(1807–1884)
„Meine Natur besteht im Widerstand gegen das Unrecht, nicht in der frommen Duldung des scheinbar Unvermeidlichen.“
Johanna Friederieke Louise Dittmar wird am 7. September 1807 in Darmstadt geboren. Sie wächst in einem akademisch gebildeten Haushalt auf: Ihr Vater Heinrich Karl Dittmar, ist Finanzbeamter am herzoglichen Hof, auch die Mutter Friederike Caroline stammt aus einer Beamtenfamilie. Tochter Louise spürt früh ihre geistige Begabung, darf ihr aber nicht nachgehen. Ein Studium ist nur für ihre acht Brüder vorgesehen. Diese Ungleichbehandlung prägt das Mädchen früh: „Seit meiner frühesten Jugend empfand ich nichts schmerzlicher als die Nichtachtung und Geringschätzung meines Geschlechts.“ Auch eine Heirat mit teurer Mitgift kann sich die Familie nur für die ältere Schwester leisten. So bleibt Louise immerhin das klassische Frauenschicksal – die gesetzliche Entmündigung an der Seite eines Ehemannes – erspart. Das bildungshungrige Mädchen, das zunächst die Rolle der „Haustochter“ übernimmt, eignet sich ihr Wissen als Autodidaktin an, beschäftigt sich mit politischen, juristischen und philosophischen Fragen. Besonders begeistert sie sich für den Philosophen Feuerbach, mit dem sie ab Mitte der 40er Jahre eine intensive Korrespondenz führt und der sie bei ihren späteren publizistischen Projekten unterstützt.
Wohl spricht man viel von Freiheit für alle, aber man ist gewöhnt, unter dem Wort »alle« nur Männer zu verstehen und muß mißtrauisch fragen: Ist auch das weibliche Geschlecht darunter begriffen?
Doch erst nach dem Tod der Eltern beginnt die nun von ihren Verpflichtungen befreite 33-jährige Tochter zu schreiben. Geprägt durch das fortschrittliche Klima in ihrer Familie – Vater und Bruder Hermann waren bekennende Demokraten und Republikaner – ist Dittmars zentrales Thema die soziale Frage. 1845 erscheint – noch anonym – ihr erstes Werk ‚Bekannte Geheimnisse’, eine Satire auf die angepasste Biedermeiergesellschaft und deren Hang zu Militarismus und Religiosität. Schon hier bezieht Dittmar in ihre Sozialkritik die Geschlechterfrage ein: „Nach dem neuesten Rechenexempel des vollkommenen Staates muss der ganze Mensch darin aufgehen, nichts durfte übrig bleiben als eine Null, und das war die Frau.“
Dittmar sieht in der Dominanz des männlichen Prinzips das zentrale Problem, das es zu lösen gilt. Erst ein Umbau der Gesellschaft, der aus dem männlichen Prinzip ein menschliches Prinzip mache und die Eigenschaften der Materie und des Geistes beiden Geschlechtern zugestehe, könne wirkliche Veränderung mit sich bringen. „Mit unserer Revolution beginnt tatsächlich eine neue Stufe der Entwicklung (…), die umfassendste, welche je die Gesellschaft neu gestaltete.“
Diese Vorträge machen Louise Dittmar als Philosophin und Frauenrechtlerin über Darmstadt hinaus bekannt. Bald ist sie zu Vortragsreisen in vielen deutschen Städten unterwegs. Anfang 1849 macht sie durch ein neues Projekt von sich reden: Sie gründet eine Zeitschrift; ,Die sociale Reform : eine Zeitschrift für Frauen und Männer‘ ist gedacht als Bildungsorgan für Frauen und politisches Diskussionsforum. Die erste Ausgabe erscheint im Januar 1849, noch vor Louise Otto-Peters Frauen-Zeitung. Allerdings muss das Monatsblatt schon nach vier Ausgaben wieder eingestellt werden.
Nach dem neuesten Rechenexempel des vollkommenen Staates muss der ganze Mensch darin aufgehen, nichts durfte übrig bleiben als eine Null, und das war die Frau.
Ein zentraler Aufsatz, der in ,Die sociale Reform‘ erscheint, wird ein Jahr später noch einmal als Einzelschrift nachgedruckt: ‚Das Wesen der Ehe’. Hier kritisiert Dittmar – Jahrzehnte vor der Sexualreformerin Helene Stöcker – die gesellschaftliche Doppelmoral und fordert das Recht auf Sinnlichkeit und Erotik auch für Frauen. Die so genannte Konvenienzehe verurteilt sie scharf als das „fluchwürdigste Verbrechen, welches der Staat an seinen Angehörigen begeht“ und erklärt die Liebe als einzigen zulässigen Grund für eine Eheschließung. Die staatliche Ehe betrachtet sie als rechtswidrigen Eingriff in die Privatsphäre. „Fragen wir nach den Ursachen für diese Einmischung, dann finden wir alle in dem ökonomischen Gesichtspunkt vereinigt, hervorgegangen aus dem uralten Vorrecht des Besitzes und der Gewalt, welchem das Bestreben, bevorrechtete Personen, Klassen und privilegierte Stellungen zu erhalten und zu beschützen, folgte. Die politische Stellung des Mannes dem Weibe gegenüber ist die des Patriziers zum Plebejer, des Freien zum Sklaven.“
Lange gab es über die brillante Vordenkerin kaum biografische Angaben, auch ihr Werk schien größtenteils zerstört. Erst Gabriele Käfer-Dittmar entdeckte die Schriften ihrer Vorfahrin wieder und veröffentlichte sie 1992 in ihrem Buch ‚Un-erhörte Zeitzeugnisse’ im Justus-von-Liebig-Verlag. 2005 erschien von Christa Nagel die Dissertation über Louise Dittmar ‚In der Seele das Ringen nach Freiheit’ (Helmer).
Biografie chronologisch
7.9.1807
Johanna Friederike Louise Dittmar wird als Tochter des Oberfinanzrats am herzoglichen Hof, Heinrich Karl Dittmar, und der Beamtentochter Friederike Caroline Dittmar geboren. Sie ist das siebte von zehn Kindern.
1821
Nach dem Besuch der Mädchenschule versorgt Louise als „Haustochter“ gemeinsam mit ihrer Mutter den Haushalt.
1839/40
Die Eltern sterben.
1845/46
Louise Dittmar veröffentlicht anonym erste Texte zu philosophischen Fragen, darunter ‚Skizzen und Briefe aus der Gegenwart’ und ‚Der Mensch und sein Gott in und außer dem Christenthum’.
1847
Dittmars erstes Werk unter ihrem Namen erscheint: ‚Vier Zeitfragen : beantwortet in einer Sitzung des Mannheimer Montag-Vereins’.
Jan.1849
Die erste Ausgabe von Dittmars Zeitschrift ,Die sociale Reform : eine Zeitschrift für Frauen und Männer' erscheint. Nach vier Ausgaben wird sie eingestellt. Dittmars Aufsatz ,Das Wesen der Ehe' erscheint auch 1849.
Ab 1850
Dittmar veröffentlicht nicht mehr.
1880
Dittmar zieht zu den Töchtern ihrer Schwester nach Bessungen bei Darmstadt.
11.7.1884
Louise Dittmar stirbt in Bessungen.
Textauszüge
Die geträumte männliche Natur
Die geträumte männliche Natur
Louise Dittmar, 1845
Ich bin mißtrauisch gegen alle Charakteristik der Frauen, die von ihren Antipoden, den Männern, aus geht, zumal wenn diese, wie so häufig, nur Einen Zug erfaßt haben und diesen überall verfolgen und überall allein finden und gelten lassen wollen. Es ist oft viel Wahres daran und ebenso viel Unwahres. › mehr
Zum ersten Mal spricht eine Frau sich öffentlich über Gewissensfreiheit aus
Zum ersten Mal spricht eine Frau sich öffentlich über Gewissensfreiheit aus
Louise Dittmar, 1847
Das ganze Leben steht der Frau feindlich gegenüber, und es erfordert nicht nur moralischen Mut, es gehört Begeisterung für eine uns belebende Idee dazu, um allen Hemmnissen entgegenzutreten. [...] › mehr
Wider das verkochte und verbügelte Leben der Frauen
Wider das verkochte und verbügelte Leben der Frauen
Louise Dittmar, 1849
Wie der Geist aus allen Verhältnissen entschwunden und in ein mechanisches Getändel ausgelaufen ist, zeigen alle unsere Beschäftigungen, vor allem die der Frauen und des häuslichen Lebens. › mehr
Die männliche Bevormundung
Die männliche Bevormundung
Louise Dittmar, 1849
Das weibliche Wesen ist in unserem Staats- und geselligen Leben gänzlich verneint. Der Beweis wird uns nicht schwerfallen, die Tatsachen selbst sind Zeugen, Kläger und Richter. › mehr
Das Wesen der Ehe
Das Wesen der Ehe
Louise Dittmar, 1849
Ehe ist die Vereinigung zweier Personen verschiedenen Geschlechts, die innigste Verbindung von Mann und Weib. Die Verbindung zweier Wesen beruht auf der Anziehungskraft. › mehr
Artikel über Louise Dittmar
Un-erhörte Zeitzeugin... Louise Dittmar (1807-1884)
Un-erhörte Zeitzeugin... Louise Dittmar (1807-1884)
Barbara Obermüller, 1999
Kein Bild ist vor ihr erhalten, ein großer Teil ihrer Manuskripte und Briefe ist im zweiten Weltkrieg verbrannt, ihr Grab auf dem alten Friedhof existiert nicht mehr. Niemand dachte mehr an sie. › mehr
Bücherschau : Soziale Reform ; eine Zeitschrift für Frauen und Männer
Bücherschau : Soziale Reform ; eine Zeitschrift für Frauen und Männer
Louise Otto, 1849
Das ziemlich gleichzeitige Erscheinen dieser Monatsschrift mit unsrer wöchentlichen Zeitung zeigt uns besser als alles, wie überall in der Frauen-Welt ein Drang sich kund gibt, an der allgemeinen Bewegung sich zu beteiligen und aus dem bisherigen passiven Verhalten, dem Stillstand, zu einer aktiven Stellung vorzudringen. › mehr
Literaturhinweise
Primärliteratur
Dittmar, Louise (1845): Skizzen und Briefe aus der Gegenwart. - Darmstadt : Leske, 124 S.
Dittmar, Louise (1847): Vier Zeitfragen : beantwortet in einer Sitzung des Mannheimer Montag-Vereins. - Offenbach : André, VIII, 26 S.
Dittmar, Louise (1849): Das Wesen der Ehe : nebst einigen Aufsätzen über die soziale Reform der Frauen. - Leipzig : Wigand, 120 S.
Zeitschriften herausgegeben von Louise Dittmar
Die sociale Reform : eine Zeitschrift für Frauen und Männer. Hrsg. 1849 [nur 4 Hefte erschienen]
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen von Louise Dittmar als Autorin oder Herausgeberin: PDF-Download
Sekundärliteratur
Nagel, Christine (2005): „In der Seele das Ringen nach Freiheit“ – Louise Dittmar : Emanzipation und Sittlichkeit im Vormärz und in der Revolution 1848/49. - Königstein/Taunus : Helmer, 320 S.
Goetzinger, Germaine (1993): Soziale Reform der Geschlechterverhältnisse im Vormärz: Louise Dittmars Ehekritik. - In: Rationale Beziehungen? : Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß. - Reese, Dagmar [Hrsg.]. Frankfurt/M. : Suhrkamp, S. 270 - 294
Käfer-Dittmar, Gabriele [o.J.]: Louise Dittmar: 1807-1884. - In: Vöge, Gerda ; Käfer-Dittmar, Gabriele ; Dierks, Margarete: Sie gingen voran : vier bedeutende Darmstädter Frauen des 19. Jahrhunderts. - Darmstadt : Schlapp, S. 38 - 81
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen, die Louise Dittmar zum Thema haben (nach Jahr absteigend sortiert): PDF-Download
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