Otto-Jörg Weis, 1976
Im Berliner Krisenzentrum sollen mißhandelte Frauen lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen
Für Erin Pizzey, die redefreudige Leiterin des 1971 gegründeten Londoner Frauenhauses – einem Krisenzentrum für mißhandelte und gequälte Frauen – , scheint die ganze Angelegenheit offenbar recht einfach zu sein: „Immer, wenn wir ein brauchbares leeres Haus gesehen haben“, erklärte sie vor wenigen Tagen den etwa 800 Frauen (und ein paar Männern) auf einer Diskussionsveranstaltung in der Westberliner Technischen Universität, „haben wir es besetzt. Niemand hat uns gehindert, und so haben wir jetzt 20 Häuser. In diesem Jahr haben wir auch ein leerstehendes Hotel genommen. Jetzt bauen wir es um.“ In Großbritannien, wo die Gesellschaft noch nicht so brutalisiert sei, sei wenigstens dies von Vorteil: man könne nicht gleich erschossen werden, wenn man ein Haus besetze. Daß Erin Pizzey demnächst aber wegen völliger Überbelegung ihrer Einrichtungen vor den Kadi und dann unter Umständen für drei Monate ins Gefängnis muß, zeigt freilich, daß auch in London Frauenhäuser in einer eher feindseligen Umwelt bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken.
Den Westberliner Initiatoren des ersten Frauenhauses auf deutschem Boden steht gewiß kaum weniger an Widerstand bevor als der englischen Pioniereinrichtung, und das nicht nur wegen der unterschiedlichen Behandlung von Hausbesetzungen durch die Polizei. Ein Gebäude steht inzwischen zwar zur Verfügung. Vor wenigen Tagen hat der Senat im Grunewald ein bisher vom Roten Kreuz genutztes großes Haus gemietet, einen ehemaligen Repräsentationsbau eines prominenten Rechtsanwalts aus der Zeit der Jahrhundertwende. Die Finanzierung der laufenden Kosten ist einigermaßen gesichert, wenigstens für die ersten drei Jahre, in denen der Bund die auf jährlich 450 000 Mark geschätzten staatlichen Zuwendungen wegen des Modellcharakters der neuen Einrichtung zu 80 Prozent übernehmen will. Der Senat trägt den Rest. Ein Trägerverein, zusammengesetzt aus vernünftigen Frauen aus dem politischen Bereich und einer siebenköpfigen Fraueninitiative aus der Bevölkerung, hat sich konstituiert und noch für dieses Jahr die Eröffnung vorgesehen.
Auch weiß man aus den britischen Erfahrungen im wesentlichen, welche Frauen man zu erwarten hat. Es. sind nach einer Londoner Übersicht, ausgebreitet auf einem work shop im Juni dieses Jahres, Frauen, deren Männer sie mit den Resten der zertrümmerten Wohnungseinrichtung geprügelt, mit dem Kopf an die Wand geschlagen, gefesselt und gequält, getreten, buchstäblich zerbrochen haben. Aus 7000 Fällen binnen dreier Jahre gefiltert, ergibt sich, daß die psychische und physische Deformation durch Brutalität an Gesellschaftsschichten nicht gebunden ist, allenfalls — so Erin Pizzey — an den statistischen Zusammenhang, daß „Männer, die ihre Frauen schlagen, in ihrer Kindheit schlecht behandelt worden sind. Wir stellen deshalb auch nicht die Männer in Frage, sondern eine Gesellschaft, die solches zuläßt.“
Doch was man mit einem solchen Frauenhaus in West-Berlin auslösen kann, weiß keiner. Ilse Reichel, die sozialdemokratische Jugend- und Familiensenatorin West-Berlins, vermag zwar zu referieren, daß bei den Familienberatungsstellen rund 12 Prozent der ratsuchenden Frauen von sich aus über Mißhandlungen durch Ehemänner oder Lebensgefährten berichten. In jedem Westberliner Bezirk sind dies bis zu 100 Fälle, mithin mehr als 1000 Frauen, die nicht nur tendenziell, sondern auf Anhieb als dringend Bedürftige für die nur 80 Plätze des neuen Westberliner Frauenhauses in Frage kämen.
Niemand weiß vor allem, ob eine solche Einrichtung für viele gequälte Frauen nicht erst die Voraussetzung schafft zu einer Entscheidung für einen eigenen Weg, so wie es eine geschlagene Engländerin am Dienstag in der Technischen Universität darstellte: „Früher hatte ich zu Hause immer Angst, weil ich dachte, ich bin die einzige, die ständig geschlagen wird.“ Erin Pizzey jedenfalls, auf fünfjährige Erfahrung blickend, meint warnend: „Sie werden sehr schnell überfüllt sein, viel schneller, als sie denken.“ Zumal da auch in West-Berlin wie nach britischem Vorbild das Frauenhaus auf alle Fälle auch ein Haus „der offenen Tür“ sein soll, in dem jede Frau samt Kindern, zumindest zeitweilig, Asyl finden soll, wenn dies irgendwie machbar ist.
Auch wenn die neue Einrichtung amtlicherseits bereits beschlossen, besiegelt und genehmigt ist — die Widerstände sind weiterhin noch erheblich, so daß man das Jawort für das Frauenhaus durch SPD und FDP fast mutig nennen darf. Wie ein roter Faden zieht sich durch die vierstündige Diskussion in der Technischen Universität jenes aus allen gesellschaftlichen Richtungen kommende irrationale „Argument“, die betroffenen Frauen, die das Krisenzentrum in Selbstbestimmung allein verwalten sollen, könnten dies doch nicht ohne Männer tun. Da hilft auch wenig der Einwand von Frau Reichel: „Es gibt so viele Vereine, denen nur Männer angehören, warum soll es nicht einen Verein geben, dem nur Frauen angehören.“ Hemmend ist die Haltung der Christdemokraten, die sich am besten durch einen Satz widerspiegeln läßt, mit dem der Landesvorsitzende Peter Lorenz im Sommer den neuen Justizsenator Professor Jürgen Baumann abzuqualifizieren versuchte: „Ich kenne ihn nicht, aber ich höre, er ist ein Linker.“ Beim Frauenhaus heißt es analog, es werde von Linken gesteuert.
Solchen Eindrücken widerspricht nur scheinbar, daß wenigstens auf der Diskussionsveranstaltung die Abgeordneten der drei im Stadtparlament vertretenen Parteien derart wohlwollend daherredeten, daß eine Frauenrechtlerin auf dem Podium verdutzt feststellte, sie müsse „erst mit dem Problem fertig werden, daß plötzlich alle so tun, als hätten sie sich schon immer für Frauenfragen eingesetzt“. In Wahrheit sind die bürokratischen Hürden, die das Frauenhaus begleiten werden, so erheblich, daß sie sich nach Bedarf zu einem undurchdringlichen Gestrüpp ausfächern lassen. Manch einen im Auditorium maximum beschlich — überspitzt gesehen — der Verdacht, daß womöglich Ilse Reichel als Senatorin ähnlich wie Erin Pizzey die Auseinandersetzung mit Gerichten und Gefängnis riskieren müßte, um in einer für solche Frauenprobleme wahrlich nicht gestalteten Rechts- und Verordnungswelt ein Frauenhaus durchzusetzen. Denn im Prinzip sollen Frauen, die in dieses Krisenzentrum flüchten, dort für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder selbst aufkommen — um ein Beispiel zu nennen. Wenn dies nicht möglich ist? Das Bundessozialhilfegesetz kommt nach dem Buchstaben des Gesetzes nur dann zum Zuge, wenn keine näheren Angehörigen zur Unterstützung zu Verfügung stehen – der nächste Angehörige von Frauen, die geschlagen wurden, ist in der Regel aber immer der Mann, der geprügelt hat.
‚“Hier wird nur ein sehr elastischer Umgang“ mit geltendem Recht helfen können. Fragen der Schulpflicht sind ebenso ungeklärt wie die des polizeilichen Melderechts, obwohl sich der Westberliner Polizeipräsident Klaus Hübner am Zustandekommen und Funktionieren des Frauenhauses selbst öffentlich „sachlich interessiert“ zeigt. Denn: „Uns Polizisten ist die zuweilen unerträgliche Situation bei Streitigkeiten der Ehe- beziehungsweise Lebenspartner untereinander bekannt. Durch die Einrichtung eines Frauenhauses könnte verhindert werden, daß ständige Streitigkeiten zum Nachteil des schwächeren Partners, zur Körperverletzung oder zu schlimmerem führen.“
Schließlich wird es mit einem vorübergehenden Asyl vor Brutalitäten in dem Grunewalder Krisenzentrum allein nicht getan sein. Frauen nämlich, die mißhandelt wurden, müssen nach allen Erfahrungen Selbstvertrauen erst wieder lernen, müssen sich — so die Berichte aus Familienfürsorgestellen — aus ihrem Problemgeflecht mühsam erst so weit herausentwickeln, daß sie nicht (wie nur allzu häufig beobachtet) nach Lösung einer verhängnisvollen Bindung wieder in eine neue, ähnlichen (sprich: wieder brutalisierte) Charakters verfallen. Dazu bedarf es Ausbildungsangeboten. Dazu bedarf es in der zweiten Stufe der Bereitstellung von Wohnungen. Doch die Wohnungsberechtigungsgenehmigungen im sozialen Wohnungsbau sehen bislang jedenfalls nicht vor, daß Frauen mit ihren Kindern sich zusammentun und in Wohngemeinschaften eigene Selbsthilfe organisieren können.
Zuletzt auch wird sich der Trägerverein im Laufe der letzten Monate zumindest in einem Punkt selbst noch als lernfähig erweisen müssen, jedenfalls, soweit es nach Erin Pizzey geht. Die Leiterin des Londoner Frauenhauses („Männer? Eine schwierige Sache“) hat jedenfalls für den Bereich der Kinder männliche Kindergärtner als notwendig erkannt, weil „Arbeit mit Kindern von seiten der Männer wichtig ist, damit die Kinder erfahren, daß Männer anders sein können als nur brutal“.
Otto-Jörg Weis, Frankfurter Rundschau, 29. September 1976