Januar
Am 15. Januar strahlt die ARD den Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt von Rosa von Praunheim erstmals bundesweit aus. In der DDR kann der Film über das verbotene Westfernsehen empfangen werden; in Ostberlin gründet sich nun ebenfalls eine lesbisch-schwule Gruppe, die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin.[1] Gründung der gruppe H Frauen in Gießen. Die Gruppe ist in den Jahren davor Teil der örtlichen Schwulengruppe. Wegen Differenzen schließen sich die fünf Frauen als Untergruppe der Gießener Frauengruppe an.[2]
In Berlin eröffnet Deutschlands erstes Frauenzentrum. Rund 120 Frauen haben das Zentrum in der Kreuzberger Hornstraße 2 gegründet, Initiatorinnen sind hauptsächlich die Gruppe Brot und Rosen und die Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW).
Mit der Gründung des Zentrums lösen sich die HAW-Frauen zusehends von den homosexuellen Männern und wenden sich verstärkt der Zusammenarbeit mit den Frauengruppen zu. Ab 24. März 1973 ist das Zentrum täglich geöffnet. Flugblatt
17. Februar
Erstmals seit Beginn der Neuen Frauenbewegung gehen homosexuelle Frauen an die Öffentlichkeit, um gegen Diskriminierung zu protestieren. Die Frauengruppe der HAW startet eine Protestaktion gegen eine Serie der BILD-Zeitung: „Die Verbrechen der lesbischen Frauen.“ Anlass ist der Prozess gegen Marion Ihns und Judy Andersen vor dem Landgericht Itzehoe. Die beiden Frauen, die eine Liebesbeziehung miteinander haben, hatten Ihns Ehemann von einem Auftragsmörder umbringen lassen. Beide Frauen wurden in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch, Wolfgang Ihns hatte seine Frau jahrelang misshandelt, vergewaltigt und zur Abtreibung gezwungen. Das Gericht lässt Publikum und Presse während der gesamten Verhandlung zu.
Der Prozess wird nicht nur von BILD, sondern auch von zahlreichen anderen Medien mit reißerischer Berichterstattung begleitet „Wenn Frauen Frauen lieben, kommt es oft zu einem Verbrechen.“ . Dabei berichtet die BILD nicht nur über den Mord an Wolfgang Ihns, sondern spekuliert auch über seine Ursachen. Immer wieder beschreibt die BILD Sexszenen zwischen Marion Ihns und Judy Andersen, die für den Mordfall allerdings belanglos sind, um LeserInnen zu gewinnen [3]. Zusätzlich nutzt die Presse den Fall dazu, Lesben grundsätzlich als Kriminelle darzustellen. Mit Beschreibungen, dass lesbische Frauen „wie einen Mann“ eine andere Frau begehren, spricht die Presse lesbischen Frauen ihre Weiblichkeit ab und suggeriert somit eine Gefahr auf „den exklusiven Anspruch der Männer auf Männlichkeit.“ [4]
Während der Verhandlung protestieren aus ganz Deutschland angereiste Frauengruppen vor und im Gerichtssaal gegen Prozessführung und Medienhetze. Die HAW-Frauen erklären in ihrem Flugblatt zur BILD-Serie: „Den Lesern, insbesondere den Leserinnen, soll mit dieser Serie eingeimpft werden, dass Frauen, die ihre in der Gesellschaft geforderte Rolle als brave Ehefrau und Mutter nicht für sich akzeptieren wollen, sowieso nur kriminell sein können.“ Und in einem Beitrag für Konkret schreibt Alice Schwarzer: „Seit Wochen zelebriert eine männerdominierte Presse, wie man aus einem Mord-Prozess einen Lesben-Prozess macht.“[5] Gegen die diffamierende Berichterstattung protestieren 136 Journalistinnen und 36 Journalisten beim Deutschen Presserat. Der spricht eine Rüge aus.
30. März
In den USA erscheint am 30. März das Buch Lesbian Nation – The Feminist Solution von Jill Johnston. Die Radikalfeministin definiert darin weibliche Heterosexualität als „Kollaboration mit dem Patriarchat“ und plädiert für einen lesbischen Separatismus, also den totalen Bruch mit der Männerwelt. Das Buch wird 1977 im inzwischen gegründeten Amazonen-Verlag für lesbische Literatur auf Deutsch erscheinen, unter dem Titel Lesben-Nation – die feministische Lösung. Jill Johnston wird zum Idol der internationalen Lesbenbewegung der 1970er Jahre.
25. Mai
Die HAW-Frauen entscheiden bei einem Plenum-Treffen, ein Archiv zu gründen. Neben Protokollen, die seit 1972 gesammelt wurden, sollen Zeitungsartikel über lesbische Themen und Flugblätter archiviert werden. Ab 1975 wird dafür ein Zeitungsausschnittdienst bezahlt. Aus diesem Archiv der HAW entsteht im Oktober 1982 das Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek in Berlin, welches bis heute existiert.[6]
6.-13. Juni
In Berlin findet das 2. Internationale Pfingsttreffen der HAW statt. Die Anzahl der Teilnehmerinnen hat sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. 60 Frauen aus elf Ländern sind anwesend. Es folgt eine deutliche Trennung von den Männergruppen. Das Programm hat das Motto: „Die Unterdrückung der Homosexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Sexualunterdrückung”. Die HAW-Frauen sind an der Gestaltung und Umsetzung des Programms beteiligt. Der Höhepunkt der Pfingstwoche ist eine Demonstration am Pfingstsonntag mit über 500 Teilnehmenden durch Westberlin. Die Frauen stellen einen eigenen Block.
Die Frauen gründen eine Arbeitsgruppe mit dem Titel Von der Notwendigkeit für Lesben, feministisch zu werden und erklären: „In unserer patriarchalischen Gesellschaft gilt die Frau – und die schwule Frau erst recht – nicht als selbstständiges Subjekt, das seine Interessen verwirklichen kann, sondern sie bleibt Objekt und Lustobjekt der Männer. Die schwulen Frauen müssen die Funktion des genormten Rollenverhaltens der Geschlechter erkennen, sich von diesen Klischeevorstellungen lösen und gegen sie vorgehen.“
Das Pfingsttreffen verdeutlicht das Verhältnis von Schwulen und Lesben zu Beginn der 1970er Jahre. Homosexuelle Frauen identifizieren sich vielerorts als „schwule Frauen” und organisieren sich parallel in Frauen- und Schwulenbewegung. Dennoch beschäftigen sich die Frauen zunehmend mit der Frage, zu welcher Bewegung sie sich zugehörig fühlen. Sie halten fest, dass die Schwulenbewegung zu unterstützen sei – eine Zusammenarbeit mit den Frauengruppen hingegen eine „gradlinige Emanzipationsbewegung”.[7] Der Ausdruck der „schwulen Frau”, die die HAW-Frauen vorwiegend verwenden, wird nun kritisiert, „da der Volksmund damit nur Männer verbindet.” In Zukunft solle der Begriff „lesbisch” verwendet werden, obwohl er negativ behaftet sei.[8]
Sommer
Zum ersten Mal kommen auf der dänischen Insel Femø Feministinnen aus vielen Ländern zum Internationalen Sommercamp zusammen, darunter viele Lesben. Das Zeltlager, wird rasch zur Legende und einem jährlichen Happening. Erste Spannungen zwischen den „Separatistinnen“ und den „Gleichheitsfeministinnen“ entwickeln sich: Erstere wollen sich ganz von der Männergesellschaft absetzen und sich auf ein reines Frauenterrain zurückziehen. Letztere wollen weiter in die Gesellschaft hineinwirken und auf die Gleichheit von Frauen und Männern hinarbeiten. Femø wird zum Ort des internationalen Austauschs der Lesben- und Frauenbewegung.
26. August
Das ZDF zeigt die Dokumentation Zärtlichkeit und Rebellion, die Eva Müthel unter anderem auf dem Pfingsttreffen der HAW gedreht hat. Es ist der erste Film, der ausschließlich weibliche Homosexualität thematisiert. Er wird breit rezipiert. „Wenn von Homosexualität in der letzten Zeit in zunehmendem Maße die Rede sein konnte und eine neue Strafgesetzgebung einen humaneren Ausgangspunkt bezogen hat, so betraf das stets nur die männliche Seite – über weibliche Homosexualität ging man bislang schweigend oder hinter vorgehaltener Hand grinsend hinweg.“, schreibt die Zeit.[9]
Immer mehr Medien greifen – anlässlich des Ihns/Andersen-Prozesses und des politischen Aufbruchs der homosexuellen Frauen – das Thema weibliche Homosexualität auf. In der Bewegung wird der Film viel diskutiert. Die HAW-Frauen, die im Film mitwirken, üben Kritik an Regisseurin und Film: Sie bemängeln die einseitige Darstellung lesbischer Frauen und das Herausschneiden wichtiger Szenen. So fehlt zum Beispiel die Kontaktadresse der HAW-Frauengruppe, durch die eine Kontaktaufnahme durch Zuschauerinnen ermöglicht werden sollte.
Außerdem kritisieren die Frauen, dass im Film hauptsächlich lesbische Frauen gezeigt werden, die als Stripperinnen und Prostituierte arbeiten, mit denen sich die wenigsten lesbischen Frauen identifizieren können. Eva Müthel stellt die HAW-Frauen als „links-außen angesiedelte Gruppe“ dar. „So wurden wir – in logischer Fortsetzung von Striptease, Prostitution und ‚erdhaften Schaffnerinnen‘ – wiederum in eine Außenseiterrolle gedrängt. Und gerade das ist es, was wir nicht wollen.“[10]
September
Die Frauengruppe der Homosexuellen Aktion München ruft zur Mitarbeit auf. Ziel ihrer Arbeit ist es, die Isolation lesbischer Frauen zu durchbrechen und in der Gesellschaft Angst und Unsicherheit gegenüber der Subkultur abzubauen. Vielerorts bilden lesbische Frauen Lesbengruppen. Über die Anzahl von Gruppen, die zu diesem Zeitpunkt in der BRD existieren, lassen sich keine genauen Angaben machen, da viele ihre Gruppenarbeit nicht dokumentierten.
19. Oktober
Knapp 20 Frauen der HAW sowie einige solidarische Männer veranstalten ein „Kiss-in“ auf dem Berliner Ku’damm. Ziel ist es, weibliche Homosexualität öffentlich präsent zu machen, aber auch eigene Ängste zu überwinden. Die Gruppe startet vor der Neckermann-Filiale und besucht dann mehrere Geschäfte, in denen Frauen- und Männerpaare „mehr oder minder leidenschaftliche Küsse“ austauschen. Die Anregung zu dieser Aktion stammt von den Los Angeles Lesbian Feminists, die am 20. Oktober ein Kiss-in an zwei öffentlichen Plätzen in Los Angeles initiieren und im Vorfeld Lesbengruppen in der ganzen Welt dazu aufrufen, zur gleichen Zeit ähnliche Aktionen zu planen.
November
Anne Henscheid, die bisher in der Homophilen Studentengruppe Münster aktiv gewesen ist, gründet mit anderen Frauen die Homosexuellen Frauengruppe Münster.[11]
Herbst 1973
Die Lesbengruppen aus Gießen und Heidelberg berichten darüber, dass sie Schwierigkeiten hätten, Annoncen in Zeitungen zu veröffentlichen, sobald das Wort „Lesbe“ enthalten sei. Zeitungen weigerten sich, Begriffe abzudrucken, die im Zusammenhang mit Homosexualität stünden.
Herbst 1973
Die Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff veröffentlicht mit „Psychologie der Lesbischen Liebe“ eine empirische Studie über weibliche Homosexualität.
Unsere Kleine Zeitung würdigt die Autorin später in ihrer ersten Ausgabe für ihren bedeutenden Beitrag „zur Humanisierung des menschlichen Zusammenlebens, zur gegenseitigen Achtung und Toleranz […]“ Außerdem zeige sie „unseren Schicksalsgenossinnen einen Weg, sich selbst zu verstehen und annehmen zu lernen, ein angstfreieres Leben führen zu können.“[12]
[1] Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchhut, Franziska: „Wir sind keine Utopistinnen“ – Lesben in der DDR. In: Dies.: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, S. 95-104, hier S. 98.
[2] Rundbrief für Lesben Nr. 1, 1975. (PD.LE.11.01-1975).
[3] Vgl.: Bayramoğlu, Yener: Die kriminelle Lesbe. Die Kriminalisierung des lesbischen Subjekts in den 1970er-Jahren in der BILD-Zeitung. In: Ders. [Hrsg.]: Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen BoulevARDpresse, Bielefeld 2018, S. 223-235, hier S. 226.
[4] Vgl.: Bayramoğlu, Yener: Die kriminelle Lesbe. Die Kriminalisierung des lesbischen Subjekts in den 1970er-Jahren in der BILD-Zeitung. In: Ders. [Hrsg.]: Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen BoulevARDpresse, Bielefeld 2018, S. 223-235, hier S. 225.
[5] Schwarzer, Alice: Im Namen des gesunden Volksempfindens. In: Konkret 11 (1974). Originalmanuskript: https://frauenmediaturm.de/neue-frauenbewegung/alice-schwarzer-konkret-1974/ (PD-LE.11.07).
[6] Vgl.: Ledwa, Lara: Mit schwulen Lesbengrüßen. Das Lesbische Aktionszentrum Westberlin (LAZ), Gießen 2019, S. 18.
[7] Vgl.: Lenz, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 228.
[8] Vgl.: Lenz, ebd.
[9] Herbort, Heinz-Josef: Von Frau zu Frau. In: Die Zeit vom 07.09.1973, URL: https://www.zeit.de/1973/36/von-frau-zu-frau Zuletzt besucht am: 27.11.2020.
[10] Kommentar zum TV-Film: „Zärtlichkeit und Rebellion“ vom 26.08.73 im ZDF. In: Homosexuelle Aktion Westberlin Frauengruppe: Eine ist keine – Gemeinsam sind wir stark, HAW-Frauen, Dokumentation, S. 49.
[11] Vgl.: Aufbruch! Die Anfänge der Homosexuellen-Bewegung in Münster, URL: https://www.stadt-muenster.de/museum/ausstellungen/aufbruch-die-anfaenge-der-homosexuellen-bewegung-in-muenster.html Zuletzt besucht am: 04.12.2020.
[12] Unsere kleine Zeitung, 1, 1975, S. 15-16, hier S. 16.