(1864–1943)
„Sind wird Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir das doch mit gutem Recht.“
Die deutsche Frauenrechtlerin, Medizinerin, Juristin und Publizistin gilt als eine der wenigen offen lesbisch lebenden Frauen und bedeutendste Homosexuellen-Aktivistin der Historischen Frauenbewegung. Während die meisten ihrer Kampfgefährtinnen des radikalen Flügels keine offene Parteinahme für die – teils selbst gelebte – Frauenliebe wagten, engagierte sich Johanna Elberskirchen im ‚Wissenschaftlich-Humanitären Komitee’ des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld und in der ‚Weltliga für Sexualreform’ für die Rechte homosexueller Frauen und Männer: „Man gebe dem Homosexualen, was ihm gehört: seinen vollen Menschheitsrang.“
Johanna Elberskirchen wird am 11. April 1864 in Bonn geboren. Ihr Vater Martin ist Kaufmann, ihre Mutter Julia ist im Haushalt für die insgesamt fünf Geschwister – ein älterer Bruder, drei jüngere Schwestern – zuständig. Johanna wird Buchhalterin, „emancipiert sich“ aber im Alter von 27 Jahren „aus dieser Tretmühle“ und geht in die Schweiz, wo das Frauenstudium, anders als in Deutschland, bereits zugelassen ist. Sie studiert Medizin und schreibt sich später auch für Jura ein, „um der Frauenwelt später mit einem wohl diplomierten Doctor juris mehr dienen zu können“.
Kurz vor der Jahrhundertwende beginnt Johanna Elberskirchen – zunächst unter dem männlichen Pseudonym Hans Carolan – zu publizieren: 1896 erscheint ‚Die Prostitution des Mannes’, im Jahresabstand folgen ‚Socialdemokratie und sexuelle Anarchie’ und ‚Das Weib, die Klerikalen und die Christsozialen’. Die Sozialdemokratin (die später wegen ihrer Mitgliedschaft in einem Frauenstimmrechtsverein aus der SPD ausgeschlossen werden wird) wendet sich entschieden gegen die linke Theorie der Frauenfrage als „Nebenwiderspruch“: „Die Socialdemokratie bilde sich nicht ein, dass die Überwindung des ökonomischen Kapitalismus die Menschheit von allem Übel erlöst. (…) Die tiefsten Wurzeln liegen im Sexus. Der ökonomische Kapitalismus hat den sexuellen Kapitalismus gefördert und unterstützt.“ Klar ordnet sich Johanna Elberskirchen dem radikalen Flügel zu: „Die Frauenbewegung muss alle Rechte für alle Frauen verlangen, sie ist eo ipso radikal oder sie ist es nicht!“
Man gebe dem Homosexualen, was ihm gehört: seinen vollen Menschheitsrang.
1904 veröffentlicht Elberskirchen, die mit ihrer Lebensgefährtin Anna Eysoldt wieder in Bonn lebt, ihr erstes Buch zum Thema Homosexualität: ‚Die Liebe des dritten Geschlechts. Homosexualität, eine bisexuelle Varietät – keine Entartung, keine Schuld’. Sie erklärt: „Ich protestiere dagegen, dass der Homosexuale eo ipso als Psychopath, als entartetes, demoralisiertes, minderwertiges Subjekt gebrandmarkt wird.“ Und fordert: „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch!“
In der Tat gibt es einige Paare unter den „Frauen der Emanzipation“ – wie zum Beispiel Anita Augspurg & Lida Gustava Heymann, Käthe Schirmacher & Karla Schleker oder Helene Lange & Gertrud Bäumer –, die meisten jedoch ziehen es vor, über ihr Privatleben zu schweigen und ihr politisches Engagement auf die klassischen Themen der Frauenbewegung zu beschränken. Sie befürchten, den Gegnern der Frauenbewegung noch mehr Angriffsfläche zu bieten. Denn diese versuchen, das Streben der Frauen nach Gleichberechtigung als „unnatürlich“ und „pervers“, als „Symptom krankhaften Mannweibtums“ zu diffamieren.
Die Frauenbewegung muss alle Rechte für alle Frauen verlangen, sie ist eo ipso radikal oder sie ist es nicht!
Auch im Wissenschaftlich-Humanitären Komitee (WHK) von Magnus Hirschfeld, der die Theorie der Homosexualität als ‚Drittes Geschlecht’ entwickelt hat, bleibt Johanna Elberskirchen eine Exotin: Im WHK sind überwiegend einflussreiche Männer organisiert und Frauen in der Minderheit. Ab 1928 referiert Elberskirchen bei den Kongressen der ‚Weltliga für Sexualreform’ in Kopenhagen, London und Wien und wird international bekannt.
Ab 1920 lebt Elberskirchen, die nun auch zu medizinischen Themen veröffentlicht, mit ihrer neuen Lebensgefährtin Hilde Moniac und zwei ihrer Schwestern in Berlin-Rüdersdorf, wo sie eine homöopathische Praxis eröffnet.
Nach der Machtergreifung 1933 erhält Elberskirchen Berufsverbot, da weibliche Ärzte nur noch eingeschränkt praktizieren dürfen. Auch Hilde Moniac fällt als Lehrerin und Beamtin unter das Berufsverbot der Nationalsozialisten für Frauen bestimmter Berufsgruppen. 1938 wird Elberskirchens ‚Die Liebe des dritten Geschlechts’ auf die ‚Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums’ gesetzt. Dennoch bleibt das Frauenpaar – vermutlich aufgrund eines gut funktionierenden Netzwerks von UnterstützerInnen – weitgehend unbehelligt. Johanna Elberskirchen stirbt am 17. Mai 1943 in Rüdersdorf.
Johanna Elberskirchen wird erst in den 1980ern von der Neuen Frauenbewegung und noch später von der Homosexuellenforschung wiederentdeckt. Im Jahr 2002 wird bekannt, dass ihre Urne 1975 auf dem Rüdersdorfer Friedhof von zwei Frauen heimlich in das Grab ihrer Lebensgefährtin Hilde Moniac umgebettet wurde. Die Gemeindevertretung beschließt, das Grab des Frauenpaares unter Schutz zu stellen, erklärt es zum Ehrengrab und finanziert zwei Gedenktafeln. Am 23. August 2003 findet auf dem Friedhof eine offizielle Gedenkfeier für Johanna Elberskirchen und Hilde Moniac statt.
Biografie chronologisch
11.4.1864
Johanna Elberskirchen wird in Bonn als Tochter von Julia und Martin Elberskirchen geboren. Sie ist das zweite von fünf Geschwistern.
1884
Elberskirchen beginnt ihre siebenjährige Tätigkeit als Buchhalterin im westfälischen Städtchen Rinteln.
1891-1895
Elberskirchen geht zum Studium der Medizin und Philosophie in die Schweiz.
1896
Erste Texte von Elberskirchen erscheinen (teilweise unter dem männlichen Pseudonym Hans Carolan), darunter ‚Die Prostitution des Mannes’ (1896), ‚Socialdemocratie und sexuelle Anarchie’ (1897) und ‚Das Weib, die Klerikalen und die Christlichsocialen’ (1898).
1897
Sie wechselt an die Universität Bern, um dort Jura zu studieren. Im selben Jahr gründet der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in Berlin das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee.
1901
Mit ihrer Lebensgefährtin Anna Eysoldt zieht Elberskirchen zurück ins Rheinland.
1903
Elberskirchen beginnt, zu sexualwissenschaftlichen Themen zu veröffentlichen. Zunächst erscheint ‚Die Sexualempfindung bei Weib und Mann’, 1904 folgt ihr Buch ‚Die Liebe des dritten Geschlechts’, in dem sie sich gegen die vorherrschende Betrachtung von Homosexualität als ‚Krankheit’ und ‚Entartung’ wendet.
1905
Elberskirchen wird Herausgeberin der Zeitschrift ,Kinderheil : Zeitschrift zur leiblichen und geistigen Gesundung und Gesunderhaltung der Kinder'. Zum Teil gemeinsam mit Anna Eysoldt publiziert sie weitere Texte zu gesundheitlichen Themen.
1909
Elberskirchen wird Vorstandsmitglied im ‚Deutschen Verband für Frauenstimmrecht'.
1913
Elberskirchens Lebensgefährtin Anna Eysoldt stirbt.
1914
Elberskirchen wird Mitglied im Wissenschaftlich-Humanitären Komitee. Ab 1915 lebt sie in Berlin, wo sie in der Säuglingsfürsorge arbeitet.
1920
Gemeinsam mit ihrer neuen Lebensgefährtin Hilde Moniac kauft und bezieht Johanna Elberskirchen ein Haus in Berlin-Rüdersdorf, wo sie eine homöopathische Praxis eröffnet.
1928-1930
Elberskirchen referiert auf den internationalen Kongressen der ‚Weltliga für Sexualreform' in Kopenhagen, London und Wien.
1933
Nach der Machtergreifung fällt Johanna Elberskirchen unter das Berufsverbot für weibliche Mediziner und darf nur noch eingeschränkt praktizieren.
1938
Das Buch ‚Die Liebe des dritten Geschlechts : Homosexualität, eine bisexuelle Varietät ; keine Entartung – keine Schuld’ wird auf die ‚Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums’ gesetzt.
17.5.1943
Johanna Elberskirchen stirbt in Berlin-Rüdersdorf.
Textauszüge
Die Stellung der Frau zur Kunst und zum - Mann
Die Stellung der Frau zur Kunst und zum - Mann
Gedanken bei der Lektüre eines im heiligen römischen Reich deutscher Nation konfiszierten Buches von * * *
Johanna Elberskirchen, 1888
Gewisse ästhetische Theetischler stellen folgende Paradoxe als unantastbare Dogmen auf: › mehr
Die Sexualempfindung bei Weib und Mann
Die Sexualempfindung bei Weib und Mann
Johanna Elberskirchen, ca. 1903/1904
Es ist merkwürdig, aber es ist Tatsache: die Behauptung, die Sexualempfindung des Mannes sei qualitativ von der des Weibes verschieden, wird nicht nur von Männern aufgestellt und verfochten, welche dieselbe zur Sanktion ihres ausschweifenden Geschlechtslebens bedürfen, sondern auch von Männern der Wissenschaft. › mehr
Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht?
Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht?
Revolution und Erlösung des Weibes
Johanna Elberskirchen, 1904
Was ist Homosexualität?
I.
In der wissenschaftlichen, präziser in der naturwissenschaftlich-medizinischen Welt besteht eine Strömung, welche die Emanzipation der Frau auf eine sexuelle Entartung der Frau, auf sexuell annormale Individuen - auf homosexuale Individuen zurückführen will. › mehr
Artikel über Johanna Elberskirchen
Urnenfund im Pferdestall oder: ein Ehrengrab für zwei lesbische Frauen bei Berlin
Urnenfund im Pferdestall oder: ein Ehrengrab für zwei lesbische Frauen bei Berlin
Christiane Leidinger, 2003
„Die Urne von Frau Elberskirchen liegt im Grab von Frau Moniac." Ich versuche ruhig zu bleiben und lächle meine Zeitzeugin erwartungsvoll an. Okay: Die nächste Tram fährt auch ohne mich. Was sie mir dann - zunächst - unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter erzählte, wäre eine nette Story für einen historischen Lesbenkriminalroman [...] › mehr
Literaturhinweise
Primärliteratur
Elberskirchen, Johanna (1896): Die Prostitution des Mannes : auch eine Bergpredigt - auch eine Frauenlektüre. - Zürich : Verl. Magazin Schabelitz, 31 S.
Elberskirchen, Johanna (1898): Das Weib, die Klerikalen und die Christlichsocialen. - Zürich : Verl. Magazin Schabelitz, 37 S.
Elberskirchen, Johanna (1903): Feminismus und Wissenschaft. - Leipzig : Magazin-Verl., 22 S.
Elberskirchen, Johanna [ca. 1903/1904]: Die Sexualempfindung bei Weib und Mann: betrachtet vom physiologisch-soziologischen Standpunkte. - Leipzig : Magazin-Verl., 56 S.
Elberskirchen, Johanna (1904): Die Liebe des dritten Geschlechts : Homosexualität, eine bisexuelle Varietät ; keine Entartung - keine Schuld. - Leipzig : Spohr, 39 S.
Elberskirchen, Johanna [1904]: Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht? : Revolution und Erlösung des Weibes ; eine Abrechnung mit dem Mann - ein Wegweiser in die Zukunft! - [Berlin [u.a.]] : Magazin-Verl., 115 S.
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen von Johanna Elberskirchen als Autorin oder Herausgeberin: PDF-Download
Digitalisierte Werke finden sich in der Digitalen Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums
Sekundärliteratur
Leidinger, Christiane (2008): Keine Tochter aus gutem Hause : Johanna Elberskirchen (1864-1943). Konstanz : UVK, 479 S.
Leidinger, Christiane (2001): Johanna Elberskirchen und ihre Rüderdorfer Zeit 1920-1943 : eine erste Skizze. - In: Forum : Homosexualität und Literatur, Jg. 39, S. 79 - 106
Oellers, Norbert (1992): Die Bonner Schriftstellerin Johanna Elberskirchen - von der Zeit verschluckt? - In: Bonn und das Rheinland : Beiträge zur Geschichte und Kultur einer Religion ; Festschrift zum 65. Geburtstag von Dietrich Höroldt. - Rey, Manfred van [Hrsg.] ; Schloßmacher, Norbert [Hrsg.]. Bonn : Bouvier, S. 527 - 544
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen, die Johanna Elberskirchen zum Thema haben (nach Jahr absteigend sortiert): PDF-Download
Internet
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