(1817–1884)
„Die Befreiung des Weibes ist die vordringlichste gesellschaftliche Aufgabe.“
Die deutsche Frauenrechtlerin und Journalistin, die nach dem Scheitern der 1848er Revolution ins amerikanische Exil fliehen musste, wurde dort eine der ersten Suffragetten. Nach ihrer Flucht aus einer despotischen und gewalttätigen Zwangsehe konstatierte die junge Frau, dass „die Lage der Frauen eine absurde und der Entwürdigung der Menschheit gleichbedeutend“ sei. Als Anhängerin der demokratischen Bewegung des Vormärz veröffentlicht die alleinerziehende Mutter in liberalen Zeitungen, kämpft während der Revolution als „Flintenweib“ mit der pfälzischen Revolutionsarmee und flieht schließlich ins Exil. In ihrer neuen Heimatstadt Milwaukee wird sie an der Seite ihrer amerikanischen Schwestern Susan B. Anthony und Elisabeth Cady Stanton zu einer Pionierin der amerikanischen Frauenbewegung.
Mathilde Franziska Anneke wird am 3. April 1817 als Mathilde Franziska Giesler in Oberlevinghausen an der Ruhr geboren. Sie ist das älteste von zwölf Kindern und wächst auf dem Gutshof, den Vater Karl verwaltet, relativ frei von Rollenzwängen auf. Als der Vater aber sein Vermögen bei Aktienspekulationen verliert, wird die 19-jährige Mathilde an den reichen Weinhändler Alfred von Tabouillot verheiratet, um so die Familienfinanzen zu sanieren. Tabouillot entpuppt sich als brutaler Alkoholiker, und schon nach einem Jahr tut die junge Ehefrau etwas für die damalige Zeit Ungeheuerliches: Obwohl sie gerade erst ein Kind geboren hat, reicht sie die Scheidung ein. Die preußische Gerichtsbarkeit reagiert entsprechend: Sie verschleppt den Prozess über mehrere Jahre und gesteht der Geschiedenen schließlich eine lächerliche Unterhaltssumme zu. Diese Erfahrung ist die Initialzündung für Mathilde Franziska Gieslers Entschluss, von nun an „durch Wort und Schrift für die geistige und sittliche Erhebung des Weibes, soviel ich vermochte, zu wirken“.
Seit dem frühesten Kindesalter der Menschheit hat das weibliche Geschlecht sich in einem Zustand der Knechtschaft den Männern gegenüber befunden.
Um den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter zu verdienen, beginnt die alleinerziehende Mutter zu schreiben. Zunächst gibt sie Gebetbücher für Frauen heraus. Aber schon bald erkennt sie in der Kirche eine Institution der Unterdrückung von Frauen, die sie an ihrem „gottgewollten“ Platz halten soll. „Warum auch sollte das Weib überhaupt die schweigsame Dulderin fortan noch sein? Warum noch länger die demütige Magd, die ‚ihrem Herrn die Füße wäscht’?“ fragt sie 1847 in ihrer Schrift ‚Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen’, die sie als Verteidigungsrede für Louise Aston verfasst. Die aufrührerische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin war wegen „Ungläubigkeit“ aus Berlin verbannt worden.
Anneke glaubt nicht länger an den „trüglichen Wahn, dass wir dort oben belohnt werden für unser Lieben und Leiden, für unser Dulden und Dienen“, sondern daran, „dass wir gleich berechtigt sind zum Lebensgenusse wie unsere Unterdrücker.“
Die junge Frau, die mittlerweile in Köln lebt, beginnt nun, für die Kölnische Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung zu schreiben – die wichtigsten liberalen Blätter des Vormärz. In Köln lernt sie kommunistische Kreise kennen, zu denen auch Karl Marx sowie der Schriftsteller Ferdinand Freiligrath gehören – und Fritz Anneke, ein ehemaliger Offizier, der wegen seiner politischen Ideen aus der Armee entlassen worden war. 1848, ein Jahr nach der Heirat des Paares, wird Fritz Anneke verhaftet und seine Frau übernimmt die Redaktion seiner Neuen Kölnischen Zeitung. Wenig später wird Karl Marx der Stadt verwiesen und muss seine Neue Rheinische Zeitung einstellen. Er empfiehlt seinen LeserInnen, ihre Zuschriften künftig an das Blatt seiner Kollegin zu richten. Als deren NKZ kurz darauf verboten wird, gibt sie sie unter dem Decknamen ,Die Frauen-Zeitung‘ heraus, die allerdings schon nach der zweiten Nummer beschlagnahmt wird.
Im Frühjahr 1849 kämpft die ausgezeichnete Reiterin Mathilde an der Seite ihres Mannes, der mittlerweile aus der Haft entlassen ist, mit den letzten Aufständischen in der Pfalz. Karikaturen aus dieser Zeit zeigen das „Flintenweib“ hoch zu Ross. Nach der Niederschlagung der Aufstände flieht das Paar zunächst nach Frankreich und in die Schweiz, wo Mathilde ihre ‚Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge’ zu Papier bringt. Schließlich emigrieren die Annekes in die USA.
In Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin engagiert sich Mathilde Franziska Anneke jetzt in der Frauenbewegung und wird rasch eine ihrer Protagonistinnen. Ab 1852 gibt sie die ,Deutsche Frauen-Zeitung‘ heraus, die erste von einer Frau veröffentlichte feministische Zeitung der USA. Darin erklärt sie die „Befreiung des Weibes“ zur „vordringlichsten gesellschaftlichen Aufgabe“ und widerspricht damit den Sozialisten, die die Frauenfrage als „Nebenwiderspruch“ betrachten, der sich durch die Abschaffung der Klassen von selbst löse. Anneke vertritt das Gegenteil: Erst wenn Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen an den Geschicken der Gesellschaft mitwirkten, könne man auch die soziale Frage lösen.
Und nun zu Euch, Frauenherzen, bereitet Euch vor auf den Tag des Heils. Er kommt! Die Schranke fällt zwischen unserm Leben der Unterjochung und dem Leben vernünftiger Freiheit.
Die Emigrantin knüpft Kontakt zu den amerikanischen Frauenrechtlerinnen Elisabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony. 1853 hält Anneke ihre erste Rede auf der Women’s Rights Convention in New York und fordert das Frauenstimmrecht sowie die Abschaffung des entmündigenden Eherechts und der Doppelmoral. Ein Jahr später veröffentlicht sie ihre Erzählung ‚Gebrochene Ketten’. Als Susan B. Anthony inhaftiert wird, hält die mittlerweile fünffache Mutter Mathilde eine aufsehenerregende Verteidigungsrede. Gleichzeitig streitet sie, wie viele Frauenrechtlerinnen, auch für die Abschaffung der Sklaverei.
Während Ehemann Fritz Anneke in Italien mit Garibaldi und im amerikanischen Bürgerkrieg für die Nordstaaten kämpft, tut sich Ehefrau Mathilde mit ihrer Freundin Mary Booth zusammen. Als Anneke wegen einer Blutvergiftung die rechte Hand amputiert werden muss, stellt sie das Schreiben ein und eröffnet 1865 eine Mädchenschule, die sie bis zu ihrem Tod leitet. Mathilde Franziska Anneke stirbt am 25. November 1884 in Milwaukee.
Von der amerikanischen Frauenbewegung als Pionierin verehrt, wurde die Emigrantin Mathilde Franziska Anneke von der deutschen Frauenbewegung vergessen. 1904 berichtete Susan B. Anthony auf einer Deutschlandreise erstmals von der in den USA berühmten deutschen Frauenrechtlerin. Auch die Neue Frauenbewegung musste Anneke wieder neu entdecken. 1980 gibt Maria Wagner eine Sammlung mit Briefen und Texten von Anneke heraus. Drei Jahre später folgt eine Neuauflage der Erzählung ‚Gebrochene Ketten’ zusammen mit Reportagen, Reden und anderen Anneke-Texten im Akademischen Verlag Heinz.
Biografie chronologisch
3.4.1817
Mathilde Franziska Giesler wird als erstes Kind des Gutsverwalters Karl Giesler und der Hausfrau Elisabeth Giesler in Oberlevinghausen an der Ruhr geboren. Sie ist das älteste von zwölf Geschwistern.
1836
Die 19-Jährige wird aufgrund finanzieller Probleme mit dem wohlhabenden Weinhändler Alfred von Tabouillot verheiratet.
1837
Mathildes Tochter Johanna wird geboren. Die Mutter trennt sich von dem gewalttätigen Ehemann und reicht die Scheidung ein. Sie zieht nach Wesel.
1839
Giesler zieht nach Münster. Dort beginnt sie mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit und gibt religiöse Texte und mehrere Lyrik-Almanache heraus.
1846
Giesler lernt den entlassenen Offizier Fritz Anneke kennen, der Mitglied im ‚Bund der Kommunisten’ ist.
1847
Giesler zieht nach Köln und heiratet dort Fritz Anneke. Ihre Streitschrift ‚Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen’ erscheint. Mathilde Franziska Anneke bekommt Zugang zu kommunistischen Kreisen um Karl Marx. Sie veröffentlicht in diversen liberalen Zeitungen.
Juli 1848
Fritz Anneke wird verhaftet. Mathilde Franziska Anneke führt die von ihm redigierte Neue Kölnische Zeitung weiter.
27.9.1848
Als die NKZ verboten wird, gibt Anneke Die Frauen-Zeitung heraus. Bereits die dritte Ausgabe wird konfisziert und die erste Frauenzeitung Deutschlands wieder eingestellt.
Sohn Fritz kommt zur Welt.
Mai 1849
Mathilde Franziska und Fritz Anneke verlassen Köln, um sich an den Revolutionskämpfen in Baden zu beteiligen. Dort wird die Reiterin als ‚Flintenweib’ bekannt.
Juli 1849
Die Annekes flüchten zunächst nach Straßburg, dann in die Schweiz und emigrieren schließlich nach Amerika. Mathilde Franziska Anneke schreibt ihre ‚Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge’.
März 1850
Die Annekes lassen sich in Milwaukee, Wisconsin, nieder. Sohn Percy Shelly kommt zur Welt.
1.3.1852
Die erste Ausgabe der Deutschen Frauen-Zeitung erscheint. Herausgeberin Anneke präsentiert die Zeitung auf Vortragsreisen.
1853
Die ‚Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge’ erscheinen.
6.9.1853
Mathilde Franziska Anneke hält ihre erste Ansprache auf einer Frauenversammlung, der Women’s Rights Convention in New York.
1854
Annekes Erzählungen ‚Gebrochene Ketten’ erscheinen. Die Zwillinge Hertha und Irla kommen zur Welt.
1858
Annekes Freundschaft mit der Dichterin Mary Booth beginnt. Zwei ihrer Kinder sterben an Pocken.
1859
Fritz Anneke kämpft im italienischen Unabhängigkeitskrieg.
1860
Mathilde, Mary Booth und die Kinder folgen Fritz Anneke nach Europa und leben und arbeiten fünf Jahre lang in der Schweiz.
1865
Nach dem Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs kehrt Mathilde Franziska Anneke zurück nach Milwaukee. Dort gründet sie das ‚Milwaukee-Töchter-Institut’. Sie leitet die Mädchenschule bis zu ihrem Lebensende.
1870
Anneke vertritt die amerikanische Frauenbewegung als Delegierte im Kongress.
1880
Anneke tritt bei einer Women’s Convention zum letzten Mal öffentlich auf.
25.11.1884
Mathilde Franziska Anneke stirbt in Milwaukee.
Textauszüge
Das Weib im Konflikt mit den sozialen Verhältnissen
Das Weib im Konflikt mit den sozialen Verhältnissen
Mathilde Franziska Anneke, 1847
Louise Aston bringt teilweise in Broschüre das Schicksal ihres äußerlichen Lebens zur Kenntnis des Publikums. Auf ihre innere Gemütswelt vor dem Forum der Öffentlichkeit einzugehen findet sie sich einstweilen noch nicht berufen. › mehr
Die Verurteilung Susan B. Anthonys
Die Verurteilung Susan B. Anthonys
Mathilde Franziska Anneke, 1873
Kein größeres Hindernis gibt es, das der Verbesserung der allgemeinen Zustände mehr im Wege steht, keine schlimmere Klippe, daran die Veredlung und höhere Vervollkommnung der Menschheit scheitert, kein brutalereres Unrecht, das auf dem großen Gewisen der heutigen Gesellschaft lastet - als die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere. › mehr
Zur Eröffnung der deutschen Halle in Milwaukee (Über die Gleichberechtigung der Frauen)
Zur Eröffnung der deutschen Halle in Milwaukee (Über die Gleichberechtigung der Frauen)
Mathilde Franziska Anneke, 1872
Seit dem frühesten Kindesalter der Menschheit hat das weibliche Geschlecht sich in einem Zustand der Knechtschaft den Männern gegenüber befunden. › mehr
Artikel über Mathilde Franziska Anneke
Unsere Schwestern von gestern: Mathilde Franziska Anneke 1817 - 1884
Möhrmann, Renate (1977): Unsere Schwestern von gestern: Mathilde Franziska Anneke 1817 - 1884. - In: EMMA, Nr. 10, S. 38 - 39 : EMMA-Lesesaal
Literaturhinweise
Primärliteratur
Anneke, Mathilde Franziska (1847): Das Weib im Konflikt mit den sozialen Verhältnissen. - Textauszüge in: Frauenemanzipation im deutschen Vormärz. - Möhrmann, Renate [Hrsg.]. Stuttgart : Reclam, S. 82 - 87
Anneke, Mathilde Franziska (1853): Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge. - In: Mutterland : Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge 1848/49. - Münster : tende-Verl., 1982, S. 7 - 111
Anneke, Mathilde Franziska (1864): Gebrochene Ketten. - In: Die gebrochenen Ketten : Erzählungen, Reportagen und Reden (1861-1873). - Wagner, Maria [Hrsg.] [Nachw.]. Stuttgart : Heinz, Akad. Verl., S. 9 - 25
Wagner, Maria (1980): Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten. - Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verl., 441 S.
Kiehnbaum, Erhard (2004): "Bleib gesund, mein liebster Sohn Fritz..." : Mathilde Franziska Annekes Briefe an Friedrich Hammacher ; 1846-1849. – Berlin [u.a.] : Argument-Verl., 115 S.
Zeitschriften herausgegeben von Mathilde Franziska Anneke
Die Frauen-Zeitung. Hrsg. 1848
Deutsche Frauen-Zeitung. Hrsg. 1852
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen von Mathilde Franziska Anneke als Autorin oder Herausgeberin: PDF-Download
Sekundärliteratur
Piepke, Susanne L. (2006): Mathilde Franziska Anneke (1817-1884) : the works and life of a German-American activist ; including English translations of woman in conflict with society and broken chains. - New York, NY [u.a.] : Lang, VIII, 140 S.
Schmidt, Klaus (1999): Mathilde Franziska und Fritz Anneke : aus der Pionierzeit von Demokratie und Frauenbewegung. - Köln : Schmidt von Schwind, 205 S.
Etges, Andreas (1992): Erziehung zur Gleichheit : Mathilde Franziska Annekes Töchter-Institut in Milwaukee. - 27 S. [Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages an der Univ. Bielefeld]
Bartels, Almuth (1991): Mathilde Franziska Anneke : "Erinnerungen aus der Zeit der Erhebung Deutschlands" ; historisch-kritische Edition zweier Vorlesungen aus dem Jahre 1850. - Köln : Universität, Pädagogische Hochschule, Examensarbeit, 126 Bl.
Hanschke, Annette (1991): Mathilde Franziska Annekes Leben in Deutschland (1817-1849) : Entwicklung, Erfahrungen und politische Partizipation einer Frau in der Vormärz- und Revolutionszeit. - Köln : Universität, Neuere Geschichte, Magisterarbeit, 173 Bl.
Kohlhagen, Norgard (1990): Mehr als nur ein Schatten von Glück : Mathilde Franziska Anneke ; ein Leben in abenteuerlicher Zeit. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verl., 135 S. [Jugendbuch]
Gebhardt, Manfred (1988): Mathilde Franziska Anneke : Madame, Soldat und Suffragette. - Berlin : Verlag Neues Leben, 308 S.
Ruben, Regina [ca. 1905]: Mathilde Franziska Anneke: die erste große deutsche Verfechterin des Frauenstimmrechts. - Hamburg : Ruben, 32 S.
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen, die Mathilde Franziska Anneke zum Thema haben (nach Jahr absteigend sortiert): PDF-Download
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