Alice Schwarzer: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen

Alice Schwarzer, 1975

Bis in die Betten gingen die vom „Kleinen Unterschied“ ausgelösten Diskussionen. Das Buch trug viel dazu bei, daß Frauen begannen, sich auch in diesem Bereich Fragen zu stellen: Was will ich eigentlich und – will ich überhaupt?! Am exemplarischen Beispiel der Sexualität untersucht der „Kleine Unterschied“ die Funktion der sogenannten privaten Beziehung zwischen Mann und Frau bei der Unterdrückung der Frauen. Es war Alice Schwarzers drittes Buch (beim ersten ging es um die Abtreibung, beim zweiten um die Arbeit – die bezahlte und die unbezahlte). Seither ist die Theorie und die Praxis der Sexualität von Frauen und zwischen Frauen und Männern nicht viel weiter gekommen. „Der kleine Unterschied“ bleibt – leider – aktuell.

Fast immer, wenn ich in den letzten Jahren mit Frauen geredet habe, egal worüber und egal mit wem – ob mit Hausfrauen, Karriere-Frauen oder Aktiven aus der Frauenbewegung -, fast immer landeten diese Gespräche bei der Sexualität und bei den Männerbeziehungen dieser Frauen. Auch und gerade Frauen, die sich in anderen Bereichen scheinbar weitgehend „emanzipiert“ hatten, blieben in ihrem sogenannten Privatleben rat- und hilflos. Am schlimmsten ist es in der Sexualität: Die „Sexwelle“, Kolle und Reich brachten den Frauen nicht mehr Freiheit und Befriedigung, sondern mehr Selbstverleugnung und Frigidität. Nachdem ich mich sehr gründlich mit Problemen wie Abtreibung, Berufsarbeit und Hausarbeit beschäftigt habe, ist mir klar geworden, daß die Sexualität der Angelpunkt der Frauenfrage ist. Sexualität ist zugleich Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen in allen Lebensbereichen.

Hier fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewußtsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und der weiblichen Ohnmacht. Hier entzieht sich scheinbar „Privates“ jeglicher gesellschaftlichen Reflexion. Hier wird die heimliche Wahrheit mit der öffentlichen Lüge zum Schweigen gebracht. Hier hindern angstvolle Abhängigkeit und schamerfüllte Isolation Frauen daran, zu entdecken, wie sehr sich die Schicksale gleichen . . .

Das aufzubrechen, Frauen zu zeigen, daß ihre angeblich persönlichen Probleme zu einem großen Teil unvermeidliches Resultat ihrer Unterdrückung in einer Männergesellschaft sind, ist eines meiner ersten Anliegen. Ich habe darum alle Gespräche unter der besonderen Frage nach der Rolle, die die herrschenden sexuellen Normen in einem Frauenleben spielen, geführt. Frauen werden sich in den Protokollen wiedererkennen und entsetzt, erleichtert und wütend zugleich sein. Entsetzt, weil andere das aussprechen, was sie selbst sich oft nicht eingestehen können und wollen. Erleichtert, weil sie nicht länger allein sind, weil andere Frauen ähnliche Probleme haben. Und wütend, weil ihre Unterdrückung und Ausbeutung Absicht derer ist, die davon profitieren.

Fast immer, wenn ich in den letzten Jahren versucht habe, mit Männern über Emanzipation zu reden – egal, ob mit Freunden oder Kollegen, ob mit Rechten oder Linken -, fast immer landeten diese Gespräche beim „kleinen Unterschied“. Das sei ja alles schön und gut mit der Emanzipation, und es läge auch noch manches im argen (so die, die sich für fortschrittlich halten), aber den kleinen Unterschied — den wollten wir doch hoffentlich nicht auch noch abschaffen?

Oh, nein! Nie würden wir uns erkühnen! Selbstverständlich nicht! Bei der eternellen petite difference soll es natürlich bleiben. . . oder? Und je progressiver die Kreise sind, in denen er debattiert wird, der Unterschied, um so kleiner wird er — nur die Folgen, die bleiben gleich groß.
Es wird darum Zeit, daß wir uns endlich einmal fragen, worin er eigentlich besteht, dieser gern zitierte kleine Unterschied. Und, ob er tatsächlich rechtfertigt, daß aus Menschen nicht schlicht Menschen, sondern Männer und Frauen gemacht werden.

Lange muß man in dieser potenzwütigen Männergesellschaft nach besagtem Unterschied nicht suchen: Tatsächlich nicht sehr groß. Im schlaffen Zustand, so versichern die Experten, acht bis neun Zentimeter, im erigierten sechs bis acht Zentimeter mehr.

Und in diesem Zipfel liegt das Mannestum? Liegt die magische Kraft, Frauen Lust zu machen und die Welt zu beherrschen? Die Zipfelträger zumindest scheinen davon überzeugt zu sein . . . Ich meine, er ist nicht mehr als ein Vorwand. Nicht dieser biologische Unterschied, aber seine ideologischen Folgen müßten restlos abgeschafft werden! Denn Biologie ist nicht Schicksal, sondern wird erst dazu gemacht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern Kultur. Sie sind die in jeder Generation neu erzwungene Identifikation mit Herrschaft und Unterwerfung. Nicht Penis und Uterus machen uns zu Männern und Frauen, sondern Macht und Ohnmacht. Die Ideologie vom Unterschied und den zwei Hälften, die sich angeblich so gut ergänzen, hat uns verstümmelt und eine Kluft zwischen uns geschaffen, die heute kaum überwindbar scheint. Frauen und Männer fühlen unterschiedlich, denken unterschiedlich, bewegen sich unterschiedlich, arbeiten unterschiedlich, leben unterschiedlich. Wie das auf unsere Stirn gebrannte Stigma der „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ uns festlegt und einengt, weiß jede, weiß jeder von sich selbst nur zu gut. Nichts, weder Rasse noch Klasse, bestimmt so sehr ein Menschenleben wie das Geschlecht. Und dabei sind Frauen und Männer Opfer ihrer Rollen — aber Frauen sind noch die Opfer der Opfer.

Angst, Abhängigkeit, Mißtrauen und Ohnmacht der Frauen sind groß. Nicht einzelne versuchen, einer Mehrheit von „zufriedenen“ Frauen den Männerhaß einzureden, sondern diese einzelnen gestehen ihn nur ein. Sie wollen nicht länger darüber hinweglügen. Je näher wir hinschauen, um so tiefer wird die Kluft zwischen den Geschlechtern. Nur wer es wagt, diese Kluft auszuloten, wird sie eines fernen Tages vielleicht auch überwinden. Nur wer Existierendes eingesteht, wird es auch verändern können. Langfristig haben dabei beide Geschlechter zu gewinnen, kurzfristig aber haben Frauen vor allem ihre Ketten und Männer ihre Privilegien zu verlieren.

Schwarzer, Alice: Der „kleine Unterschied“ und seine großen Folgen: Frauen über sich ; Beginn einer Befreiung. – Frankfurt am Main, 1975. – 243 S.

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