Für die einen ist sie „das älteste Gewerbe der Welt“ – für die anderen ein Verstoß gegen die Menschenwürde, der genauso zu bekämpfen ist wie die Sklaverei (sie nennen die Prostitution in den angelsächsischen Ländern ‚White Slavery‘). Im Namen des Feminismus wird die Prostitution seit Beginn der Neuen Frauenbewegung kontrovers diskutiert: Autonome Feministinnen wie Simone de Beauvoir, Kate Millett oder Alice Schwarzer kritisieren das ‚System Prostitution‘ und die Behandlung der Frau als Ware als menschenunwürdig und solidarisieren sich gleichzeitig mit den Prostituierten. Linke Feministinnen vertreten häufig den Standpunkt, Prostituierte entschieden sich in der Regel ‚freiwillig‘ für diese Tätigkeit. Für sie ist ‚Prostitution ein Beruf wie jeder andere‘. Die Kontroverse tobt in ungeminderter Heftigkeit bis heute.
1971
Feministinnen in den USA veranstalten im Dezember in New York City die weltweit erste Konferenz über Prostitution. Daran nehmen auch nicht eingeladene Prostituierte teil, es kommt zur Debatte über konträre Positionen zur Abschaffung der Prostitution.1 Während ein Teil der Feministinnen Prostitution als Ausdruck des Objektstatus der Frauen und unbegrenzten männlichen Zugriffs auf den ständig verfügbaren Frauenkörper betrachten und deren Abschaffung fordern, bezeichnet ein anderer Teil Prostitution als Ausdruck sexueller Freiheit und betont die ,Freiwilligkeit‘ der Entscheidung für die Prostitution. Dieser Grundkonflikt wird sich in den kommenden Jahrzehnten durch die gesamte Debatte ziehen.
1972
Die Soziologin Dorothea Röhr von der Psychosomatischen Klinik der Universität Gießen veröffentlicht eine Studie zu Werdegang, Selbsteinschätzung und Alltag von achtundneunzig Prostituierten, die sie 1969 in Frankfurt interviewt hatte.2
Der Spiegel berichtet in seiner Ausgabe 42/1972 ausführlich über die Ergebnisse: Die interviewten Frauen haben demnach mehrheitlich eine „denkbar ungünstige Kindheit“, üben ihre Tätigkeit nicht gerne aus, beharren aber darauf, sie freiwillig auszuüben. Die Soziologin beschreibt die Befragten als „Opfer und zugleich Akteure“.3
1973
Von Kate Millett erscheint Das verkaufte Geschlecht: Die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution (im Original Prostitution: A Quartett for Female Voices, 1971). Millett: „Ich sehe in der Prostitution so etwas wie ein Paradigma: ein Exempel für die soziale Situation der Frau, wie sie im Grunde besteht. Hier wird nicht nur ihre Abhängigkeit offenbar, verknüpft mit den finanziellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, in Ziffern und Zahlen fixiert, statt versteckt hinter Paragraphen eines Heiratsvertrags […] ja durch den bloßen Akt der Prostitution wird unser Wert deklariert: als Wert einer Sache. Was die Prostituierte in Wahrheit verkauft, ist nicht Sex, sondern ihre Entwürdigung. Und der Käufer, der Kunde, kauft nicht Sexualität, sondern Macht: die Macht über einen anderen Menschen. […] Der bloße Umstand, dass dies möglich ist, zeigt das Verhältnis zwischen der Position des Mannes und der Frau.“4
24. November 1973
Im Zuge der Reform des Sexualstrafrechts wird auch der Straftatbestand der Zuhälterei neu gefasst. Bis dato machte sich der Zuhälterei schuldig, wer von einer Prostituierten „ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bezieht“ oder wer einer Frau „gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz in Bezug auf die Ausübung des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder sonst förderlich ist“. Nach der Reform gilt als zu bestrafender Zuhälter nur noch, wer „einen anderen, der der Prostitution nachgeht, ausbeutet“. Diese „Ausbeutung“ ist schwer und nur mit der Aussage der betroffenen Frau nachweisbar.5
Prostitution ist in der BRD nicht strafbar, fällt aber als „sittenwidrig“ unter den § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ Die Gesetzgebung zur Prostitution wird nicht reformiert. In der DDR war Prostitution ab 1968 offiziell verboten worden (und existiert zwar dennoch heimlich, doch in viel geringerem Ausmaß).
2. Juni 1975
In Lyon besetzen Feministinnen und Prostituierte gemeinsam die Kirche Saint-Nizier. Rund einhundertfünfzig Frauen protestieren zehn Tage lang gegen polizeiliche Willkür und Doppelmoral der Gesellschaft, die die Prostituierte verachtet, den Freier aber als ehrenwerten Bürger respektiert.6 Außerdem beklagen sie, dass der Staat sie einerseits kriminalisiert, andererseits aber Steuern von ihnen erhebt. Auch in anderen europäischen Ländern und in den USA beginnen Prostituierte, sich gegen die gesellschaftliche Doppelmoral zur Wehr zu setzen.
1977
Auf der Berliner Sommeruniversität für Frauen wird ein Workshop über Prostitution – Sexualität – Hausarbeit abgehalten, organisiert von der feministischen Zeitschrift Courage im Rahmen ihrer Kampagne Lohn für Hausarbeit.
Über dreihundert Teilnehmerinnen, darunter zahlreiche Prostituierte, verabschieden eine Resolution zur Entkriminalisierung und Abschaffung polizeilicher Akten über Prostituierte. Die Forderungen werden im November des gleichen Jahres in Houston bei einer Frauenkonferenz im Rahmen des UNO-Frauenjahrs vorgestellt.7
1979
Das ZDF strahlt am 19. November den Spielfilm Fallstudien von Daniel Christoff aus, der u.a. vom Einstieg einer Hausfrau und einer 15jährigen in die Prostitution erzählt. Der Film wird in den Medien kontrovers diskutiert. Der Spiegel kritisiert den Film, der den Missbrauch der Frauen in der Kindheit und die Brutalität der Zuhälter thematisiert, als „oberflächliche, klischeeträchtige Kiez-Revue.“8 Courage veröffentlicht einen Artikel von Pieke Biermann, die den Film als „Propagandafilm“ bezeichnet, der den Zuschauerinnen „Angst vor dem ‚Milieu'“ machen solle, „damit sie nicht auf die Idee kommen, ihr Geld dort zu verdienen, denn schließlich ist Prostitution noch immer die höchstentlohnte Frauenarbeit“.9
1980
In Berlin gründen Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Ärztinnen im Umfeld des Gesundheitsamtes in Berlin-Charlottenburg das Projekt Hydra als erste „autonome Hurenorganisation“.10 Hydra versteht sich als Beratungsstelle für Prostituierte und gibt von 1980 bis 1995 die Zeitschrift Hydra Nachtexpreß – Zeitschrift für Bar, Bordell und Bordstein11 heraus. Zur Grundhaltung ihres Projektes erklärt Hydra: „Wir sind kein Ausstiegsprojekt. Unser Ziel ist die Anerkennung der Prostitution als Beruf und die Abschaffung der gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung.“12 Ab 1985 erhält Hydra staatliche Förderung von Stadt und Bund.
Von Pieke Biermann erscheint das Buch Wir sind Frauen wie andere auch. Die Studentin und Gelegenheitsprostituierte fragt: „Welche Frau ist eigentlich keine Prostituierte?“ Biermann hat für das Buch vier Frauen interviewt, die sich prostituieren. Sie argumentiert, jegliche Sexualität von Frauen in der patriarchalen Ehe sei letztlich Prostitution und demnach die Annahme von Geld für Sex nur ein konsequenter Schritt: „Ist es wirklich ein so großer Unterschied, Sex zu gestatten für Kost und Logis oder für bare Münze?“13 Dieses Geld sei letztlich der Weg zur Befreiung aus dem Sklaventum der Frau. Alice Schwarzer kontert in EMMA: „Da steht nicht etwa die Emanzipation der Huren zur Debatte, sondern die Verhurung der Emanzipation.“
Wenig später erscheint das Buch An der Front des Patriarchats von Rose-Marie Giesen und Gunda Schumann. Die beiden Soziologinnen haben zwanzig Prostituierte in West-Berlin schriftlich und mündlich befragt. Ihr Fazit: „Prostitution ist weder ein Ausdruck für die ‚Naturhaftigkeit‘ der Geschlechterrollen noch ‚Epiphänomen‘, sondern der offensichtlichste und gleichzeitig subversivste Ausdruck von Frauenunterdrückung in der patriarchalischen Gesellschaft.“14
08. Juli 1980
Im französischen Grenoble wird das Urteil im so genannten „Zuhälterprozess“ gesprochen. Zum ersten Mal in der Justizgeschichte Frankreichs hatten sich vier Prostituierte zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und ihre Zuhälter auf Schadenersatz verklagt. Die Frauen waren mit Gewalt zur Prostitution gezwungen und ihre Gewinne von den Zuhältern einbehalten worden. Sie haben Erfolg. Die zehn Angeklagten werden zu Gefängnisstrafen zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt und müssen den Frauen insgesamt 750.000 Francs Schmerzensgeld zahlen. Der Prozess wirft ein Licht auf die Realität in der Prostitution. Eine der Klägerinnen erklärt: „Die Wahrheit ist, dass die meisten von uns Zuhälter haben, die zu allen Mitteln greifen, um uns auf den Strich zu schicken.“
Oktober 1980
EMMA fragt Macht Prostitution frei? und reagiert damit auf einen taz-Artikel mit dem gleichen Titel.15 Die taz hatte ein Interview mit einer 30-jährigen Kurzzeit-Prostituierten („engagiert für ihre und anderer Frauen Emanzipation“) veröffentlicht, die behauptet: „Du kriegst dabei ein Wahnsinnsmachtgefühl. Männer kommen dir dann wie armselige, lächerliche, kleine Wichte vor.“ Die taz erreichen Leserinnenbriefe, die das Niveau der Berichterstattung und die Verklärung der Prostitution anprangern. EMMA entgegnet ironisch: „Prostitution macht frei! Die Ehefrau macht nichts anderes als die Prostituierte, darum können wir auch gleich alle für Geld anschaffen! – In dieser ergreifenden Schlichtheit präsentieren sich neue Thesen zur Prostitution, die sich zu allem Überfluss auch noch feministisch nennen.“ Und EMMA beklagt: „Aus der frühen feministischen Solidarität mit den Prostituierten wurde ein pseudoliberale Komplizität mit den Profiteuren.“
1983
Die Initiative AGISRA wird in Frankfurt gegründet.16 AGISRA geht gegen Sextourismus und Frauenhandel vor. Sie ist die erste Organisation ihrer Art, fungiert als Koordinationsstelle verschiedener Gruppen in der BRD, als Beratungsstelle für betroffene ausländische Frauen und betreibt Öffentlichkeitsarbeit, um in Medien und bei Vorträgen über die Ausbeutung von Frauen, u.a. durch Prostitution und Frauenhandel, aufzuklären.17
1984
In Frankfurt gründet sich die Initiative Huren wehren sich gemeinsam (HWG), in Anlehnung an die Berliner Hydra. HWG versteht sich als Selbsthilfe- und Öffentlichkeitsarbeitsprojekt Pro-Prostitution und gibt die Zeitung für leichte und schwere Mädchen18 heraus. Bald folgen weitere Initiativen wie Kassandra in Nürnberg, Nitribitt in Bremen oder Lysistrata in Köln. Die Initiativen werden sich später, sofern sie sich nicht auflösen, im Bündnis für Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter (Bufas) organisieren. Das Bufas fordert u.a. die Gleichstellung der ,Sexarbeit‘ mit anderen Berufen sowie die Abschaffung aller „diskriminierenden Sonderbestimmungen.“
Oktober 1985
Der erste Nationale Prostituiertenkongress findet statt, ausgerichtet wird er von Hydra in Berlin. Fünfundzwanzig Frauen aus sieben westdeutschen Bundesländern nehmen teil, diskutiert werden Themen wie AIDS, Safer Sex, Registrierung und Datenschutz von Personalien der Prostituierten.19
1988
Hydra organisiert in Berlin den ersten deutschen Hurenball, eine der Organisatorinnen ist Vorstandsmitglied Pieke Biermann. Die Medien berichten, Kritik gibt es von anderen Prostituiertenverbänden: Der Ball sei mit 150 DM pro Karte zu kostspielig, Hydra wolle sich profilieren und gehe an der Basis vorbei.20 Freier und Zuhälter sind ebenfalls Gäste.
05. März 1990
Der Arbeitskreis Frauenpolitik der grünen Bundesfraktion stellt auf einer Tagung mit dem Titel Beruf: Hure einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten vor.21 Der „Beruf Hure“ soll rechtlich anderen Erwerbstätigkeiten gleichgestellt und ein „Ausbildungsberuf“ werden.22 Die Gegnerinnen dieser Haltung verleugneten „Anteile eigener Hurenhaftigkeit“.
1999
Schweden verabschiedet auf Druck der Feministinnen mit den Stimmen von Konservativen plus Sozialdemokraten und Grünen das so genannte ,Sexkaufverbot‘: Die Prostituierten werden vollständig entkriminalisiert; die Freier, die den Markt mit der Ware Frau erst schaffen, werden bestraft. Das Gesetz ist Teil des Gesetzespaketes Kvinnofrid (dt.: Frauenfrieden), das die Gewalt gegen Frauen eindämmen soll. Der Kauf des Körpers eines anderen Menschen gilt in Schweden als Ausdruck eines patriarchalen Machtgefälles zwischen Männern und Frauen und als Verstoß gegen die Menschenwürde. In den folgenden Jahren werden immer mehr europäische Länder dem schwedischen Beispiel folgen: Norwegen, Island (beide 2009), Nordirland (2015), Frankreich (2016). In Irland liegt ein Gesetzentwurf zur Freierbestrafung vor.
Wie geht es weiter?
Deutschland geht einen anderen Weg. Zwei Jahre nach den Niederlanden, die im Jahr 2000 das bis dato geltende Bordellverbot aufheben und Prostitution uneingeschränkt legalisieren, tritt auch in Deutschland am 01. Januar 2002 das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten in Kraft. Das Prostitutionsgesetz der rot-grünen Regierung hebt die ,Sittenwidrigkeit‘ der Prostitution vollständig auf. Beide Länder erklären zum Ziel der Legalisierung, dass Prostituierte sich künftig renten-, kranken- und arbeitslosenversichern können und der Kriminalität im Milieu der Boden entzogen werden soll. Feministinnen, darunter EMMA, warnen, dass das Gesetz an der Lebensrealität der meisten Frauen in der Prostitution vorbeigehe und vor allem den Profiteuren des Prostitutionssystems nutzen werde: Bordellbetreibern, Zuhältern, Frauenhändlern. Im Hinblick auf die Osterweiterung der EU sei zudem zu befürchten, dass Menschenhändler vor allem in Ländern mit dereguliertem Prostitutionsmarkt ideale Bedingungen für ihr Geschäft mit der Ware Frau vorfinden werden. Bald darauf werden 80 bis 90 Prozent der Frauen in der Prostitution Osteuropäerinnen sein, darunter viele Sinti und Roma.
Im Jahr 2006 startet die Europäische Frauenlobby (EWL), der Dachverband von 2.500 Frauenorganisationen aus 30 Ländern die Kampagne Together for a Europe Free from Prostitution. Die einzige EU-Frauenorganisation, die die Kampagne nicht mitträgt, ist der Deutsche Frauenrat, ein Zusammenschluss von über 55 Frauenverbänden und Frauengruppen gemischter Verbände, darunter konfessionelle und parteipolitische.
2007 zeigt die Evaluation des rot-grünen Prostitutionsgesetzes von 2002 durch das Bundesfrauenministerium, dass die Ziele des Gesetzes verfehlt wurden.23
2010 fordert die Innenministerkonferenz vom Gesetzgeber dringend eine Reform der Reform von 2002. Die Polizei habe durch die Liberalisierung kaum noch Möglichkeiten, gegen das „hochkriminogene Umfeld“ vorzugehen.24
Die Niederlande erklären 2012 die Liberalisierung der Prostitution für gescheitert. Untersuchungen haben ergeben: In den staatlich konzessionierten Bordellen arbeiten bis zu 90 Prozent der Frauen unter dem Druck von Zuhältern. Das gilt auch für die weltberühmte Schaufenster-Prostitution im Amsterdamer ,Vergnügungsviertel‘ De Wallen.25
2013 erscheint Prostitution – Ein deutscher Skandal26, ein EMMA-Buch bei KiWi. Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden?, fragt Herausgeberin Alice Schwarzer. Prostituierte reden: von Domenica bis zur Zwangsprostituierten aus Osteuropa. Reporterinnen berichten aus Bordellen, vom Pascha und Paradise bis Pattaya. Kritikerinnen des Systems Prostitution analysieren die fatale Rolle der Prostituierten-Lobby mit ihren ‚Sexarbeiterinnen‘ und der Politik.
EMMA startet die Kampagne Prostitution abschaffen! Rund 100 Prominente – SchriftstellerInnen, SchauspielerInnen, PolitikerInnen etc. – sind ErstunterzeichnerInnen, weitere 12.000 Menschen unterzeichnen den Appell. Nach den Bundestagswahlen will EMMA damit eine Debatte über die Salonfähigkeit der Prostitution in Deutschland anstoßen und Druck auf die Politik ausüben, die trotz der Alarmrufe bis dato keine Reform des Prostitutionsgesetzes angepackt hat.
Bald darauf meldet sich die Pro-Prostitutionslobby zu Wort, federführend ist der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD), der sich als Reaktion auf die EMMA-Kampagne im Oktober 2013 gegründet hat. Sein Ziel ist die weitere Deregulierung des Prostitutionsmarktes. Unterstützt wird der BesD vom Bündnis für Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter (Bufas). Bufas-Mitglied Hydra erklärt: „Der wohl größte Erfolg von HYDRA und der deutschen Hurenbewegung war die Abschaffung der Sittenwidrigkeit der Prostitution in Deutschland mit dem ‚Prostitutionsgesetz‘ im Jahr 2002, der vorerst wichtigste Erfolg einer langjährigen politischen Arbeit.“27
Im Gegensatz zu EMMA, die Prostitution als Verstoß gegen die Menschenwürde betrachtet und ein Gesetz nach schwedischem Vorbild fordert, übernimmt ein anderer Teil der feministischen Szene – um die Popkultur-Zeitschrift Missy, den Blog Mädchenmannschaft oder den Hashtag #aufschrei – die Sicht der Pro-Prostitutionslobby, bezeichnet Prostitution als ,Sexarbeit‘ und sieht das eigentliche Problem der ,Sexarbeiterinnen‘ nicht in deren Tätigkeit, sondern in der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Missy berichtet nicht nur in diesem Sinne, sondern ist Co-Initiatorin von Veranstaltungen, auf denen Vertreterin der Pro-Prostitutionslobby auftreten.
Das EU-Parlament verabschiedet im Februar 2014 den Report Sexuelle Ausbeutung und Prostitution und ihre Auswirkung auf das Geschlechterverhältnis28 und erklärt mit Zweidrittelmehrheit: „Prostitution ist mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einschließlich des Ziels der Gleichstellung der Geschlechter, unvereinbar.“ Auch in der so genannten ,freiwilligen‘ Prostitution „werden alle intimen Handlungen auf einen Marktwert reduziert und Menschen dadurch zu Waren oder Gegenständen degradiert, die dem Kunden zur Verfügung stehen.“ Prostitution sei „untrennbar mit der Ungleichbehandlung der Geschlechter in der Gesellschaft verbunden“ und habe „Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Status von Frauen und Männern sowie ihre Beziehungen untereinander und die Sexualität“.29 – Im April schließt sich der Europarat an und fordert „die Mitgliedsländer auf, die Kriminalisierung des Sexkaufs, basierend auf dem Schwedischen Modell, als effektivste Maßnahme im Kampf gegen den Menschenhandel zu betrachten.“
Der gemeinnützige Verein SISTERS – für den Ausstieg aus der Prostitution! e.V. wird 2015 gegründet und hat seinen Sitz in Stuttgart. Bei einer Pressekonferenz in Berlin am 28. September 2015 stellen die beiden Vorstandsfrauen von SISTERS, Sabine Constabel (Sozialarbeiterin und Streetworkerin) und Leni Beymaier (Gewerkschafterin und SPD-Politikerin) sowie die Ex-Prostituierte Huschke Mau ihr Konzept gegen Armuts- und Zwangsprostitution in Deutschland vor.
Im März 2016 verabschiedet das Kabinett der schwarz-roten Regierung eine Reform des Prostitutionsgesetzes. Es sieht u.a. eine Anmeldepflicht für Bordellbetreiber sowie für Prostituierte vor. Andere Punkte, die dem Schutz vor allem der Zwangs- und Armutsprostituierten vor Zuhältern und Frauenhändlern gedient hätten, hatte die SPD nicht mitgetragen. So zum Beispiel ein Mindestalter von 21 Jahren oder eine Krankenversicherungspflicht für Prostituierte. – Am 07. April 2016 beschließt die französische Nationalversammlung ein Gesetz, das Prostituierte vollständig entkriminalisiert und den Kauf ,sexueller Dienstleistungen‘ unter Strafe stellt.30
Weltweit gelten die Prostitution und der damit unlösbar verbundene Frauenhandel als das einträglichste Geschäft, noch vor Drogen und Waffen. Die Profitraten der Bordellbetreiber, Zuhälter und Frauenhändler betragen bis zu 1.000 Prozent. Hinter der ideologischen Debatte um die Prostitution – Freiwillig oder erzwungen? Kein Problem oder ein Skandal? – stehen also sehr massive Geschäftsinteressen. Ganz wie in anderen Branchen übt die Prostitutionslobby einen starken Druck auf die Politik aus.
Dennoch haben sich Länder wie die skandinavischen oder Frankreich zu dem Schritt entschlossen, die Freier als Käufer der ,Ware Frau‘ zu bestrafen – um so den Markt auszutrocknen. Und auch frühere Prostitutionsländer, wie die Niederlande, rudern seit Jahren zurück.
Deutschland geht einen anderen, einen Sonderweg, und ist so zur ,europäischen Drehscheibe des Frauenhandels‘ geworden. Auch die von den GegnerInnen über 16 Jahre geforderte und 2016 erfolgte Reform der Deregulierung des Prostitutionsmarktes zum Schutz der Frauen in der Prostitution ist quasi ergebnislos. Die Debatte geht also weiter. Auch und nicht zuletzt im Namen des Feminismus.
Quellen
1 Millett, Kate (1973): Das verkaufte Geschlecht. - München : Verlag Kurt Desch, S. 12f. (FMT-Signatur: SE.15.103). Siehe auch: Schmackpfeffer, Petra (1989): Frauenbewegung und Prostitution : über das Verhältnis der alten und der neuen deutschen Frauenbewegung zur Prostitution. Oldenburg (FMT-Signatur: FE.03.115). - Verfügbar unter: http://oops.uni-oldenburg.de/655/1/688.pdf [PDF-Dokument].
2 Röhr, Dorothea (1972): Prostitution : eine empirische Untersuchung über abweichendes Sexualverhalten und soziale Diskriminierung. - Frankfurt am Main : Suhrkamp (FMT_Signatur: SE.15.072).
3 Dirnen : Männer als Trophäen (1972). - In: Der Spiegel, Nr. 42, 09.10.1972, S.66-70, siehe Pressedokumentation Prostitution : Darstellung in der allgemeinen Presse ; Prostitution in der Geschichte (FMT-Signatur: PD-SE.15.03).
4 Millett, Kate (1973): Das verkaufte Geschlecht. - München: Verlag Kurt Desch, S. 73 (FMT-Signatur: SE.15.103).
5 § 184 StGB : Verbreitung pornographischer Schriften (1973). - Verfügbar unter: http://lexetius.com/StGB/184,12. Siehe auch Stümper, Alfred (1974): Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Zuhälterei. - In: Kriminalistik : Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Nr. 3, siehe Pressedokumentation: Prostitution : Politik und Justiz, Kapitel 2 Urteile und Prozesse, FMT-Signatur PD-SE.15.04).
6 Barbara ; Christine de Conick (1980): Die geteilte Frau. - Berlin : Lorez, S. 319 (FMT-Signatur: SE.15.009).
7 Biermann, Pieke (1984): Wir sind Frauen wie andere auch! Prostituierte und ihre Kämpfe. - Rowohlt : Reinbek, S. 220 (FMT-Signatur: SE.15.003).
8 Stolle, Peter (1979): Fernsehen: Guter Stehplatz. - In: Der Spiegel Nr. 47, 19.11.1979, siehe Pressedokumentation: Prostitution : Darstellung in der allgemeinen Presse ; Prostitution in der Geschichte (FMT-Signatur: PD-SE.15.03). - Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39686059.html
9 Biermann, Pieke (1980): Sie hätten's wohl gerne so : Proteste gegen ZDF-Film. - In: Courage, Nr.1, S.42 f., siehe Pressedokumentation Prostitution : Darstellung in der allgemeinen Presse ; Prostitution in der Geschichte (FMT-Signatur: PD-SE.15.03). - Verfügbar unter: http://library.fes.de/cgi-bin/courage.pl?id=07.00697&dok=198001&f=198001_042&l=198001_043&c=198001_042
10 Siehe Hydra e.V. - Geschichte einer Hurenorganisation. - Verfügbar unter: http://www.hydra-berlin.de/verein/geschichte/
11 Hydra Nachtexpress : Zeitung für Bar, Bordell u. Bordstein (1980) / Hydra Nachtexpress - o.V. : Berlin (FMT-Signatur: Z501).
12 Kraushaar, Elmar (1988): „Suchen spendablen Begleiter“. - In: Die Tageszeitung, 01.2.1988, siehe Pressedokumentation Prostitution : Prostituiertenorganisationen und Prostituiertenzeitungen (FMT-Signatur: PD-SE.15.01, Kap.10).
13 Ebenda, S. 19.
14 Giesen, Rose-Marie ; Schumann, Gunda (1980): An der Front des Patriarchats : Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu. - Bensheim: päd.extra Buchverlag, S. 183 (FMT-Signatur: SE.15.001).
15 Macht Prostitution frei? (1980). - In: Die Tageszeitung, 22.08.1980, siehe Pressedokumentation Prostitution : Prostituiertenorganisationen und Prostituiertenzeitungen (FMT-Signatur: PD-SE.15.01, Kap.1).
16 Nicht zu verwechseln mit dem Verein agisra in Köln, der erst 1993 gegründet wurde (Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen).
17 Tübinger Projektgruppe Frauenhandel (1989): Frauenhandel in Deutschland. - Bonn : Dietz, S. 172f. (FMT-Signatur: SE.15.028).
18 HWG : Zeitung für leichte und schwere Mädchen / HWG - Verein zur Förderung der Information und Kommunikation zwischen weiblichen Prostituierten. - Frankfurt/Main : Dr. im Eastside i.d.h. (FMT-Signatur: Z503).
19 1. Nationaler Prostituiertenkongress (1985). - In: Rotstift : Zeitschrift für Bar, Bordell, privat und Bordstein, November 1985, S.3f. (FMT-Signatur: Z502).
20 Kraushaar, Elmar (1988): „Suchen spendablen Begleiter“. - In: Die Tageszeitung, 01.2.1988, siehe Pressedokumentation Prostitution : Prostituiertenorganisationen und Prostituiertenzeitungen (FMT-Signatur: PD-SE.15.01, Kap.10).
21 Werner, Petra ; Röttger, Ulrike (1990): Beruf Hure: Legalize it! - In: igitte, Nr. 3, S. 7, siehe Pressedokumentation: Prostitution : Darstellung in der allgemeinen Presse ; Prostitution in der Geschichte (FMT-Signatur: PD-SE.15.03).
22 Grüne wollen mehr Rechte für Huren (1990). - In: Die Tageszeitung, 06.03.1990, siehe Pressedokumentation: Prostitution : Darstellung in der allgemeinen Presse ; Prostitution in der Geschichte (FMT-Signatur: PD-SE.15.03).
23 Wörtlich heißt es im Bericht unter anderem: „Da mit dem Prostitutionsgesetz lediglich ein sehr begrenzter Regelungsansatz gewählt wurde, konnte im Hinblick auf die mit dem Prostitutionsgesetz intendierten Ziele der Zurückdrängung der Begleitkriminalität, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Erleichterung des Ausstiegs und der Erzielung einer größeren Transparenz des Rotlichtsmilieus durch das Prostitutionsgesetz auch tatsächlich nur ein erster Schritt getan werden.“ Siehe: Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz – ProstG) (2007). - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [Hrsg.]. - Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/93344/372c03e643f7d775b8953c773dcec8b5/bericht-der-br-zum-prostg-broschuere-deutsch-data.pdf [PDF-Dokument].
24 Prostitutionsgesetz: Ein halber Sieg! (2015). EMMA-News. - Verfügbar unter: http://www.emma.de/artikel/prostitutionsgesetz-ein-halber-sieg-330331
25 Prostitution : Ein deutscher Skandal (2013). Schwarzer, Alice [Hrsg.] - Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 328 (FMT-Signatur: SE.15.163).
26 Prostitution: ein deutscher Skandal ; wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden? (2013). - Schwarzer, Alice (Hrsg.). Köln : Kiepenheuer & Witsch. (FMT-Signatur: SE.15.163)
27 Siehe Hydra e.V. - Geschichte einer Hurenorganisation. - Verfügbar unter: http://www.hydra-berlin.de/verein/geschichte/
28 Der zugrundeliegende Eurostat-Bericht mit offiziellen Daten zur Prostitution wurde im April 2013 veröffentlicht. -Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-is-new/news/news/2013/docs/20130415_thb_stats_report_en.pdf [PDF-Dokument].
29 Bericht über sexuelle Ausbeutung und Prostitution und deren Auswirkungen auf die Gleichstellung der Geschlechter (2013) : Plenarsitzung vom 03.02.2014, Berichterstatterin Mary Honeyball. - Europäisches Parlament/Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter [Hrsg.]. - Verfügbar unter: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A7-2014-0071+0+DOC+XML+V0//DE
30 Freierbestrafung in Frankreich (2016). - In: Kofra : Zeitschrift für Feminismus und Arbeit, Nr. 157 (FMT-Signatur Z-F041:2016-157).
Alle Internetlinks wurden zuletzt abgerufen am: 06.02.2018
Auswahlbibliografie
Online verfügbare Quellen
18 Mythen über Prostitution - European Women's Lobby [Hrsg.]
Prostitution: Mythos und Wahrheiten - SISTERS – für den Ausstieg aus der Prostitution! e.V.
Empfehlungen
Röhr, Dorothea (1972): Prostitution : eine empirische Untersuchung über abweichendes Sexualverhalten und soziale Diskriminierung. - Frankfurt am Main : Suhrkamp (FMT-Signatur: SE.15.072).
Giesen, Rose-Marie ; Schumann, Gunda (1980): An der Front des Patriarchats : Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu. - Bensheim : Päd.-Extra-Buchverlag (FMT-Signatur: SE.15.001).
Millett, Kate (1983): Das verkaufte Geschlecht: die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (FMT-Signatur: SE.15.103).
Barry, Kathleen (1983): Sexuelle Versklavung von Frauen.- Berlin : Sub-Rosa-Frauenverl. (FMT-Signatur: SE.15.004).
Silvia Kontos (2009): Öffnung der Sperrbezirke : zum Wandel von Theorien und Politik der Prostitution. – Königstein/Taunus : Ulrike Helmer Verlag (FMT-Signatur: SE.15.140).
Prostitution : ein deutscher Skandal ; wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden? (2013). - Schwarzer, Alice [Hrsg.]. Köln : Kiepenheuer & Witsch (FMT-Signatur: SE.15.163).
Pressedokumentation
Pressedokumentation zum Thema Prostitution: PDF-Download
Der FMT verfügt über umfangreiche Pressedokumentationen zum Thema Prostitution, inkl. Themen wie Gewalt gegen Prostituierte, Prostituiertenorganisationen, Frauenhandel, Prostutution in der Geschichte u.a. Die Ordner enthalten Presseartikel aus der allgemeinen und feministischen Presse sowie zahlreiche Flugblätter.
Weitere Bestände im FMT (Auswahl)
FMT-Auswahlbibliografie Prostitution: PDF-Download
EMMA-Artikel Prostitution: PDF-Download
Prostituiertenzeitschriften im FMT: PDF-Download