Alice Schwarzer: Moderne Zeiten, 1991

Die Frauenbewegung ist tot, es lebe der Feminismus. Alle, die in den letzten zehn Jahren im Namen DER Frauenbewegung gesprochen haben, wußten es entweder nicht besser oder bedienten sich einer Chimäre. Denn eine „Frauenbewegung“ im politischen Sinne – also eine Bewegung mit organisatorischem Zusammenhalt und gemeinsamen Grundpositionen und Zielen -, die gibt es schon seit Ende der 70er Jahre nicht mehr. Die Analysen und Forderungen der Frauenbewegung aber existieren weiter. Sie sind längst öftentlicher Zustand und weit über die feministischen Gruppen hinaus eingedrungen in die Gesellschaft und die Köpfe der einzelnen Menschen.

Was nicht heißt, daß die Frauenbewegung alles erreicht hat. Im Gegenteil: ihren Zielen drohen nun Gefahren, von außen wie innen, von Männern wie Frauen. Sogar der Feminismus selbst befindet sich nicht selten auf Irrwegen, die bis hin zum Antifeminismus führen können.

Nichts wird uns geschenkt, alles Erreichte haben wir täglich wieder zu verteidigen oder noch immer zu erkämpfen (Beispiel § 218), und veränderten Verhältnissen mit neuen Chancen und Gefahren haben wir uns offen zu stellen (Beispiel Pornographie). Denn ein paar tausend Jahre Macht haben die Männer so sicher und so geschickt gemacht, daß sie die Angriffe auf ihre Privilegien nicht selten in der Luft umdrehen und zum Bumerang machen (Beispiel Quoten). Mit der Männergesellschaft ist es wie in der Geschichte vom Hasen und vom Igel: die Jungs sind immer schon da (und die Frauen haben das Nachsehen). Wir fordern die Vermenschlichung der Geschlechter? Sie nehmen sich die angenehmen Seiten der Weiblichkeit (Männer sind ja so verletzlich), lassen uns die Arbeit und versperren weiter den Zugang zur Macht. Wir fordern die Hälfte der Welt? Sie gewähren uns eine Quote, auf die sie Frauen ihrer Gnade setzen und nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Wir sprechen von Lust? Sie vermarkten mehr denn je unsere Körper und Seelen und fügen den zwei Schichten der Doppelbelastung (Beruf und Haushalt) die dritte Schicht hinzu: den Sex-Service nach Porno-Vorbild, jetzt auch noch gratis und zuhause! – Moderne Zeiten. Sicher, wir haben viel erreicht in diesen 20 Jahren. Wir Feministinnen haben eine Kulturrevolution gemacht! Die einzig wahre seit 1945. Aber die Konterrevolte hat nicht auf sich warten lassen. Von außen ruht auch auf der selbstbewußtesten Frau der zunehmend pornographisierte Blick (vor allem des jungen, indoktrinierten Mannes): in seinen Augen ist sie nicht Handelnde, sondern sein Objekt. Und von innen? Da richtet sich der Würgeengel „Weiblichkeit“, auch „Andersartigkeit“ genannt, wieder auf. Er würgt die Frau, reißt sie runter und verstellt ihr den Griff nach der Männlichkeit, das heißt nach der von Männern okkupierten Welt.

Für die frauenbewegte Praxis von Millionen spielt diese Weiblichkeits-Renaissance bisher noch keine große Rolle. Für die feministische Theorie aber wirkt sie schon jetzt verheerend. Die Grunderkenntnis des Feminismus ist bedroht. Und die lautet: der Mensch ist frei geboren. Er wird zum „Mann“ oder zur „Frau“ (oder zum Schwarzen, Weißen, Juden, Araber, Polen usw.) überhaupt erst gemacht (durch die Verhältnisse und Prägungen). Heraus kommen zwei verstümmelte Hälften. Nicht zufällig hat sich dabei die männliche Hälfte die Eigenschaften und Rechte vorbehalten, die Herrschaft sichern (Besitz, Gewalt, Wissen, Zusammenhalt) und die weibliche Hälfte die Eigenschaften, die Ohnmacht und Ausbeutung zementieren (Besitzlosigkeit, Friedfertigkeit, soziale Verantwortung, Isolation).

Milliarden von Frauen leisten weltweit mindestens zwei Drittel aller Arbeit, bekommen dafür zehn Prozent des Lohns und haben ein Prozent des Besitzes. Das sind keine feministischen Statistiken, sondern UNO-Zahlen. Und die sprechen Bände. Frauen wie Männer sind Produkte dieser Machtverhältnisse. Männer sind nicht von Natur aus böse und Frauen nicht von Natur aus gut. Es sind Macht und Ohnmacht, die die Geschlechter korrumpieren oder lähmen.

Genau das machte die Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre (wieder) öffentlich. Von New York bis Berlin gingen die Frauen zu Tausenden auf die Straße und nannten den Ehekrieg beim Namen. Ihre Forderungen: Das Recht auf erotische, berufliche und gesellschaftliche Teilhabe, auf Gleichheit und Selbstbestimmung! Die Herren der Schöpfung waren zunächst überrascht. Peinlichkeiten, die bis dahin unter einem Mantel des Schweigens verdeckt waren, wurden nun öffentlich bloßgestellt, von Inzest und Vergewaltigung bis zur unbezahlten Haus- und Seelenarbeit.

Wir revoltierenden Frauen standen nicht länger zur Verfügung. Wir sagten Nein, wenn wir keine Lust hatten. Wir lächelten nicht, wenn es ernst wurde. Wir bedienten nicht, um geliebt zu werden. Wir spielten nicht die Dummen, wenn wir klug waren. Wir baten nicht länger um Gnade, sondern forderten unsere Rechte.

Kurzum: Wir verzichteten auf die sogenannten „weiblichen Waffen“ (die Waffen von Sklaven) und intrigierten, schmeichelten und manipulierten nicht länger, sondern wagten die offene Konfrontation.

Dabei taten wir uns nicht immer leicht. Denn in uns trugen und tragen wir das Erbe weiblicher Verunsicherung, Demütigung und Zerstörung. Und um uns formierte sich der männliche Widerstand. Wir frühen Feministinnen wurden öffentlich so verhöhnt und durch den Dreck gezogen, daß es ein Wunder war, wenn wir überlebten. Viele Frauen begriffen die Lektion: sie nahmen sich in acht. So fanden Ängste und Zweifel auch in uns selbst bald wieder Nahrung.

Schon wenige Jahre nach dem feministischen Aufbruch schlug das Pendel zurück. Auch innerhalb der eigenen Reihen. Nicht nur Männer schlagen zurück, auch Frauen üben sich wieder in den Ritualen der Unterwerfung und Rivalität und zelebrieren erneut den Kult der „Weiblichkeit“ – jetzt unter modischen Etiketten (wie „neue Weiblichkeit“, „neue Mütterlichkeit“ oder „neue Lust“). Diese Frauen nehmen das Kreuz der „Weiblichkeit“ freiwillig wieder auf sich in der Hoffnung, den Männern zu gefallen, nicht selten sogar ausgerechnet im Namen des Feminismus!

Hauptfeind dieser „neuen Frauen“ und alten Weibchen sind die Radikalfeministinnen, die weiterhin uneingeschränkte Gleichheit für Frauen und Männer fordern und den Geschlechterkonflikt offen benennen. Vor allem in Deutschland grassiert die pseudofeministische Ideologie von der natürlichen „Andersartigkeit“ des Weibes. Kein Wunder, schließlich ist die Zeit der Ks (Kinder, Küche, Kirche) und ihrer Variante Kinder – Küche – Führer noch gar nicht so lange her. Wie schon in der historischen Frauenbewegung – in der die Radikalen ins Exil flüchteten und die Reformistinnen vom Führer vereinnahmt wurden – driften auch jetzt wieder die Erbinnen der Frauenbewegung in zwei Flügel auseinander. Die Reformistinnen werden mit offenen Armen von der Männergesellschaft aufgenommen und die Radikalen zunehmend abgedrängt und totgeschwiegen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn diese neuen Propagandistinnen der Weiblichkeit bei der Männergesellschaft auch heute wieder offene Türen einrennen. Und zwar in allen Lagern, von rechts bis links.

So behauptet zum Beispiel das 1988 u. a. von Rita Süßmuth herausgegebene „Frauenlexikon“, es gäbe drei feministische Varianten: die „sozialistischen Feministinnen“, die auch den Klassengegensätzen Rechnung tragen, die „Kulturfeministinnen“, die auf „weibliche Lebenszusammenhänge“ vertrauen und an eine „bessere, andere Kultur der Frauen“ glauben, sowie die „ökologischen Feministinnen“, die auf die „Aussöhnung von Kultur und Natur“ setzen und dabei der Frau eine besondere Rolle zuweisen. – Und wo sind wir, die radikalen Feministinnen? Die, die alles in Gang gesetzt haben? Die, die die Ideologie von einer „Natur der Frau“ (und des Menschen überhaupt) konsequent ablehnen, konsequent die Machtfrage stellen und selbstverständlich auch anderen gesellschaftlichen Widersprüchen (wie Klassen etc.) Rechnung tragen?

Ähnlich wie das konservative „Frauenlexikon“ verfahren die fortschrittlichen „Feministischen Studien“, die von der Frankfurter Frauenforschungsszene herausgegeben werden. Sie sprechen vom „politisch-sozialistischen Feminismus“ einerseits und vom „kulturkritischen Feminismus“ andererseits, der „unter Weiblichkeit etwas besonderes“ versteht, das „historisch oder/und biologisch begründet wird“. Besonders aufschlußreich: Hier werden die historisch gewachsene und eine biologisch angeborene „Weiblichkeit“ nicht mehr unterschieden – dabei ist genau diese Unterscheidung der Knackpunkt des Feminismus! Entsprechend verschweigen diese dem Differentialismus zuzurechnenden Frauenforscherinnen auch den radikalen Feminismus, für den immerhin historisch wie aktuell die größten Feministinnen stehen, von Hedwig Dohm über Simone de Beauvoir bis Kate Millett.

Die Abschaffung von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen und die Vermenschlichung der Geschlechter müssen das Ziel des Feminismus bleiben. Wir wollen keine „weibliche Zukunft“ – sowenig wie eine männliche Gegenwart. Wir wollen eine menschliche Zukunft – ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Weiblichkeitswahn und Männerbündelei. Von derlei paradiesischen Verhältnissen sind wir allerdings noch weit entfernt. Und es sieht in diesen Zeiten der steigenden sexistischen Aggressionen und rassistischen Kriege nicht so aus, als würde uns der Fortschritt geschenkt.

Dieser vorliegende Sonderband zieht Bilanz. Drei Generationen von Feministinnen sprechen über sich: die Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung, ihre Mütter – und ihre Töchter (deren Mut zu Widerspruch und Konsequenz auffällt). Aus ihren Zeugnissen, aus der Chronik der letzten 20 Jahre und aus den Analysen der aktuellen Entwicklungen können wir lernen: Lernen, daß es nichts bringt, die Augen zu verschließen, sondern daß nur die Wahrheit uns voranbringt.

ALICE SCHWARZER
Köln, im September 1991

(Quelle: Schwesternlust & Schwesternfrust – 20 Jahre Frauenbewegung. EMMA Sonderband, Oktober 1991, S. 4-5.)

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