Rosa Mayreder, 1921
I. Es mag dahingestellt bleiben, ob der Krieg als eine unvermeidliche Begleiterscheinung der menschlichen Zustände anzusehen ist oder sogar, wie andere meinen, als eine Art notwendiger Zuchtrute, durch die eine Regeneration verderbter Lebensverhältnisse herbeigeführt wird. Wer ihn aus der Nähe kennengelernt hat, weiß nur zu gut, daß er weit weniger »eine Schule des Opfermutes und der Entsagung« (Moltke) ist, als eine Brutstätte der Verrohung und Verwilderung, der Niedertracht und Korruption. Auch die Frage, ob der Krieg jemals durch irgendwelche soziale Veränderungen gänzlich aus der Welt zu schaffen sein kann, braucht uns nicht zu beschäftigen. Denn die menschliche Gesellschaft kämpft, seitdem sie überhaupt eine soziale Organisation besitzt, gegen vielerlei Übel, die sie bisher nicht ausrotten konnte, ohne daß sie den Kampf dagegen aufgegeben hätte.
Eines aber ist gewiß: wenn die Kriegsursachen praktisch bekämpft werden sollen, so kann es nur auf internationalem Wege geschehen. Ohne Internationalismus ist jede Auflehnung gegen den Krieg utopistisch, ja sinnlos. Deshalb liegt die erste Bedingung für die Bekämpfung der Kriegsursachen in der Herstellung internationaler Verbindungen auf der Grundlage eines echten Internationalismus der Gesinnung und in der Erkenntnis, daß das stärkste Hindernis dieser Bekämpfung in jener Überspannung des nationalen Selbstgefühles besteht, die man als Chauvinismus bezeichnet. Leider ist gegenwärtig nichts häufiger, als die Verwechslung des chauvinistischen Nationalbewußtseins mit dem berechtigten Heimatsgefühl, das eine starke Triebfeder des natürlichen Menschen bildet. Die Auswirkungen dieses Heimatsgefühles, die sich in der Bereitschaft zu Opfern für die nationale Gemeinschaft offenbaren, besitzen unstreitig ideellen Rang; und verglichen mit dem bloßen Geschäfts- oder Nützlichkeitsstandpunkt muß der nationale gewiß als der höhere gelten. Das hindert aber nicht, daß er auf der Stufenleiter der ideellen Werte hinter anderen weit zurückbleibt. Zudem wird der Nationalismus auf verhängnisvolle Weise durch den Mißbrauch befleckt, der im politischen Leben damit getrieben wird, ebenso wie durch die chauvinistische Überspannung, zu der er sich allzuleicht aufstacheln läßt. Besonders während des Krieges hat dieser Mißbrauch ganz allgemein die bessere Einsicht umnebelt, und viele, die sonst jedem Chauvinismus fernstanden, hielten es für eine »patriotische Pflicht«, jede Regung internationaler Gerechtigkeit dem Nationalbewußtsein hintanzusetzen.
Das überspannte Nationalbewußtsein gehört zu jenen ideellen Faktoren, die den Krieg, sofern er als Folge der Machtkonkurrenz unter den Völkern aufzufassen ist, in der Seele des einzelnen am wirksamsten unterstützen. Und die Kriegsmachenschaft, die von den Machthabern betrieben wird, bedient sich stets der nationalistischen Propaganda als stärkster Unterstützung der Kriegsstimmung in der Menge. Daher müssen die Frauen, sobald sie das Gebiet des politischen Lebens betreten, sich ernstlich die Frage vorlegen, in welchem Verhältnis das berechtigte Heimatsgefühl zu dem internationalen Prinzip steht, das für ihre Interessen so unvergleichliche Wichtigkeit besitzt. Allerdings – es ist schwierig und undankbar, Gefühlskomplexe, denen äußere Umstände die Macht von Leidenschaften verleihen, als intellektuelles Problem zu behandeln. Gegen Gefühle kann man eigentlich mit Verstandesgründen nicht kämpfen; Gefühle sind bei den meisten Menschen stärker als alle Logik; und wo sie in Widerspruch mit prinzipiellen Anschauungen treten, gehen sie gewöhnlich als Sieger hervor. Man glaubt im allgemeinen, dieses Überwiegen der Gefühlstätigkeit über die des Verstandes sei ein besonderes Merkmal des weiblichen Geschlechtes; aber gerade das Nationalgefühl beweist, daß die Männer ihm in gleicher Weise erliegen. Der unselige Haß unter den Nationen aber würde schwinden, sobald sich das Nationalgefühl einer vernünftigen Kontrolle unterwerfen ließe. So wie ein starkes und einheitliches Selbstgefühl sich unbeschadet aller Gemeinschaftsgefühle behauptet, so vermag auch die nationale Zusammengehörigkeit den einzelnen innerlich zu bestärken, ohne seine Menschlichkeit einzuengen. Daß jeder die Sprache, die er a|s das wunderbare Werk seiner Vorfahren übernommen hat, liebt und ehrt, um sie zu erhalten und seinen Nachkommen weiterzugeben, wie er auch den Heimatboden liebt und ehrt, auf dem seine Kindheitseindrücke sich abgespielt haben und von dessen klimatischen Bedingungen seine Eigenart in so hohem Maße abhängig ist – dagegen gibt es keinen Einwand, denn das gehört zur natürlichen Beschaffenheit des Menschen. Und ebenso natürlich ist es, daß jedem die Sitten, in denen er aufgewachsen ist, wie die Eigenschaften, die er als Vorzüge an sich selbst schätzt, an seinen Stammesgenossen besonders sympathisch sind, obwohl übrigens die Stammesverwandtschaft bekanntermaßen die feindlichen Gegensätze nicht ausschließt, die aus dem Menschen ein so mißgünstiges, zänkisch-unverträgliches Wesen machen. Aber genau wie der Eigendünkel zu einem starken und gesunden Selbstbewußtsein, verhält sich das Nationalgefühl zum Nationaldünkel, den man gewöhnlich unterschiedslos mit dem berechtigten nationalen Zusammengehörigkeitsbewußtsein verwechselt. Durch den Nationaldünkel wird die nationale Idee weit über den ihr gebührenden Raum aufgebläht. Mag man die Stärke, die der Nationalismus im Getriebe des Lebens verleiht, noch so hoch einschätzen, er bietet keine Entschädigung für die Verblendung, für den Irrtum und Mißbrauch, die er im Gefolge hat. Nicht nur, daß er an den Ursachen des Weltkrieges in hohem Grade beteiligt ist, er hat einen größeren und wertvolleren Gemeinschaftskreis fast ganz vernichtet und zerstört die Zusammengehörigkeit, die aus der gemeinsamen Kulturentwicklung hervorgeht. Europa, als Inbegriff der abendländischen Kulturarbeit, als Produkt einer aus bestimmten, gleichartigen, unveräußerlichen Bedingungen herangewachsenen Entwicklung und Lebensgestaltung, hat mit dem Kriege als Gemeinschaftskreis für die kriegsbeteiligten Völker aufgehört.
II. Durch die Frauenbewegung ist auch für die Frauen ein bestimmter Gemeinschaftskreis geschaffen worden – die Zusammengehörigkeit nach dem Geschlecht. Daß ein solcher Gemeinschaftskreis in früheren Zeiten nur unter den Männern bekannt war, bedeutet für die Frauen nichts weniger als ein Zurückgreifen auf primitive Vorstellungen und Gefühle, sondern vielmehr ihre Entwicklung vom Familienwesen zum sozialen Wesen.
Es wird noch heute von vielen als ein Mangel der Weiblichkeit betrachtet daß sie nicht sozial, sondern nur familial gerichtet ist, daß sie keine Solidaritätsgefühle kraft des Geschlechtes kennt, wie sie bei den Männern als Grundlage ihrer gesellschafts- und staatenbildenden Gaben auftreten. Dieser Einwand gegen die Weiblichkeit wird durch die Tatsache der Frauenbewegung hinfällig. In der älteren Generation der Frauenbewegung war die Auffassung ganz allgemein, daß alle Frauen ohne Unterschied sich als Schwestern betrachten müßten, so stark wirkte das Gemeinschaftsgefühl in diesen Frauen. Allerdings hat sich gegenüber den Interessen- und Meinungsgegensätzen, die ja auch unter den Frauen in den mannigfaltigsten Gestalten herrschen, dieses Schwesterngefühl nicht realisieren lassen; das hindert aber nicht, daß die Zusammengehörigkeit nach dem Geschlecht zugleich Sympathie vermöge des Geschlechtes bedeutet – wie es die alte Schwesternauffassung voraussetzte -, sondern weil die Natur selbst alle Frauen ohne Unterschied gegenüber dem männlichen Geschlecht schwer in Nachteil, gesetzt hat.
Ohne Internationalst aber ist der Gemeinschaftskreis nach dem Geschlecht, wie ihn die weiblichen Interessen fordern, nicht zu verwirklichen; er muß über die nationale Schranke hinausreichen, oder er kann seine Aufgabe nicht erfüllen. Vor dem Kriege war diese Überzeugung in der Frauenbewegung der ganzen Erde lebendig. Daß sie sich in einer Epoche, zu deren mächtigsten Götzen der nationale Chauvinismus gehört, die Freiheit der internationalen Gesinnung bewahrte, bildete eine Gewähr für ihre Unabhängigkeit wie für ihre Fähigkeit, bei einer Neugestaltung des Kulturlebens nach dieser Richtung entscheidend mitzuwirken. Mit Stolz durfte die Frauenbewegung sich sagen, daß der Gemeinschaftskreis, den sie geschaffen hatte, seinem wesentlichsten Inhalt nach mit jenen Anschauungen und Forderungen übereinstimmte, die den Gemeinschaftskreis der Humanität bilden. Ohne ein Fortschreiten der menschlichen Gesellschaft im Geiste der Humanität wird die Stellung der Frauen in keiner wie immer gearteten Gesellschaftsordnung eine freiere und gerechtere sein als bisher; wo das Recht des Stärkeren oder vielmehr die Gewalt statt des Rechtes die menschlichen Zustände bestimmt, kann die Frau auf keine wirkliche soziale Gleichstellung hoffen; denn sie ist und bleibt durch ihre generative Belastung der schwächere Teil. Der nationale Chauvinismus aber bewegt sich ganz in der Sphäre kriegerischer Werte; und es war auch von dieser Seite aus nur konsequent gedacht, daß die Frauenbewegung seine Überwindung zum Ausgangspunkt ihrer Propaganda nahm. Man kann den Frauen- Weltbund, der in einer erfinderisch gegliederten Organisation fast alle von Frauen für Fraueninteressen geleiteten Vereine der ganzen Erde umfaßt, als den ersten Schritt zur praktischen Verwirklichung des internationalen Gedankens unter den Frauen betrachten. Allerdings hat er mit Kriegsausbruch das Schicksal der proletarischen Internationale geteilt; die latente Feindschaft zwischen den Nationen, die plötzlich um sich griff, ist auch an dem Frauen-Weltbund nicht spurlos vorübergegangen und hat ihn namentlich durch die allgemein herrschende Vorstellung, daß während des Krieges internationale Beziehungen untunlich seien, in Widerspruch mit den Prinzipien gesetzt, ohne die jede internationale Organisation illusorisch wird.
Glänzend bewährt aber haben sich diese Prinzipien auf dem Haager Frauenkongreß vom April 1915, vermittelst dessen Frauen neutraler Staaten mitten im Kriege den Versuch machten, die pro gressiven Frauen aller Länder zur Abwehr der Kriegsgesinnung zu versammeln und die Mittel zu beraten, die von den Frauen zur, Beendigung des Unheils angewendet werden könnten. Obgleich die englische wie die französische Regierung den weiblichen Abgesandten ihrer Länder die Pässe verweigerten und ihnen auf diese Weise die persönliche Teilnahme an dem Kongreß unmöglich machten, versammelte er doch aus neutralen und kriegführenden Ländern über 2400 Frauen, die ein rühmliches Beispiel unerschütterlicher Prinzipientreue über die stärksten Gegenwirkungen hinaus gaben, eine Bestätigung jener internationalen Solidarität, die für die Ziele der Frauen von so unermeßlicher Bedeutung ist.
III. Wie eine Quelle, die, gewaltsam eingedämmt, nur um so reicher hervorströmt, sobald der Druck weicht, hat sich nach dem Kriege, der die Nationen so grausam auseinanderriß, der Internationalismus mächtiger als je zuvor erhoben. Die Hilfsaktionen für die durch den Krieg ins Unglück gestürzten Völker haben in der Geschichte nicht ihresgleichen. Frauen und Männer aus allen Ländern, auch aus den ehemals feindlichen, sind an diesen Hilfsaktionen im Geiste internationaler Humanität beteiligt; und in Wien, das ihnen die Rettung aus äußerster Not verdankt, darf es ausgesprochen werden: wenn es ein Äquivalent gibt für das namenlose Unheil, dem die Völker Europas durch den Nationalitätenhaß überliefert wurden, ein Äquivalent für die physische und geistige Lebenszerstörung, die der Krieg mit sich brachte, ein Äquivalent, das uns aus der moralischen Entmutigung, aus der Verzweiflung über den Tiefstand der politischen Welt aufzurichten vermag, so ist es die internationale Hilfstätigkeit, die sich in nie genug zu bewundernden Beweisen reinster Menschlichkeit entfaltet.
Dieses wunderbare Aufblühen einer neuen, umfassenderen Internationalität birgt auch das stärkste Argument gegenüber den Zweiflern, die sich sowohl gegen die pazifistische als auch gegen die internationale Richtung ablehnend verhalten, weil sie meinen, daß sie der menschlichen Natur nicht entsprechen; denn die internationale Hilfe stellt der menschlichen Natur ein eben so gutes Zeugnis aus, wie der Krieg und die Machtpolitik ihr ein schlechtes ausstellen. Wenn der Krieg die Völker der Erde durch Haß zerrissen hat – die internationale Hilfe ist es, die sie jenseits der Politik durch den Geist der Humanität wieder vereinigt.
(Textauszug aus: Mayreder, Rosa (1921): Internationalismus. – In: Frauen gegen den Krieg. – Brinker-Gabler, Gisela [Hrsg.]. Frankfurt : Fischer-Taschenbuch-Verl., 1980, S. 89 – 94; Ausführlicherer Text in: Mayreder, Rosa (1921): Die Frau und der Internationalismus. – Wien : Frisch, S. 11 – 29)