische Liga protestierte öffentlich gegen die Ruhrbesetzung und war begierig, mit den Deutschen darüber zu diskutieren. Die äußerten sich ähnlich wie schon vorher in der „Frau im Staat“, differenziert und kritisch.

Doch beim deutschen Botschafter kam an: Augspurg, Heymann und Baer billigen die Ruhrbesetzung und machen allein die deutschen Industriellen dafür verantwortlich. Jedenfalls teilte einige Tage später in Berlin Außenminister Stresemann der erstaunten deutschen Presse genau diesen „Tatbestand“ mit.

Es erhob sich ein unglaubliches Wutgeheul. Von Berlin bis Köln, von Hamburg bis München tobte die rechts gerichtete Presse: „Ehrlose Weiber“ – „Der Augspurg-Skandal“ – „Wie deutsche Frauen das Vaterland verraten“ – „Jüdisch-pazifistische Frechheit“ – „Der Gipfel der Würdelosigkeit“ – so titelten „Deutsche Tageszeitung“, Berliner „Lokalanzeiger“, „Münchener Zeitung“ und andere Blätter im Februar 1924. Sie sprachen vom „verbrecherischen Treiben dieser drei“, von „Deutschfeindlichkeit“ und „Kriecherei vor dem Feinde“. „Gibt es tatsächlich keine Mittel und Wege, um diese Verbrecherinnen an der weiteren Schädigung der deutschen Reichsinteressen zu hindern?“ Die „Münchener Zeitung“ orakelte: „Die drei könnten bei ihrer Rückkehr einiges erleben, was ihnen nicht angenehm wäre.“ Und riet den drei Frauen, „in Amerika oder sonst, wo der Pfeffer wächst, zu bleiben; denn auf deutschem Boden ist für sie kein Platz mehr.“

Dass für die nationalistische Presse Feministinnen automatisch Jüdinnen waren, gehörte schon zum antisemitischen Alltag. Es wurde so oft geschrieben, dass Augspurg allmählich tatsächlich als Jüdin angesehen wurde – auch bei den Freundinnen. Rosika Schwimmer jedenfalls stellte sie in einem Artikel anlässlich der Amerika-Reise als „one of the most brilliant Jewish women of our age“ vor.

Als Hitler an die Macht kam, waren Augspurg und Heymann auf Mallorca. Sie genossen die Wintersonne während der kalten Jahreszeit, die Mandelblüte, die Gastfreundschaft einer amerikanischen Freundin, die in der Nähe von Palma ein Haus gemietet hatte. Am 22. Januar 1933 hatten sie München verlassen. Anfang Februar erhielten sie die schreckliche Nachricht aus Deutschland.

Sie brachen ihre Reise nicht ab. Im idyllischen Garten, unter den fruchtbeladenen Orangen- und Zitronenbäumen, schrieb Heymann ihren Kommentar. Mit der Druckerei war verabredet, dass sie die Texte für die nächste Nummer der „Frau im Staat“ von unterwegs schicken würden. Heymann versuchte, sich und ihren Leserinnen Mut zu machen: „In Übergangszeiten soll man niemals verzweifeln, sondern man muss mutig über sie hinausschauen. Geschichte lehrt uns, dass Diktaturen nie von sehr langer Dauer sind, weil sie aufgebaut sind auf Gewalt, zu der sich letzten Endes die Furcht gesellt.“ Der Artikel erschien im März – der letzten Nummer der „Frau im Staat“.

Anfang April wollten die beiden ohnehin nach Genf zu einer Konferenz der „Internationalen Frauenliga“. Sie setzten von Algerien nach Italien über. In Genf hörten sie von Gertrud Baer und den anderen Deutschen zum ersten Mal vom Ermächtigungsgesetz, mit dem das Parlament sich selbst aufgegeben und die Diktatur abgesegnet hatte, von der Verhaftungswelle seit dem Reichstagsbrand. Alle Frauenorganisationen waren in die NS-Frauenschaft integriert oder verboten worden, der „Bund“ hatte sich aufgelöst. Die Münchner Zentrale der „Liga“ war von den Nazis verwüstet worden, die Mitarbeiterinnen Emma Machenhauer und Juliana Stollberg verhaftet.

Erika Mann war mit dem gesamten Ensemble ihres Kabaretts „Pfeffermühle“ in Zürich im Exil, auch Gertrud Baer wollte nicht nach Deutschland zurück. Wenn sie nicht schon entschlossen waren, dann wurden Augspurg und Heymann hier von den politischen Freundinnen überzeugt, dass sie im Ausland bleiben mussten. Sie standen ja schon vor zehn Jahren auf der Todesliste der Nazis.

Das Thema der Genfer Konferenz sollte die Abrüstung sein – doch schnell wurde die Lage im Nazi-Deutschland zum Hauptthema. Die Liga veröffentlichte zwei Resolutionen: Die erste forderte die Hitler-Regierung auf, alle politischen Häftlinge aus Gefängnissen und Konzentrationslagern freizulassen. Die zweite forderte, alle Ausnahmegesetze für Juden zurückzunehmen: „Das Verfahren, durch Ausnahmegesetze und Boykott jüdische Staatsbürger zu Bürgern geringerer Ordnung zu stempeln, weil sie einer anderen Rasse angehören, ist keine Herabwürdigung der Juden, sondern des Staates, welcher es anwendet.“ Verglichen mit vielen anderen Emigranten ging es den beiden Freundinnen in der ersten Zeit recht gut. Sie waren ja in der Welt zu Hause, hatten durch die Arbeit in der „Liga“ viele Schweizer Freundinnen und Bekannte, und Heymann war mehrmals im Jahr nach Genf zu Vorstands-Treffen der „Liga“ gefahren. Einige tausend Franken waren noch in der Reisekasse, und Heymanns Schwester gelang es, etwas Geld aus Lidas Vermögen in die Schweiz zu schaffen.

Sie reisten wie immer viel herum, zu „Liga“-Treffen oder zu Freunden nach Genf, Wien, Paris, London und Prag. Und mussten einsehen, dass sich dieses Leben nicht so schnell ändern würde: „Man staunt, dass solche Herrschaft schon über 6 Monate dauern kann, wir fürchten, sie ist noch lange lange nicht beendet. Es ist schauerlich, wie viel verzweifelte, gequälte, zerschundene Menschen es heute in Deutschland gibt. Wäre man jünger, könnte man besser warten. Werden wir noch erleben, dass unsere Ideale, für die wir unser ganzes Leben gekämpft haben, wieder zu Ansehen kommen?“ So schrieben sie an Annette Kolb in deren Pariser Exil.

In Deutschland plünderten die Nazis Vermögen und Grundbesitz von Flüchtlingen und politischen Gegnern. Am 18. September 1934 beschlagnahmte das Land Bayern „aufgrund des Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ sämtlichen Besitz von Augspurg und Heymann. In der Akte, die Heymann betrifft, begründete das Bayerische Staatsministerium des Inneren: Sie „war an der Spitze der extremsten internationalen pazifistischen Frauenbewegung – Frauenliga für Frieden und Freiheit – tätig. Sie befasste sich in Wort und Schrift in der gehässigsten Weise gegen Deutschland“.

Zwei Ziele waren es, um die sich Heymann im Exil mit Leidenschaft bemühte: Verfolgten und Flüchtlingen zu helfen – und die Welt vor den Nazis zu warnen. Sie hatte ja in München die braune Gewalt von nahem erlebt. In „Fax International‘ schrieb sie Ende 1933: „Wer den Faschismus gewähren lässt, beraubt sich selbst der Freiheit. Wer den Faschismus gewähren lässt, lässt zu, dass man selbst mit gebundenen Händen und gestopftem Mund in den nächsten Holocaust getrieben wird. (Sie benutzte tatsächlich dieses Wort, da sie auf Englisch schrieb.) Frauen steht auf: gegen Faschismus und gegen Krieg!“

Schon früh war ihr klar, dass Hitler Krieg bedeutete. 1934 legte sie der „Liga“ ein Papier vor, um diese Gewissheit der Welt mitzuteilen: „Faschismus ist gleichbedeutend mit Krieg. Unter faschistischer Diktatur wird Leib und Seele des Menschen militarisiert, von der Wiege bis zum Grabe auf Gewalt und Krieg gedrillt. Ein Volk, dessen Männer und Frauen so militärisch verseucht sind, muss sich, um überhaupt weiter existieren zu können, kriegerisch betätigen.“

Zu dieser Zeit beteuerte Hitler lauthals seine Friedensliebe. Europa glaubte ihm. Auf „Liga“-Treffen und in Artikeln in „Fax International“ sagte Heymann drastisch ihre Meinung: Der Westen liebte in Hitler den Kommunistenfeind, sah möglicherweise sogar mit klammheimlicher Freude die Verfolgungen der Kommunisten durch Hitler. „Der Faschismus ist das letzte internationale Bollwerk des Kapitalismus. Dieses Bollwerk zu stärken heißt, den Faschismus zu wollen, heißt, dieses System von Terror nach innen und außen zu sichern und zu stärken. Der Kampf gegen den Bolschewismus ist heute das Losungswort jeder Regierung. Das ist die Trumpfkarte, die Hitler in der Hand hält.“

Viele Frauen der „Liga“ wollten sich dieser Sicht nicht anschließen. Zum Verzweifeln war, dass die europäische Öffentlichkeit auch nicht recht zur Kenntnis nahm, dass es in Deutschland Konzentrationslager, politische Häftlinge und Folter gab; dass jeder Pazifist gefährdet war und per Gesetz in Deutschland Juden verfolgt wurden. Warum blieb die internationale Empörung darüber aus?

Man möge das ganze Programm der Verbrechen in Hitlers „Mein Kampf“ nachlesen, forderte Heymann die Öffentlichkeit auf. In „Pax International“ erschien im Herbst 1935 ein vermutlich von ihr und Gertrud Baer initiierter Aufruf: „Im Herzen Europas werden Pogrome veranstaltet, und das zivilisierte Europa schweigt. Das zivilisierte Europa schweigt, weil es Komplize ist. Es ist Komplize, weil es bedeutende Anleihen und Kredite gibt, Waren und Rohstoffe, dadurch zu Deutschlands Aufrüstung und Kriegsmacht beiträgt und also die Terrorherrschaft stärkt und stabilisiert.“ – Wie deprimierend es war, so wenig tun zu können.

1937 wurde Anita Augspurg 80 Jahre alt. Clara Ragaz überreichte ihr ein üppiges Geburtstagsgeschenk: 5.000 Schweizer Franken, gespendet zum Ehrentag von Liga-Freundinnen aus aller Welt. Eine Ehrung ganz anderer Art war eine Nazi-Ausstellung „Frau und Mutter -Lebensquell des Volkes“ in Nürnberg, in der Augspurg an exponierter Stelle erwähnt wurde. Unter der Rubrik „Die Verfallzeit“ erklärte der Begleittext: „Durch das Chaos und die Verwirrung dringen die hetzerischen Reden und Aufrufe von Rosa Luxemburg, von Clara Zetkin, von Anita Augspurg, die auffordern zu allem, was imstande ist, die mütterlich-erhaltende Kraft der Frauen zu zerstören bis auf den Grund.“ Von dieser „Ehrung“ hat Augspurg sicher nichts erfahren.

Ein Jahr später wurde Heymann 70. In „Pax International“ schrieb sie zu diesem Tag: „Ich habe erlebt, dass es nichts Heiteres ist, in einer politisch so düsteren Zeit wie der unseren alt zu werden, besonders für eine aktive Person, die sich ihr ganzes Leben lang für Gleichheit, Freiheit für alle und für Frieden eingesetzt hat, und die jetzt in der Emigration keine Möglichkeit mehr hat, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen.“

1938 wurde das Jahr voller Schrecken. Die Emigranten in der Schweiz mussten erleben, wie Hitler in Österreich einmarschierte, ohne dass die europäischen Nachbarn Einspruch erhoben, wie sie ihm Böhmen geradezu schenkten, wie sie zusahen, als Hitler im November im ganzen Reich Judenpogrome inszenierte, „die alles an Grausamkeiten und Scheußlichkeiten von Plünderungen, Morden und Folterungen seit 1933 überstiegen“, schrieb Heymann rückblickend.

1941. Die Pazifistin, die immer für gewaltlosen Widerstand plädiert hatte, rief nun die amerikanischen „Liga-Frauen“ dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass ihr Land in den Krieg gegen Hitler eintrete: „Wir wissen, dass die Gewaltmethoden des Faschismus und Nationalsozialismus durch pazifistische Mittel heute nicht mehr zu überwinden sind. Faschismus und Nationalismus sind heute nur durch Mittel zu vernichten, die den Gewaltmenschen des Faschismus und Nationalismus imponieren, und das ist nur Gewalt.“ Eine ohnmächtige Stimme…

„Häufig überkam uns die Empfindung, als hätten wir uns selbst überlebt, als wären wir lebend bereits gestorben, scheintot: schauerlicher Zustand! Das vegetierende Dämmerdasein und das Erleben des Niederganges aller Menschenwürde waren das Härteste unserer Verbannung, es steigerte sich zur Unerträglichkeit.“ So lauten mit die letzten Worte von Lida Heymann in ihren Lebenserinnerungen.
Anna Dünnebier/Ursula Scheu

(Auszug aus: Anna Dünnebier, Ursula Scheu: Die Rebellion ist eine Frau. Anita Augspurg und Lida G. Heymann. Das schillernste Paar der Frauenbewegung. Hugendubel 2002.)

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