Von Fräulein Anita Augspurg, cand. jur., München, 1897
Das Recht der Frau soll den Gegenstand meiner Besprechung bilden! – Wo herrscht es? Wo ist es zu finden? – Wo kann man es kennen lernen? – Das Recht der Frau ist heute noch fast überall ein theoretischer Begriff, praktisch vorhanden ist es in den Ländern der alten Welt nur in elementaren Ansätzen. Wollen wir es voll durchgeführt sehen, so müssen wir in den fernen Westen der Vereinigten Staaten wandern, oder auf einsame Inseln im Grossen Ozean, in junge Kolonialstaaten Australiens.
Was verstehen wir unter dem Rechte der Frau? – Nichts anderes, als das Recht des Menschen überhaupt, welches zwar je nach Zeit, Kultur, Rasse verschieden normiert war und ist, aber nach unseren heutigen Anschauungen ziemlich allgemein bedeutet: etwa, – das Recht, seine Persönlichkeit zu entwickeln, soweit eigene Kraft, eigener Wille und gesellschaftliche Hülfsmittel dazu vorhanden sind. Das Recht, seine Persönlichkeit durchzusetzen, soweit man dadurch nicht die Willens- und Interessensphäre eines anderen Individuums, oder der Allgemeinheit aggressiv beeinträchtigt. Das Recht, Einsicht zu nehmen in die Organisation des Gemeinwesens, welchem man als Glied angehört und sich dazu der Öffentlichen Hülfsmittel zu bedienen. – Das Recht, teilzunehmen an der Gestaltung und Umgestaltung solcher Organisation in demselben Grade, wie jedes private Glied des betr. Gemeinwesens durchschnittlich daran beteiligt ist.
Diese Definition des Rechtes der Frau, wie des Rechtes überhaupt ist summarisch lückenhaft, das weiss ich, sie kann aber in den wenigen Worten hier nicht erschöpft werden. –
Ich habe behauptet, dass das Recht der Frau heute noch an den meisten Orten fast nur in der Theorie besteht. –
Die Rechte der Glieder sind in den verschiedenen Gemeinwesen verschieden normiert, die Gesetze eines Staates umschreiben die Rechtssphäre seiner Bürger; die Linien, welche diese Gesetze bilden, sollen zugleich mit den Grenzen der herrschenden Anschauung vom Rechte zusammenfallen: wo für die Frauen innerhalb der Gesetzeslinien noch besondere Kreise und Kurven gezogen sind, da kann vom Rechte der Frau nur in sehr bedingter Form gesprochen werden.
In unseren alten Kulturländern herrscht noch eine merkwürdige Sucht nach Schnörkel- und Kringelbildungen innerhalb der geometrischen Figuren der Gesetzgebungen. Jedoch wäre es ein allzu schwarzer Pessimismus und Verkennen der sich vollziehenden Entwickelung, wenn man nicht auch hier die entschiedenste Tendenz konstatieren wollte, nach Ausmerzung und Vereinfachung dieses überflüssigen und schädlichen Zierats.
In Deutschland haben wir bereits ganz klare, einheitliche Linienführung für beide Geschlechter auf dem Gebiete des Strafrechtes, in Zukunft auch auf dem Gebiete des Zivilrechtes mit Ausnahme eines einzigen allerdings wichtigen Abschnittes. Eine um so krausere Ornamentik, welche keineswegs für unser Recht einen Schmuck bedeutet, haben wir jedoch in jenem einen Abschnitte, dem Familienrechte und im öffentlichen Rechte.
Das Strafrecht kennt merkwürdigerweise schon seit Jahrhunderten keinen Unterschied zwischen den Rechten von Mann und Frau. Von Alters gilt für die Frau dieselbe Rechtsschranke wie für den Mann. Man traut ihr nicht nur die gleiche Unterscheidung von Verbotenem und Erlaubten zu, man hält sie sogar für vollkommen zurechnungsfähig und verantwortlich für ihre Handlungen. Sie ist imstande unter Rechtskonsequenzen Diebstahl, Betrug, Mord zu begehen und die lukrativen Erwerbungen aus diesen Delikten: Gefängnis, Zuchthaus, Schaffot, fallen merkwürdigerweise auch bei den Verheirateten nicht an den Mann, sondern verbleiben ihr selbst zu Fruchtgenuss und Nutzniessung. Selbst die „weiblichen Rechtswohlthaten“, welche man früherhin nach der P. G. O. Karls V. etwa erblicken könnte in der Reservierung gewisser Todesarten für die ausschliessliche Anwendung auf Frauen, wie Pfählen, lebendig begraben, Ertränken, sind später der Anerkennug der vollen „Rechte der Frau“ auch auf Hängen, Rädern und andere Wege der Beförderung vom Leben zum Tode gewichen.
Das Fortschreiten der vom Strafrechte befolgten Tendenz hat langsam, aber doch im Prinzipe gänzlich durchschlagend zur vollen Anerkennung des Rechtes der Frau auch auf dem Boden des Zivilgesetzes geführt, sofern sie ausserhalb der Ehe steht, wenn wir das künftige bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich zum Maasstabe unserer Betrachtung machen. Und zwar, das möchte ich besonders hervorheben, ist diese prinzipielle Gleichrechtigkeit von Mann und Frau ausserhalb der Ehe von den Gesetzgebern selbst und freiwillig schon im Entwurfe aufgestellt, sie muss also notgedrungen von ihnen mit aller Konsequenz anerkannt und durchgeführt werden. Das ist aber, wie Sie aus den anderen Referaten bereits wissen, durchaus nicht der Fall, sondern die Schnörkellinien und Schlangenwindungen, welche die Rechtsstellung der deutschen Frau bezeichnen, laufen im Familienrechte noch wirr genug abseits von den geraden Strichen, welche für den Mann gelten, nicht ohne die herrschenden Rechtsgedanken des ganzen Gesetzgebungswerkes erheblich zu verwirren.
Das Grundprinzip des ganzen Gesetzes ist der Schutz des Eigentums, – durch das Eherecht ist aber für die Frau Preisgabe ihres Eigentums dekretiert. Die Wirkung der Ehe ist für den Mann in der Hauptsache Auflage gewisser Leistungen, – für die Frau ausserdem Verlust einer Anzahl der wichtigsten Rechte. Man frage einen Mann, ob er sich einem Gesetze unterwerfen würde, welches ihm vorschreibt, mit Eingehung der Ehe seinen Namen aufzugeben, sein Eigentum aus der Hand zu geben, seine Handlungen von der Autorität eines andern abhängig gemacht zu sehen!
Die Elternschaft bringt für den Vater ausser der Verpflichtung zu gewissen Lasten die Rechte der Vertretung und Verfügung: für die Mutter nur die Lasten, nicht aber die entsprechenden Rechte. Diese und andere Schnörkel unseres künftigen Gesetzes sind der Beweis, dass das Recht der Frau bei uns noch nicht praktisch existiert, theoretisch aber ist es formuliert und den energischen Forderungen nach seiner vollen Realisierung stehen die besten Bundesgenossen zur Seite: Logik und immer festeres Wurzeln in den allgemeinen Ueberzeugungen.
Die Rechtssphäre der Ehefrauen ist eingeengt durch in sie hinübergreifende Vorteile der Ehemänner: die Billigkeit und Gerechtigkeit unserer Kultur ist abgewandten Auges an diesen Auswüchsen vorübergegangen. – Woher kommt das?
Bei der Formulierung jedes Paragraphen des Gesetzbuches konnten sich die Autoren in die Lage sowohl der Berechtigten wie des Verpflichteten hineinversetzen, bei der Abfassung der Paragraphen über die Ehe immer nur in diejenige des Berechtigten. Es ist um so weniger zu verwundern, dass unter dieser Beurteilung die Eheparagraphen einseitig ausgefallen sind zu Gunsten der Männer, als bis dahin die Beteiligten selbst, die Frauen, kaum ein Bewusstsein von einem ihnen angethanenen Unrechte geäussert hatten.
Nun sie aber zum Bewusstsein dieses Unrechtes gekommen sind und sich mit grossem Aufgebote von Kraft und Energie gegen dasselbe verwahrt haben;
Nun sie unter der regen Teilnahme der öffentlichen Stimmen noch in letzter Stunde mehrere der ihnen zugedachten Zurücksetzungen von dem Gesetze abgewehrt und die wertvollsten Zugeständnisse errungen, ja ertrotzt haben, welche alles ihnen noch Verweigerte im Prinzipe erschüttern;
Nun sollten sie bei dem bevorstehenden Sturmlaufe gegen die letzten Reste der zivilrechtlichen Ungleichheiten nicht stehen bleiben. Nun sollten sie eingedenk sein, dass, so lange es sich um gewähren und verweigern handelt, nur von Gnaden, nie aber von Rechten die Rede sein kann, nun sollten sie auch auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes ihre vollen Ansprüche geltend machen.
Die deutschen Frauen haben im vergangenen Jahre und in der ersten Hälfte des jetzigen wahrhaftig einen tapferen Kampf gekämpft: zusehends sind ihre Kräfte und ihr Mut gleichsam in der Aktion gewachsen, in der letzten grossen Demonstration, am 29. Juni, am Vorabende der erwarteten Niederlage, haben sie die Blicke und die Sympathie von ganz Deutschland auf sich gerichtet und eine tapfere Vorkämpferin, Frau Stritt, konnte ihnen das stolze Wort zurufen: „Noch eine solche Niederlage und wir haben gesiegt!“ Vielleicht können wir es noch überflügeln und hoffen, auch ohne eine neue solche Niederlage den Sieg!
Nun gilt es, dass sich in der jetzt neu beginnenden Kampfeszeit die deutschen Frauen nachhaltig als die scharfen, mutigen Streiterinnen bewähren, als die sie sich im heissen Sturmlaufe der letzten Monate gezeigt haben. – Ihnen liegt vor allem die Aufgabe ob, wennschon selbst noch nicht wahlberechtigt, Einfluss auf die bevorstehenden Wahlen zu gewinnen, Stimmung zu machen für Kandidaten, von denen festes Eintreten für die Sache der Frauen sicher zu erwarten steht, nicht allein der Partei, sondern auch der Person nach. Wie sie das am besten machen können, das möchten sie von ihren englischen Schwestern lernen, welche schon lange in solcher Taktik Meister sind! Ein planvolles stetiges Arbeiten nach dieser Richtung wird den Befähigungsnachweis zu erbringen haben für die politische Reife der deutschen Frauen überhaupt, für ihren Willen und ihre Einsicht, an der nationalen Arbeit mitzuwirken auf den weiten Gebieten des öffentlichen Rechtes, von welchem sie heute noch so gut wie ausgeschlossen sind und welches nicht nur in der Berechtigung auf die öffentlichen Unterrichtsanstalten und die Wahlurne besteht, sondern in der Lösung der schweren Aufgaben der gesamten öffentlichen Wohlfahrt.
Ein Generalstab tüchtiger und erfahrener Führerinnen ist in dem ganzen Reiche, Nord und Süd, Ost und West, in Fühlung zu einander getreten; es wird sich zeigen, ob die oft gerühmte langjährige, stille Vereinsthätigkeit ihre Aufgabe erfüllt hat, ob sie der ihr obgelegenen Pionierarbeit gerecht geworden ist, ob sie die weiten Kreise vorbereitet und zur Höhe des Verständnisses der grossen, jetzt vorliegenden Ziele geführt hat! Möchten die organisatorischen Maassregeln der Führerinnen sich in den bevorstehenden Jahren stützen können auf die treue Beihilfe nicht von Tausenden, nein von Millionen und Millionen deutscher Frauen, denen es heiliger Ernst ist um ihr Recht!
(Quelle: Augspurg, Anita (1897): Das Recht der Frau. – In: Der internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin 19. bis 26. September 1896 : eine Sammlung der auf dem Kongress gehaltenen Vorträge und Ansprachen. – Schoenflies, Rosalie [Hrsg.] ; Morgenstern, Lina [Hrsg.] ; Cauer, Minna [Hrsg.] ; Schwerin, Jeannette [Hrsg.] ; Raschke, Marie [Hrsg.]. Berlin : Walther, S. 327 – 331)