Alice Schwarzer: Beitrag für Konkret

Alice Schwarzer, 1974

Die Front ist breit. Seit Wochen zelebriert eine männerdominierte Presse, wie man aus deinem Mord-Prozeß einen Lesben-Prozeß macht. Marion Ihns und Judy Andersen, die beiden jungen Frauen, über die in Itzehoe das gesunde Volksempfinden zu Gericht sitzt, haben sich, so scheint’s, weniger des Mordes und mehr ihrer Liebe zueinander schuldig gemacht: „Liebe und Haß der lesbischen Frauen“ undsoweiter undsofort. Kein Zweifel, das mußte so enden. ‚Die Moral von der Geschicht‘ ist: Wer lesbisch ist, der wird auch kriminell. Denn „wenn Frauen nur Frauen lieben, kommt es oft zu einem Verbrechen“.

Nun ist das mit Bild besonders einfach, weil besonders derb. Doch in diesem Fall unterscheidet sich die sogenannte seriöse Presse von der Boulevard-Presse oft nur durch die Größe der Druckbuchstaben und die Subtilität. Nicht Inhaltlichem wurde nachgespürt, bestenfalls Formaljuristisches – wie zum Beispiel die in der Tat ungewöhnliche Fotografiererlaubnis – wurde gerügt. Aber da, wo es um Tat und Täterinnen geht, tönt das Halali quer durch alle Gazetten: gejagt werden Frauen, die Frauen lieben, gewarnt werden Frauen, die die Absicht haben könnten.

Wobei das Ausmaß der Reaktion gerade jetzt sicherlich kein Zufall ist. In einem Augenblick, in dem eine „neue Zärtlichkeit“ das bisher fast ausschließliche Männermonopol auf Frauenliebe und -sexualität zu erschüttern beginnt, wird am Itzehoer Prozeß exemplarisch demonstriert, wie Erpressung und Drill auf den Mann an die Frau gebracht werden sollen. Verständlich. Steht doch nicht nur der Mann als „begehrteste Ware“ (Hans Habe), als alleiniger Beglücker der Frauen und Oberhaupt der Familie auf dem Spiel; sondern geht es auch um seine Privilegien, die er in einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer Opfer, aber die Frauen in Bett, Küche und Büro noch Opfer der Opfer sind, als mann nun mal hat.

Darum: wenn schon leidenschaftlich lesbisch, dann wenigstens mit „männlichem“ und „weiblichen“ Part. So scheint die Welt der zwei sich an so ergänzenden Hälften wieder komplett. Das sieht dann so aus: da gibt es eine, Judy, die ist der Kerl. Kranführerin, schon von der „körperlichen Konstitution her“ (!) zum Lesbischsein bestimmt, mit „männlich“ kurzem Haar, Lederkleidung, flachem Busen und „zwergenhaftem Mopsgesicht“. Die wird – so Marion laut ‚Bild‘ zu Judy – „für unsere Tochter ein guter Papi sein“.

Die andere, Marion, ist das verführte Weib. Die Vollbusige, Langhaarige, die sich ein Kleid in der Zelle häkelt und den Rosenkranz gern dabei hat. Sie scheint den Berichterstattern noch zu retten für die Männerwelt – obwohl gerade sie sich nie hat retten können vor den Männern. Mit neun Jahren zum ersten Mal vergewaltigt, ein Leben lang von Männern benutzt und erniedrigt, erpresserisch geschwängert, fortsetzend das Leiden ihrer Mutter, einer Näherin, die für ihre vier Kinder „anschaffen“ ging, ließ sie sich – im Unterschied zu Judy, erstmals vierjährig vergewaltigt (!) – zunächst mit Männern ein.

Was sollen wir aus diesen Lebensläufen schließen? Erstens, daß das Leben diesen beiden Frauen ungewöhnlich mitspielte; und zweitens, daß nur diese Ausnahmesituation die Frau auf die Frau bringen konnte. Beides ist falsch. Es handelt sich hier zwar im negativen Sinne um ganz besonders typische Frauenleben, nicht aber um Ausnahmen. Abhängigkeit, Ratlosigkeit, Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaft und Abtreibung sind in einem Frauenleben durchaus die Regel. Statistiken aus Amerika lassen zum Beispiel vermuten, daß mindestens jede zweite Frau schon einmal vergewaltigt wurde – die eheliche sanktionierte Vergewaltigung nicht mitgerechnet (Bild über das Opfer, Herrn Ihns.“…auch seine häufigen Trinkereien werden plötzlich verständlich. Er mußte sich einen Rausch antrinken, um sich mit Gewalt holen zu können, was ihm von „Rechts wegen“ zustand.“).

Da wird wenig nach Tatmotiven gefragt. In welchen sozialen Abhängigkeiten und ökonomischen Zwängen muß ein Mensch sein, um nicht einfach fortgehen zu können, sondern zu glauben, den Tod bestellen zu müssen? Marion Ihns, 36, ohne Beruf und Selbstbewußtsein, Mutter und Gefangene der engen Welt des Gemüseladens von Herrn Ihns. Ihr Verhältnis mit Judy war nach all den Erniedrigungen ihre erste menschliche Beziehung überhaupt.

Im Gerichtssaal selbst wird das Ausmaß des Dramas vollends klar. Am sechsten Verhandlungstag z.B. werden Briefe von Marion an Judy verlesen, beschlagnahmt von der Polizei. Briefe, die Zeugnis ablegen von ihrer tiefen Zuneigung und Verzweiflung („jedesmal, wenn du anrufst, kehrt Leben in mich zurück.“). Ein Brief. Zwei Briefe. Drei.Vier. Fünf. Seitenlang. Darin nur einmal eine Anspielung, die interpretiert werden könnte als bereits gefaßte Tötungsabsicht. Die Tatsache und die Art des öffentlichen Vertrages durch den Beisitzer (glaubeanmichpunktgeliebteausrufungszeichenauchwieichandichglaubepunkt-deinemaus“) machen das Drama zur Klamotte. Und niemand schreitet ein. Die Anwälte schon gar nicht.
Dann der Richter. Herr Selbmann, der seinen Giese gelesen hat, und dessen fast rührend-naive Liberalität bei dieser Hatz im höchsten Maße unangebracht, ist. Er spielt normal, wo nichts normal ist, und macht damit das Spektakel in diesem Ausmaß überhaupt erst möglich. Und die Geschworenen. Bis auf eine Frau ausschließlich Männer, die allesamt die Väter der Angeklagten sein könnten und moralisch – darf man ihren schwer und ehrbar gefurchten schleswigholsteiner Gesichtern glauben – ihre Urgroßväter sind. Davor die Presse. „Bild“ an diesem Tag auf einem Sonderstuhl, der fast vor dem Richtertisch steht, und von dem aus der Bild-Reporter Judy und Marion aus anderthalb Meter Entfernung voll ins Gesicht sehen kann. Dahinter die etwa hundert Zuhörer(innen). Meist selbstgefällige ältere Damen, die sich Generationen von der gelebten Leidenschaft und aufgedeckten Tragik der Frauen jenseits der Barriere entfernt glauben.

Darin Judy Andersen und Marion Ihns – allein. Zwischen ihnen die Anwälte, die Lichtjahre von der Problematik trennen. Seit Beginn des Prozesses, vom Quick-Exklusiv-Bericht der Frau Ihns (20.000 Mark soll sie dafür bekommen haben – vielleicht gerade die Anwaltskosten) über die Hinnahme des Fotografierens bis hin zum Akzeptieren ausschließlich männlicher Gutachter sind die Angeklagten denkbar schlecht beraten. Diese biederen Familienväter finden das Presseecho „ganz in Ordnung“. „Die Tatsache, daß die beiden ein lesbisches Verhältnis haben,“ ist für Judys Pflichtverteidiger Dr. Vaagt beim Gespräch zwischen Tür und Angel ein „Tatmotiv“. Ansonsten ist er ratlos: Lesbische hat er noch nie verteidigt… Ihns-Verteidiger Dr. Sayk aus Itzehoe weiß auch nicht so recht, wie weit weibliche Homosexualität „anormal“ ist, das ist für ihn eine „medizinische Frage“ (keine soziale und kulturelle), die „hoffentlich von den Gutachtern beantwortet wird“. Dann wisse man ja, was man davon zu halten habe. – Während in den Verhandlungspausen Pressevertreter ungestört mit den Angeklagten reden (!), plaudern deren Anwälte miteinander.

Es liegt auf der Hand: die Dimensionen dieses Prozesses sprengen Itzehoer Verhältnisse. Tragisch daran ist vor allem, daß sich dieses Überfordertsein ungünstig für die Angeklagten auswirkt.

Sicher, alle Angeklagten sind, unabhängig vom Geschlecht, in dieser unserer Justiz meist hilflos ausgeliefert – wenn sie nicht gerade privilegiert sind. Die Duldsamkeit jedoch, mit der diese beiden Frauen den Zynismus und die Ignoranz aller Beteiligten über sich ergehen lassen, hat ohne Zweifel etwas mit ihrer „Weiblichkeit“ zu tun. Es ist diese Anerzogene, selbe Unsicherheit, mit der einst Marion Ihns in ihren Liebesbriefen an Judy Andersen immer wieder an deren Liebe zweifelte. Sie, Marion, konnte sich kaum vorstellen, es wert zu sein, geliebt zu werden.

Das heimliche, individuelle Ausscheren hat die beiden Frauen weder für diese Hatz gewappnet, noch für die Solidarität. Vermutlich waren sie überrascht, als vorletzte Woche im Gerichtssaal zwei Dutzend junge Frauen, angereist aus Frankfurt, Hamburg und Berlin, plötzlich hochsprangen, sich mit bemalten T-Shirts zum lebenden Transparent formierten – „Gegen geile Presse – für lesbische Liebe“ – und dazu riefen „Lesbische Liebe ist schön!“. Die Frauen auf der Anglagebank haben zu lange gehört, daß die gar nicht schönen Folgen ihrer Liebe eben daran liegen, daß es sich um eine lesbische handelt. Und so ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, daß Frau Ihns in „Quick“ jetzt alle Frauen reuig vor „Lesbierinnen warnt“.

Dennoch hat sich etwas getan. Die Brühne-Hatz zum Beispiel, die im Klima dem Itzehoer Prozeß so unähnlich nicht ist, konnte noch ohne jegliche Gegenreaktion aus der Bevölkerung über die Bühne gehen.

Inzwischen aber hat sich das Bewußtsein verändert. Heute protestieren auch Journalistinnen (144 plus 44 männliche Kollegen) „gegen eine Berichterstattung, die aus Gründen übler Geschäftemacherei Emotionen ausschlachtet und Vorurteile zementiert. Dies ist eine Verteufelung lesbischer Liebe und eine Herabwürdigung der Frauen allgemein. Wir fordern den Deutschen Presserat auf, die Publikationen des Springer-Verlages, insbesondere die Bild-Zeitung, die Berliner Tageszeitung ‚Der Abend‘ und die Illustrierte ‚Quick‘ für ihre Sensationsberichterstattung zu rügen.“ Der Presserat reagierte und mißbilligte die „unangemessen sensationelle Berichterstattung“.

Daß Frauen nicht lesbisch sein müssen, um so behandelt zu werden, das schlichtes Frausein genügt, beweist auch Professor Elisabeth Trube-Becker aus Düsseldorf in einer ersten BRD-Untersuchung über „Frauen als Möderinnen“. Sie stellt fest: Frauen werden für gleiche Taten härter bestraft als Männer und kommen auch im Strafvollzug schlechter weg. Männer werden systematisch früher begnadigt. Auch fördert – anders als bei Männern – die Ehe die Kriminalität der Frauen: ihre Opfer sind meist Ehemann oder Kinder. (Müssen wir daraus, frei nach Bild, schließen: Wenn Frauen Männer lieben, kommt es oft zum Verbrechen? ).

Wie das hingegen bei einem Mann tönt, der seine Frau umbringt, mag ein wahllos herausgegriffenes Beispiel aus diesem Jahr illustrieren. So berichtet der Berliner Tagesspiegel über einen 26jährigen Berliner, der seine Frau erwürgt hat: „Im Prozeß wiederholte er, daß er von der Frau, bei der später ein Blutalkohol von rund 2,4 Promille ermittelt worden war, durch neue Sticheleien in seiner Mannesehre auf das Schwerste gekränkt und gereizt worden sei. In der einjährigen Ehe hatte er in seinem Bemühen, die, Frau vom Alkohol und von Liebesaffären abzuhalten, nur Enttäuschungen erlebt. Die lange aufgestauten Affekte hätten sich schließlich, so hieß es in dem psychiatrischen Gutachten, in einem Affektsturm entladen. Auch der Staatsanwalt äußerte die Überzeugung, bei dem zutiefst gekränkten Mann seien „alle Sicherungen durchgebrannt“. Er ließ die Totschlagsanklage fallen und beantragte zwei Jahre Freiheitsstrafe mit Bewährung wegen Körperverletzung mit Todesfolge“.

Mit Sicherheit wird ein Begriff wie „Frauenehre“ in Itzehoe nicht fallen, denn den gibt es gar nicht. Frau Ihns hat vergewaltigt und geschlagen werden können – Herr Ihns wird weiter als besonders netter Mann geschildert. Denn das liebste Opfer dieser Justiz ist im Zweifelsfalle immer der Mann, ihr liebstes Luder ist die Frau – egal, ob es sich dabei um die Mörderin oder die Ermordete handelt.

Wie immer die Hatz auch ausgehen mag – mit lebenslänglich oder mit ein paar Jahren weniger wegen „Abhängigkeiten“ der einen von der anderen – eines ist schon jetzt erlegt: die Beziehung der beiden Frauen. Sie wurden zehn Tage nach der Tat verhaftet und schrieben sich in den ersten Wochen im Untersuchungsgefängnis weiter innige Liebesbriefe. Heute aber scheinen sie sich nur noch zu hassen. Sie verletzen sich gegenseitig, wo sie nur können. Jede versucht, auf Kosten der anderen den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Diese Zerstörung ihrer Zuneigung ist zweifellos ein Resultat der Vernehmungs- und der „Verteidigungs“ – Taktik.

So wurde das, was die bestallten und die unbestallten Richter an diesem Fall am meisten erregt – nämlich ihr, der Männer Ausschluß aus einer Frauenbeziehung – noch vor dem Urteil verdammt.

Um es mit Böll zu sagen: Die verlorene Liebe der Judy Andersen und Marion Ihns.

Quelle: Originalmanuskript von Alice Schwarzer. Der Beitrag erschien in gekürzter Fassung im November 1974 in der Zeitschrift Konkret unter dem Titel Im Namen des gesunden Volksempfindens (FMT-Signatur: ST.15-a / Objekt Nr. 67913).

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