Der Kampf um die Fristenlösung wird gewonnen – und wieder verloren. Die westdeutsche Frauenbewegung feiert erste Feste. Der zunächst relativ wohlwollende Ton der (Männer)Medien verschärft sich.
14. Januar 1974
Die ARD sendet den Fernsehfilm Und wir nehmen uns unser Recht! Lesbierinnen in Deutschland von Claus F. Siegfried. An der Konzeption ist die Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) maßgeblich beteiligt. Der differenzierte Film stößt auf positive Resonanz. Weitere Lesbengruppen gründen sich.
17. Januar 1974
In Heidelberg besetzt eine Gruppe Frauen ein leerstehendes Haus, um dort ein Frauenzentrum zu errichten. Sechs Tage später wird das Haus von der Polizei geräumt, die Besetzerinnen werden vor Gericht angeklagt. Dies entspricht der allgemeinen Tendenz des nun härteren Vorgehens des Staates gegen Hausbesetzungen.
6. Februar 1974
In Berlin initiiert die Frauengruppe Brot und Rosen ein ‚Teach-In’ zum § 218. Über 2.000 Teilnehmerinnen kommen in die Technische Universität, um Referate über die Themen § 218, Verhütung und die Macht der Ärzte zu hören und sich auszutauschen.
Für Juni ist die dritte Lesung der § 218-Reform im Bundestag angekündigt. Die Frauenbewegung mobilisiert alle Kräfte. Auf Initiative einer kleinen Berliner Fraueninitiative werden alle bekannten feministischen Gruppen in Westdeutschland und Westberlin mobilisiert, am 7. März auf die Straße zu gehen, um mit der Aktion Letzter Versuch die zögerliche SPD/FDP-Mehrheit zur Verabschiedung der Fristenlösung zu zwingen. Frauengruppen aus ganz Deutschland folgen dem Aufruf und organisieren eine ganze ‚Aktionswoche’ vom 8. bis 16. März 1974 für die Reform des § 218. (Dossier mit allen Originaldokumenten der Aktion im FMT)
9. März 1974
Angeregt von den Feministinnen der Aktion Letzter Versuch, führen 14 Ärztinnen und Ärzte in Berlin einen provokant öffentlich angekündigten Schwangerschaftsabbruch mit der sogenannten ‚Karman-Methode’ durch – der schonenden Absaugmethode, die in Deutschland nicht angewandt wird. Die ÄrztInnen stellen sich damit demonstrativ auf die Seite der hilfesuchenden Frauen und gegen ihre Kollegen, die sich im Namen ihrer persönlichen ethischen Überzeugung weigern, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Auf ihrer Pressekonferenz erklären sie: „Jeden Tag werden in der Bundesrepublik 2.000 bis 3.000 illegale Abtreibungen durchgeführt. Unsere Aktion soll Schluss machen mit der Heuchelei. Wir fordern gleiches Recht für alle, die Entwicklung unschädlicher Verhütungsmethoden und kinderfreundlicher Lebensbedingungen.“
Die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer, eine der Initiatorinnen der Aktion Letzter Versuch, filmt gleichzeitig für das TV-Magazin Panorama einen Bericht über den Ärzteprotest und die Abtreibung.
11. März 1974
Knapp drei Jahre nach der Selbstbezichtigung der Frauen im Stern bekennen nun 329 Ärztinnen und Ärzte im Spiegel: „Wir haben Frauen ohne finanzielle Vorteile zur Abtreibung verholfen und werden dies auch weiterhin tun.“ Auch dieses Bekenntnis ist Teil der Aktion Letzter Versuch, über die der Spiegel in seiner Titelgeschichte Aufstand der Schwestern berichtet.
Die Bundesrepublik erlebt ihren bisher größten Fernsehskandal: Der Panorama-Beitrag wird eine Stunde vor dem Sendetermin abgesetzt. Ein wichtiger Grund für die Entscheidung der ARD-Intendanten ist das Protest-Telegramm, dass der Vorsitzende der Deutschen Bischofkonferenz, Kardinal Döpfner, am selben Tag geschickt hatte. Der Kardinal hatte außerdem Strafanzeige gegen das ‚Gewaltverbrechen’ erstattet. Aus Protest gegen die Absetzung ziehen alle Panorama-Autoren ihre Beiträge zurück. Panorama-Chef Peter Merseburger sendet 45 Minuten lang ein leeres Studio. Vier Tage später diskutieren Merseburg, Alice Schwarzer, Ingrid Kämmerer, Klaus Bölling, Helmut Oeller und Hermann Köker im NDR unter dem Titel Was darf das Fernsehen (FMT, FI.01.10) über den Vorgang.
Der Skandal ist perfekt. Medien und Menschen debattieren wochenlang über den § 218. Mit dem von den Feministinnen gewünschten Effekt: Knapp zwei Monate später wird die SPD/FDP-Mehrheit im Bundestag die Fristenlösung verabschieden. Weitere acht Monate später wird das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden.
16. März 1974
Mit Demonstrationen, Straßentheater und Kirchenaustritten machen Tausende Frauen in vielen deutschen Städten am ‚Nationalen Protesttag’ mobil gegen den § 218. Allein in Frankfurt treten 350 Frauen geschlossen aus der katholischen Kirche aus.
März 1974
Die dritte Ausgabe der Frauenzeitung erscheint. Ihr Schwerpunktthema: Vergewaltigung. Nachdem die amerikanischen Feministinnen in ihren Texten die Funktion von Sexualgewalt analysiert haben, findet das Thema sexuelle Gewalt nun auch Eingang in die deutsche Feminismus-Debatte.
Ebenfalls 1974 erscheint Frauen – das verrückte Geschlecht von Phyllis Chesler (engl. Originaltitel: Women and Madness, 1972). Die Autorin beschreibt Depression, Wahnsinn und Sucht von Frauen als Ausbruch und Aufbegehren gegen die Frauenrolle. Cheslers Buch ist für engagierte Psychologinnen, Psychiaterinnen und Analytikerinnen ein wichtiger Anstoß.
23. April 1974
An der Freien Universität Berlin beginnt das erste ‚Frauenseminar’. Initiiert hat es die Hochschulgruppe des Frauenzentrums. Titel: Zur Situation von Studentinnen und Dozentinnen in der BRD und West-Berlin.
Aus dem Frauenseminar geht die erste Frauen-Uni-Zeitung hervor: Nebenwiderspruch. Der provokante Titel erklärt sich aus der Tatsache, dass im linken Diskurs die Geschlechterfrage im Kapitalismus stets als zu vernachlässigender ‚Nebenwiderspruch’ bezeichnet wurde – im Gegensatz zum ‚Hauptwiderspruch’ zwischen den Klassen. Die Zeitung, die bis 1978 erscheint, dokumentiert Fraueninitiativen im Hochschulbereich.
3.-5. Mai 1974
Auf dem Frauenkongress in Heidelberg diskutieren Frauengruppen über verschiedene Frauenzentrums-Konzepte. Die erste Initiative für einen feministischen Frauenverlag stellt sich vor.
11. Mai 1974
Eine kleine Gruppe innerhalb des Berliner Frauenzentrums initiiert in der TU Berlin das erste öffentliche Frauenfest: die Rockfete im Rock. Zunächst gegen den Widerstand eines Teils des Frauenzentrums, der befürchtet, dass die ‚Frauen an der Basis’ kein Verständnis für ein reines Frauenfest haben würden. Doch die Fest-Initiative setzt sich durch und macht aus der Rockfete im Rock ein Event und ein Politikum.
In ihrem Flugblatt heißt es: „Wir sind uns alle einig darin, dass wir diese erste öffentliche Frauenfete unter uns machen wollen. Wir wissen, auch aus den gemachten Erfahrungen, dass unser Verhalten freier ist, wenn Männer nicht dabei sind. Darum, Frauen, kommt an diesem Abend allein.“
Über 2.000 Frauen kommen. Auf dem Fest wird der zensierte Panorama-Film gezeigt. Frauen aus den Gesundheits-Selbsthilfegruppen demonstrieren Selbstuntersuchungen. Ina Deter tritt auf und singt das Lied Ich habe abgetrieben. Für das Fest schließen sich einige Berlinerinnen zur Ersten Deutschen Frauenband zusammen. Aus ihr gehen ein Jahr später die Flying Lesbians hervor.
Pfingsten 1974
In Berlin findet das 1. Internationale Lesbenpfingsttreffen statt. Motto: „Feminismus die Theorie – Lesbischsein die Praxis?“. Fast 200 Frauen kommen.
Mittlerweile hat sich der größere Teil der politisch aktiven Lesben von der Schwulenbewegung separiert und verortet sich eher in der Frauenbewegung.
Die Frauengruppe der HAW benennt sich um in Lesbisches Aktionszentrum (LAZ), „als Zeichen unserer Unabhängigkeit von den homosexuellen Männern und um unsere Zugehörigkeit zur autonomen Frauenbewegung zum Ausdruck zu bringen.“
5. Juni 1974
Der Bundestag verabschiedet mit knapper Mehrheit die Fristenlösung. Der Schwangerschaftsabbruch soll ab jetzt in den ersten drei Monaten erlaubt sein. Aber die CDU/CSU-Opposition legt Verfassungsbeschwerde ein. Das Gericht setzt das Gesetz per einstweiliger Verfügung außer Kraft – bis zur Entschiedung des Bundesverfassungsgerichts.
21. – 23. Juni 1974
In der Evangelischen Akademie Loccum findet zum Thema Emanzipation der Frau die erste gemeinsame Tagung von autonomen Feministinnen und Vertreterinnen der traditionellen Frauenverbände (Unternehmerinnenverband, Verband Berufstätiger Frauen, Bundesverband alleinstehender Mütter u.a.) statt. Das vielbeachtete Seminar wird zur Keimzelle der Zusammenarbeit von Frauenbewegung und traditionellen Frauenorganisationen, zunächst noch hinter verschlossenen Türen. Inge Sollwedel: Partnerschaft wird sichtbar (Tagungsbericht)
Juli 1974
Brigitte veröffentlicht eine umfangreiche Studie der Soziologin Prof. Helge Pross über Hausfrauen in Deutschland. Ergebnis: „Hausfrauen sind mit ihrem Leben zufrieden, sagen sie. Aber stimmt das wirklich? Viele Ergebnisse der Untersuchung lassen daran zweifeln.“ Die Ergebnisse der Studie werden auf einer hochrangig besetzten Tagung in Hamburg diskutiert. Unter den 300 geladenen Gästen sind Familienministerin Katharina Focke und Alice Schwarzer, Vertreterinnen von Berufsverbänden und dem Club junger Hausfrauen.
In der Frauenbewegung beginnt eine Kontroverse um die Frage nach dem ‚Hausfrauenlohn’. Auch das Buch Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft von Selma James und Maria Rosa dalla Costa wirft die Frage nach dem ‚Lohn für Hausarbeit’ auf.
Die Kontroverse geht quer durch die Frauenbewegung. Die einen – wie James und dalla Costa – fordern eine Aufwertung der Hausarbeit durch Entlohnung der Hausfrauen – die anderen wollen die Abschaffung der Hausarbeit als Frauenarbeit und fordern eine Umschichtung auf Frauen, Männer und Gesellschaft. Letzteres forderten schon Aktivistinnen der Historischen Frauenbewegung, wie zum Beispiel Louise Dittmar 1849 in ihrem Aufsatz Wider das verkochte und verbügelte Leben der Frauen.
Sommer 1974
Die erste feministische Filmzeitschrift Frauen und Film erscheint. Herausgeberin ist Helke Sander. Die erste LP aus der Frauenbewegung wird veröffentlicht. Titel: Von heute an gibt’s mein Programm. Herausgegeben wird die Platte von Frauengruppen aus München, Frankfurt und Darmstadt. Nach der 3. Auflage ist die Platte vergriffen.
September 1974
Im Berliner Frauenzentrum gründet sich die erste Frauengruppe Frauen gegen Gewalt gegen Frauen. Die Aktivistinnen veröffentlichen Texte zum Thema, beobachten Vergewaltigungsprozesse und planen eine Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer nach dem Vorbild der amerikanischen Rape-Crisis-Centers.
Auch die Aktivistinnen der Historischen Frauenbewegung beobachteten bereits Prozesse gegen Vergewaltiger und organisierten Protestveranstaltungen gegen skandalöse Freisprüche. (Anita Augspurg: Wieder ein Schlag ins Antlitz der Frau, 1905)
2. September 1974
Der Spiegel titelt: Frauen lieben Frauen – Die neue Zärtlichkeit und lanciert damit das Schlagwort von der ‚Neuen Zärtlichkeit’ zwischen Frauen. Der Spiegel stellt fest: „Jede vierte Frau ist sich nach Kinsey bewusst, dass sie schon einmal mit sexueller Erregung auf eine andere Frau reagiert hat.“
„Wir wurden schon als Lesben beschimpft, bevor wir selber wussten, dass wir welche waren“, hatte die amerikanische Feministin Robin Morgan Anfang der 70er Jahre gesagt. Und in der Tat: Innerhalb der Frauenbewegung war nicht nur eine Minderheit von schon zuvor homosexuellen Frauen engagiert. Im Zuge des gemeinsamen Engagements der Frauen verliebte sich auch so manche bis dahin heterosexuelle Frau in die Feministin von nebenan. Aus der ‚Neuen Zärtlichkeit’ wurde so manches Mal die ‚Neue Bisexualität’ oder die ‚Neue Homosexualität’.
20./21. September 1974
In Bochum findet ein Nationaler Frauenkongress mit 13 Frauengruppen statt. Zentrale Themen sind der § 218, der Ihns/Andersen-Prozess, Homo- und Heterosexualität sowie geplante Publikationen wie zum Beispiel das Frauenjahrbuch zum Stand der Frauenbewegung, das das Frankfurter Frauenzentrum herausgeben will.
Herbst 1974
Gleichzeitig in der BRD und der DDR erscheint der Roman der Ostberlinerin Irmtraud Morgner Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Der phantastisch-realistische ‚Montage-Roman’, der zu dieser Zeit auch schon im Westen bekannten Schriftstellerin, ist der erste offensiv feministische Text aus der DDR.
Der Inhalt: Im mittelalterlichen Frankreich der Troubadoure werden die Seelen eines weiblichen und eines männlichen Säuglings verwechselt. Der Junge kümmert dahin, während das Mädchen auf einer Zeitreise durch die Welt zieht. Der Text findet literarisch wie inhaltlich starke Beachtung. Morgner gilt ab jetzt, neben Christa Wolf, als Vorzeigefeministin der DDR. In der Folge wird die bekennende Sozialistin und Feministin Irmtraud Morgner immer wieder mit der Stasi und der Zensur in Konflikt geraten. 1990 stirbt Morgner an Krebs. Ihr letztes Interview gibt sie, noch kurz vor der Wende, in EMMA.
1. Oktober 1974
Im Mordprozess gegen Marion Ihns und Judy Andersen ergeht das Urteil. Beide Frauen werden für den Auftragsmord am Ehemann von Marion Ihns zu lebenslänglich verurteilt. Die Geschichte der Frauen – die Vergewaltigung beider in der Kindheit, die Misshandlungen von Marion Ihns durch ihren Ehemann – finden bei dem Urteil keine Berücksichtigung. Frauengruppen aus ganz Deutschland demonstrieren nach der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude in Itzehoe. Motto: „Die Mordanklage ist Vorwand – am Pranger steht die lesbische Liebe!“ Flugblatt + Spiegel-Artikel
In einem Beitrag für konkret schreibt Alice Schwarzer: „Seit Wochen zelebriert eine männerdominierte Presse, wie man aus einem Mord-Prozess einen Lesben-Prozess macht.“
Gegen die reißerische und diffamierende Berichterstattung protestieren nicht nur die Frauengruppen, sondern auch – bisher einmalig in der deutschen Mediengeschichte – 136 Journalistinnen und 36 Journalisten beim Deutschen Presserat. Der spricht eine Rüge aus.
15.-17. November 1974
Der Internationale Frauenkongress, den die Frauenkonferenz in Cambridge geplant hatte, findet in Frankfurt statt. Rund 600 Frauen aus 18 Ländern nehmen teil. Anlass ist das für 1975 proklamierte UNO-‚Jahr der Frau’, mit dem die Vereinten Nationen auf die internationale Frauenbewegung reagieren. Die Kongressteilnehmerinnen planen zahlreiche feministische Aktivitäten für das ‚Jahr der Frau’ vom ‚Beischlaf-Streik’ bis zum ‚Tribunal gegen die Verbrechen an Frauen’.
In das deutsche Kuratorium zum ‚Jahr der Frau’ ist mit Helke Sander nur eine Vertreterin der autonomen Frauenbewegung berufen worden. In ihrer Antrittsrede greift sie andere Kuratoriumsmitglieder wie den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer oder den katholischen Bischof Tenhumberg scharf an.
Dezember 1974
Der erste Frauenkalender erscheint. Herausgeberinnen sind Ursula Scheu, Alice Schwarzer, Hilke Schlaeger, Sabine Zurmühl und Renate Bookhagen. Die Herausgeberinnen entdecken bei ihrer Recherche verschüttete Texte der Ersten Frauenbewegung. „Wir haben gelernt – und das war wohl die überraschendste Erfahrung – welches Ausmaß auch die Tradition der deutschen Frauen beim Kampf um die Befreiung hat. Die waren vor 100 Jahren schon teilweise weiter, selbstbewusster, klarsichtiger und entschlossener als wir es heute sind. Das hat uns bestärkt.“ Der Frauenkalender, eine Art feministische Chronik aktueller und historischer Ereignisse, wird bis 2000 erscheinen.