Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung

Dagmar Schultz

Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung

Dagmar Schultz ist eine zentrale Aktivistin der Frauengesundheitsbewegung. Sie ist Mitbegründerin des ersten Feministischen Frauengesundheitszentrums in Berlin. Aus ihrem Aufenthalt in den USA brachte sie Kontakte zur Schwarzen Frauenbewegung nach Deutschland. 1974 gründete sie mit Kolleginnen den Frauenselbstverlag, der 1986 in Orlanda Frauenverlag umbenannt wurde.

Aufwachsen im Frauenhaushalt

Dagmar Schultz wurde 1941 in Berlin geboren und wuchs „in einem reinen Frauenhaushalt“[1] mit ihrer Großmutter, Mutter und Schwester auf. Die Großmutter stammte aus einer gutsituierten Kaufmannsfamilie und lebte nach dem frühen Tod ihres Mannes von den Mieten ihres Berliner Hauses, in dem auch Dagmar aufwuchs. Der Vater war Angestellter und nahm sich im Krieg an der Ostfront das Leben; die Mutter, die keinen Beruf hatte und das Haus der Großmutter verwaltete, kämpfte 10 Jahre um ihre Witwenrente. Dagmars Schwester war geistig leicht behindert „und ich denke, dass ich dadurch eine Sensibilisierung hatte für Menschen, die am Rand der Gesellschaft existieren.“[2]

„Frauen stellen wir als Reinemachfrau ein“

Am Gymnasium besuchte Dagmar Schultz eine reine Mädchenklasse. Nach dem Abitur begann sie 1961 ein Studium der Journalistik, Romanistik und Nordamerikanistik, war aber unzufrieden mit der Theorielastigkeit des Studiums. 1963 ging sie in die USA, wo sie sich eine praxisbezogenere Ausbildung erhoffte. Sie finanzierte den Aufenthalt zunächst mit einer erfolgten Nachzahlung der Kriegswitwenrente ihrer Mutter und verschiedenen Nebenjobs. Schultz studierte an der Universität Michigan Rundfunk, Fernsehen und Theater. Dort wurde sie zum ersten Mal mit den Grenzen konfrontiert, die die patriarchale Gesellschaft ihr setzte: „Wir haben in der Uni als Frauen alles gelernt, von Beleuchtung zu Regie (…) und gleichzeitig immer gesagt bekommen: ‚Als Frauen bekommt ihr sowieso keinen Job in dem Bereich. Wir können euch das beibringen, aber denkt mal nicht, dass ihr je darin arbeiten werdet.’“[3] Als sie sich später bei einem großen Fernsehsender bewarb, erklärte man im Vorstellungsgespräch: „’Ja, wissen Sie denn, wofür wir hier Frauen einstellen?’ Sage ich: ‚Nein, weiß ich nicht.’ Ich wollte ja Dokumentarsendungen machen. Sagten sie: ‚Als Reinemachfrau und als Sekretärin.’“[4]

Kontakte zur Frauenbewegung in den USA

Schultz ging dann nach Mississippi, um an einem College mit schwarzen StudentInnen zu unterrichten. Dort engagierte sie sich zunächst in der Bürgerrechtsbewegung. 1966 ging sie nach Puerto Rico und arbeitete in sogenannten ‚Anti-Poverty-Programs‘ zur Armutsbekämpfung. Sie war zuständig für das Familienplanungsprogramm: „Das war die Grundlage für meine spätere Beschäftigung mit Frauengesundheit.“[5]

An der University of Wisconsin in Madison kam Dagmar Schultz mit der aufbrechenden Frauenbewegung in Kontakt. 1967 fand an der Universität „der erste Speakout zu Abtreibung“[6] statt. „Ich weiß nicht, ob das Wort Women’s Liberation da gefallen ist, aber ich denke schon. Das war der Anfang für mich.“[7]

Ein Jahr später wechselte Schultz als Dozentin ans Columbia College in Chicago, wo sie Seminare in Women’s Studies unterrichtete. Sie wurde Mitglied der Chicago Women’s Liberation Union, in der schwarze und weiße Frauen eng zusammenarbeiteten. Schultz kritisiert heute, dass häufig „unterschlagen“[8] werde, „wie viele schwarze Frauen mit an dem Aufbau dieser Bewegung beteiligt waren.“[9]

1972 promovierte Dagmar Schultz an der University of Wisconsin in Madison mit der Arbeit The Changing Political Nature of Wisconsin 1972 Workers‘ Education: A Case Study of the Wisconsin School for Workers und kehrte 1973 nach Westberlin zurück, wo sie eine Dozentinnenstelle am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin antrat. Im gerade gegründeten Frauenzentrum in der Hornstraße engagierte sich Schultz zunächst in der § 218-Gruppe, die mit Straßentheater und anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen das Abtreibungsverbot kämpfte.

1973: Die erste Selbstuntersuchung mit Spekulum

Im November 1973 demonstrierte Carol Downer vom Frauengesundheitszentrum in Los Angeles im Berliner Frauenzentrum zum ersten Mal in Deutschland die vaginale Selbstuntersuchung mit dem Spekulum. Dagmar Schultz nahm gemeinsam mit Mitstreiterinnen aus dem Frauenzentrum die Impulse der amerikanischen Gesundheitsbewegung auf. Es ging um Selbstbestimmung, Wissen über den eigenen Körper und eine Abkehr von einer bevormundenden patriarchalen Medizin, die zwischen Überbehandlung und Unterversorgung schwankte. So wurden einerseits normale körperliche Vorgänge wie Menstruation oder Wechseljahre pathologisiert oder Frauen massenhaft überflüssigerweise die Gebärmutter entfernt. Andererseits gilt bis heute der Männerkörper als Maßstab zum Beispiel für die Entwicklung von Medikamenten, so dass Frauen häufig falsch dosierte oder falsch konzipierte Medikamente verordnet bekommen.

In den 1970ern gab es zudem sehr wenig Ärztinnen. Die sexistische Behandlung weiblicher Patienten war deshalb ebenfalls ein großes Thema der nun auch in Deutschland startenden Frauengesundheitsbewegung. „Eine Ärztin, mit der wir zu tun hatten, hatte eine Geburt, und am nächsten Morgen kam ein Kollege von ihr rein und meinte: ‚Ja, wir haben Sie ein bisschen enger zusammengenäht, das ist doch für Ihren Mann dann auch schöner“, erinnert sich Dagmar Schultz.[10]

Das erste Feministische Frauengesundheitszentrum

1974 gründete Schultz gemeinsam mit weiteren Aktivistinnen in Westberlin das erste Feministische Frauengesundheitszentrum (FFGZ) in Deutschland, das bis heute existiert. Es bietet Beratungen zu vielen Themen an: von Sexualität, Verhütung und Schwangerschaftsabbruch bis hin zur Krebsfrüherkennung. Immer geht es zentral um das Wissen und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die Nachfrage war groß, speziell die Selbstuntersuchungen waren sehr gefragt. „Wir haben Kurse auch an der Volkshochschule angeboten. Und ich erinnere mich, dass wir (…) einen Raum mit sechs Tischen hatten, auf denen wir lagen, mit Spekulum und Taschenlampe und Spiegel. Und die Frauen flanierten an uns vorbei und guckten sich unseren Muttermund an. Und ich weiß noch: (…) Die Tür nach draußen hatte oben Glas drin, und (…) da guckten dann lauter Frauen durch das Glas durch, weil gar nicht genug in den Raum rein konnten. Das war also die Selbstuntersuchung – das war was wirklich Revolutionäres.“[11]

Das Hexengeflüster verkauft sich 10.000 mal

1976 gab Dagmar Schultz, gemeinsam mit Christiane Ewert und Gaby Karsten, das im Selbstverlag erschiene Werk Hexengeflüster – Frauen greifen zur Selbsthilfe heraus. In dem Buch bündelten die Herausgeberinnen ihr gesammeltes Wissen zur Frauengesundheit. Innerhalb kürzester Zeit waren 10.000 Exemplare verkauft. „Und es gab dann Selbsthilfegruppen. In allen möglichen Städten bildeten sich mehr und mehr Gruppen. (…) Es war also eine richtige Bewegung.“[12] Weitere Frauengesundheitszentren gründeten sich in ganz Deutschland.

Nachdem Dagmar Schultz und ihre Mitstreiterinnen Hexengeflüster und weitere selbst verfasste Bücher zu feministischen Gesundheitsthemen herausgebracht hatten (zum Beispiel Wie Frauen verrückt gemacht werden von Roswitha Burgard oder Ein Mädchen ist fast so gut wie ein Junge, über Sexismus in der Erziehung von Dagmar Schultz), bewirkte die Veröffentlichung von Das bestgehütete Geheimnis von Florence Rush zum sexuellen Missbrauch eine grundlegende Veränderung: Der Stern brachte zwei Titelgeschichten zum Buch, sodass die große Nachfrage eine professionelle Unternehmensstruktur erforderlich machte. Der Frauenselbstverlag wurde zunächst umbenannt in sub rosa Frauenverlag und schließlich 1986 in Orlanda Frauenverlag. Dagmar Schultz leitete Orlanda bis 2001 als Verlegerin.

Audre Lorde und May Ayim

Anfang der 1980er Jahre erweiterte sich das Spektrum des Frauenverlages. Geprägt von ihren Erfahrungen in den USA und den Begegnungen mit Schwarzen Frauen in der Frauenbewegung, sorgte Dagmar Schultz dafür, dass der Verlag einen Schwerpunkt auf die Werke Schwarzer Frauen wie Audre Lorde oder May Ayim legte. Schwarze Frauen wurden Mitarbeiterinnen im Verlagsteam. Mit Audre Lorde, die Dagmar Schultz als Gastprofessorin an das John F. Kennedy-Institut vermittelt hatte, arbeitete bis zu Lordes Tod 1992 eng zusammen. Ihr Dokumentarfilm Audre Lorde – The Berlin Years 1984-1992 hatte 2012 auf der Berlinale Premiere. Er wird bis heute weltweit gezeigt.[13] 1997 produzierte Dagmar Schultz mit der Filmemacherin Marie Binder den Film Hoffnung im Herz. Mündliche Poesie – May Ayim.[14]

Der Margherita-von-Brentano-Preis

Dagmar Schultz, die 1989 am Soziologischen Institut der FU Berlin habilitierte, lehrte von 1991 bis zur ihrer Emeritierung 2004 als Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik.

2011 wurde sie mit dem Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität Berlin für „herausragende Leistungen in der Frauenförderung und Geschlechterforschung“[15] ausgezeichnet. Ein Jahr später folgte der Magnus-Hirschfeld-Preis der Berliner Schwusos. In der Begründung heißt es: „Sie war eine der ersten Aktivistinnen der Lesben- und Frauenbewegung, die das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminierungsformen deutlich machte. Bis heute setzt sie sich dafür ein, Migrantinnen und schwarzen Frauen eine Stimme zu geben und Ausgrenzungsmechanismen innerhalb der eigenen Community bewusst zu machen.”[16]

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Videoclips

Interviewtranskript

Fußnoten

[1] P19-Schu-01, Interview mit Dagmar Schultz, Transkript, S. 1.

[2] Ebenda, S. 21.

[3] Ebenda, S. 1.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda, S. 3.

[6] Ebenda, S. 4.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda, S. 5.

[10] Ebenda, S. 9.

[11] Ebenda, S. 11.

[12] Ebenda.

[13] Film ausleihbar auf Vimeo, URL: https://vimeo.com/ondemand/audrelorde.

[14] Film ausleihbar auf Vimeo, URL: https://vimeo.com/ondemand/mayayim.

[15] FU Berlin: Pressemitteilung Nr. 191/2011 vom 17.06.2011, URL: https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2011/fup_11_191/index.html Zuletzt besucht am: 6.04.2021.

[16] Bubeck, Ilona, Mai 2012: Laudatio für Dagmar Schultz zur Verleihung des Magnus-Hirschfeld-Preises 2021, URL: http://dagmarschultz.com/downloads/Schultz_Laudatiofin.pdf Zuletzt besucht am: 8.09.2020.

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