Die Frau im kirchlichen und religiösen Leben

Bertha Pappenheim, 1912

Um meinen Ausführungen die Basis zu geben, die sie zu ihrem Verständnis in weiten Kreisen brauchen, muß ich mit wenigen Worten auf einige grundlegende Unterschiede hinweisen, die für die verschiedene Entwicklung des Gemeindelebens der christlichen und der jüdischen Religionsgemeinschaften maßgebend sind.

Die jüdische Religion ist die reingeistige Eingottreligion. Sie kennt kein Dogma, keine Kirche, keine Sekten, keine Propheten, keine Mission, keine weltlichen und politischen Ambitionen. Sie ist im besten Sinne eine Privatangelegenheit, d.h. sie hat und braucht keine äußeren Mittel und Machtmittel als Bindung ihrer Angehörigen.

Die Struktur der Gemeinden ist, ihren einfachen inneren Aufgaben entsprechend, sehr einfach: ihre Mitglieder vereinen sich zum Gebet und zum Studium der Heiligen Schrift; – sie sind fest verbunden durch Ritualgesetze, die die Funktionen des Alltags vergeistigen; – und die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe, von der das ganze Leben durchtränkt ist, verwebt sie zu einer Körperschaft von idealster Solidarität und dadurch großer Widerstandskraft.

Die Funktionäre der jüdischen Gemeinden sind einerseits Gelehrte und Lehrer, deren vornehmliche Aufgabe es ist, den Gottesgedanken lebendig zu erhalten und den sozial-ethischen Inhalt der Heiligen Schrift herauszuarbeiten; – andererseits Beamte, die der Ausführung und Überwachung der sozialhygienischen Vorschriften des Rituals dienen. Im Dienste der freien Liebestätigkeit zu stehen, ist Pflicht eines jeden.

Das absolut gleiche Interesse aller an allem gibt der Verwaltung eine gesunde demokratische Tendenz, die aber, um es gleich vorweg auszusprechen, auf die Frauen keine Anwendung findet.
Die Verfolgung der Bekenner der jüdischen Religion hat dem jüdischen Gemeindeleben für Jahrhunderte jene eigentümliche Erscheinung gebracht, die in der Bezeichnung des Ghetto zu einem albekannten Begriff geworden ist. Das Verschwinden der physischen Ghettomauern ist aber nicht für alle jüdischen Gemeinden gleichbedeutend mit Religions- und Gewissensfreiheit oder mit Gleichberechtigung anderen Religionsgemeinschaften gegenüber.

Unter den gleichen religiösen Vorbedingungen sehen wir darum das Gemeindeleben der in der Diaspora verstreuten Juden sich sehr verschieden entwickeln, denn es ist abhängig von der Kultur des Volkes, das sie umgibt, und abhängig von den Widerständen, die ihnen begegnen. Es weist heute in sich selbst die schroffsten und eigentümlichsten Kontrast auf, so wie ja auch die Individuen, die den Gemeinden angehören, sich in verschiedenen Ländern verschiedenartig entwickelt haben und oft durch nichts mehr verbunden sind als durch die ununterbrochene Tradition der Eingottidee und das Gebot der Nächstenliebe. So bildet der durch Generationen in seinem Lande ansässige englische und französische Jude, der in seinem Heim, vielleicht auch im politischen Leben alle Formen der Kultur beherrschen gelernt hat, einzeln und in seiner Gemeinde den denkbar größten Gegensatz zu der Majorität der polnischen Juden, denen in ihrer Erscheinung und in all ihren Lebensäußerungen ebenso wie in der Gemeinde noch ganz das mittelalterliche Ghetto anhängt; – der freie amerikanische Jude einen Gegensatz zu dem unter Rechtlosigkeit und Knute seufzenden oder sich aufbäumenden rumänischen und russischen Juden. Und der deutsche Jude, der nicht nur die geistige Kultur seines Vaterlandes repräsentiert, sondern dem sie auch wertvolle Elemente zu verdanken hat, unterscheidet sich auffallend von dem spanischen Juden, der spanische und orientalische Wesensart assimiliert hat.

Nun sehen wir zwar die jüdische Frau den Mann in seiner allgemeinen Kulturentwicklung begleiten, dennoch ist der Abstand zwischen beiden Geschlechtern bezüglich ihrer Stellung in der Gemeinde – und das ist das Maßgebende für unsere Fragen heute – immer ein sehr bedeutender geblieben. Aber selbst für deutsche Verhältnisse, an die hier in erster Linie zu denken ist, ist es nicht möglich, einfach aus dem Spiegelbild unserer Zeit, die Stellung der Frau in der jüdischen Gemeinde ablesen zu wollen, das hieße ihr eine teils unrichtige, teils ungerechte Darstellung und Wertung zu geben.

Um diese Stellung zu erklären, ist es notwendig zurückzublicken und auf die Bestandteile eines durch die Zeit fest verbundenen Konglomerats von Gesetz, Überlieferung und Gewohnheit hinzuweisen, das für die Majorität der westeuropäischen Juden unserer Zeit als „Tradition“ nur noch schattenhaft in ihrem Unterbewußtsein existiert, für viele als Tradition der Tradition wertvolle Momente hat, von einer Minorität nur noch in dem vollen Inhalt der Überlieferung gepflegt wird.

In diesem Zusammenhänge hätten Ihnen nun der Talmundist, der Geschichtsforscher und der Kulturhistoriker viel Interessantes zu sagen, und es mag Vertretern der genannten Fächer in gewissem Sinne mit Recht vermessen erscheinen, daß eine ungelehrte Frau sich hier zu Wort gemeldet hat. Aber es ist wesentlich und für die Materie bedeutsam, daß es keine Frau gibt, oder je gegeben hat, die das zur religionswissenschaftlichen oder auch nur zur historischen Bearbeitung der Frage nötige jüdische Quellenstudium vollständig bewältigt hätte, oder das Material vom Frauenstandpunkt geprüft hätte, wie es z.B. aus parallelen Erwägungen heute von juristisch gebildeten Frauen mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Strafgesetzbuch geschieht.

Das Lehrhaus, die Pflanz- und Pflegestätte spezifisch jüdischer Geisteskultur, ist der Frau von jeher verschlossen geblieben und es wird auch dort, wo jüdische Gelehrsamkeit in ursprünglichem Geiste und in herkömmlicher Form weitergegeben wird, künftig bleiben. Wir sind also nicht nur in der Vergangenheit in den Niederschriften der Gesetze und Ritualvorschriften, der Kommentare und Überlieferungen ganz auf männliche Auffassung angewiesen, sondern auch dort, wo es sich in unserer Zeit um Übersetzungen aus den hebräischen Texten, um Auszüge oder Gruppierung des Materials nach modernen, feministischen Gesichtspunkten handeln müßte, fehlt für uns Frauen die Möglichkeit eigener kritischer Bearbeitung an den Urtexten.

Wir jüdischen Frauen müssen auch Lob und Tadel, Huldigung und Verurteilung unseres Geschlechtes, wo sie uns als Destillat einer ungeheuren Aufhäufung von Literatur entgegengebracht werden, widerspruchslos hinnehmen, so wie sie durch die Brille der männlichen Schriftgelehrten und Forscher je nach deren Ansicht und vielleicht auch durch persönliche Erfahrung gefärbt, aus den jüdischen Schriftwerken herausgelesen werden.

Deshalb dürfte es mehr den Intentionen dieses Kongresses entsprechen, eine ungelehrte Frau, die aber noch in der Tradition der Traditionen aufgewachsen ist, über das gegebene Thema zu hören, als einen Gelehrten, der wohl leicht mehr wissen, aber doch nicht vertreten könnte, worauf es heute und hier ankommt: den Maßstab modernen Frauenempfindens und lebendiger Gegenwartsanforderungen an Verhältnisse zu legen, die teils historisch verhärtet sind, teils aber noch den unversiegbaren Urquell allen sittlichen Lebens umfassen.

Um für meine Ausführungen nach keiner Richtung ein Mißverständnis aufkommen zu lassen, möchte ich ihnen eine Zweiteilung zugrunde legen und streng unterscheiden zwischen der Bedeutung der Frau in der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Stellung in derselben – einst und jetzt. Hier ist noch zu bemerken, daß vieles, was für uns westeuropäische Juden als „einst“ und überwunden zu bezeichnen ist, für viele östliche Gemeinden noch als „jetzt“ gilt, und daß dabei kulturhistorisch sehr interessante und merkwürdige Zwischenstufen und Abtönungen zustande gekommen sind.

Nach der alten traditionell-jüdischen Auffassung handelt es sich, wenn von der Frau gesprochen wird, immer nur um die verheiratete Frau, denn der orientalische Begriff des Frauentums, der in der jüdischen Gesetzgebung durchweg zum Ausdruck kommt, hat keinen Raum für weibliche Eigenart, die sich selbständig und ohne im Mann eine geschlechtliche Ergänzung gefunden zu haben, frei entwickelt.

Die Frau ist die Trägerin, Hüterin und Erhalterin des Volkes, und nur insofern ist dieser ihr ureigentümlichen Aufgabe, die die Grundlage für die Verheißung des Fortbestandes des Volkes Israel ist, gerecht wird, tritt sie in ihre volle Bedeutung ein. Das Gebot der Rein- und Heilighaltung der Ehe und der in Rücksicht auf eine zahlreich gesunde Nachkommenschaft geregelte Geschlechtsverkehr gaben der jüdischen Frau im Sinne des Gesetzes bewußt von jeher die ethische und national-ökonomische Wichtigkeit, die man durch die Sozialpolitik heute der Frau im allgemeinen wissenschaftlich und praktisch zuerkennt.

Aber wohlverstanden die verheiratete Frau und auch als solche nur die Mutter von Kindern ist es, der nach dem jüdischen Gesetz die größte Ehrfurcht und Rücksicht entgegengebracht wird. Diese tritt dann freilich nicht nur in poetischen und theoretischen Auslassungen zutage, sondern in recht deutlichen, praktischen Vorschriften und Formen, solchen, die durch das moderne Vokabularium ausgedrückt, unter den Begriff des „praktischen Mutterschutzes auf dem Boden alter Ethik“ fallen würden. Dieser Mutterschutz äußert sich sehr deutlich darin, daß nach jüdischem Gesetz die Frau keinen Ritualvorschriften unterworfen ist, die an eine bestimmte Zeit oder an einen Ort außerhalb ihres Hauses gebunden sind. Das bedeutet, daß es für die jüdische Frau nichts Wichtigeres und nichts Dringenderes geben soll als die Erfüllung ihrer Mutterpflichten, innerhalb derer sie und für die sie Zeit und Schonung braucht.

Bei der altjüdischen Hochachtung vor dem Familienleben und seiner gesunden Reinheit kann es aber nicht wundernehmen, daß neben der Verehrung der Ehefrau und der legitimen Mutter eine große Verachtung der unehelichen Mutter und des Kindes einherging. Diese Verachtung, die in dem engen Rahmen des Ghettolebens als eine schützende Hemmung vor schädlichen Ausschreitungen gewirkt haben mag, wird aber in moderner Zeit und unter modernen Verhältnissen zur Härte, denn die Freiheit und Freizügigkeit, die schwierigen Erwerbsverhältnisse, die einer rechtzeitigen Eheschließung ökonomische Schwierigkeiten entgegenstellen, die Assimilierung der Juden an das Gute und das Schlechte der für sie neuen Umwelt – wozu in erster Linie der Alkoholismus zu rechnen ist – haben auch für das Geschlechtsleben der Juden große Veränderungen vorbereitet, die unsere lebhafte Beachtung verlangen.

Aber nicht nur die rücksichtsvolle Befreiung der Frau von nach außen bindenden Verpflichtungen hat sie in eine Art von häuslicher Klausur gedrängt, die bedeutungsvolle Vorschrift früher Eheschließung und eine gewisse Angst vor geschlechtlicher Versuchung des Mannes habe die Frau vom freien Verkehr mit der Männerwelt und damit zugleich dem geistigen Leben ausgeschaltet.

Denn wenn der Jude auch durch das Gesetz an ein ausschließlich jüdisch-wissenschaftliches Studium in hebräischer Sprache gebunden war, so gab gerade dieses ihm eine scharfe geistige Schulung, die ihn zu jeder Zeit auch für andere Materien besonders aufnahme- und leistungsfähig machten.

Die Frauen blieben aber (weniger durch das Gesetz als durch lange geübtes Gewohnheitsrecht) in großer Unwissenheit. Ihre geistige Unterernährung führte zu solcher geschlechtlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit von dem Mann, daß sie sich selbst dort, wo die politische Emanzipation dem Manne geistige Freiheit brachte, viel später als er individuell zu entwickeln begann.
Unwiderleglich festgelegt ist die Zurücksetzung der Frau in der jüdischen Gemeinde dadurch, daß sie bei den Gebetversammlungen nicht mitzählt, daß sie zu dem wichtigen Akt der Thoravorlesung nicht aufgerufen wird, und daß sie die öffentliche Mündigsprechung, die jedem 13 jährigen Knaben verkündet wird, nicht erfährt.

Besonders das letztere Moment gibt dem Knaben frühzeitig ein bedenkliches Übergewicht dem Mädchen gegenüber. Durch ein religiöses Vorrecht fühlen sie sich schon von Kindheit an dem weiblichen Geschlecht überlegen.

Die gleiche unlogische Zumessung von Bedeutung und Stellung der Frau innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sehen wir ferner da, wo es sich um die Erfüllung gewisser sozial-hygienischer Vorschriften und des wichtigsten sozial-ethischen Gebotes, des der Sabbatheiligung, handelt. In der Hand der Frau ist vertrauensvoll die Ausführung der Speisegesetze gelegt, die überall da, wo die allgemeine kommunale Verwaltung nicht eine gewissenhafte Lebensmittelkontrolle führt, heute noch von der aktuellsten Bedeutung ist. Insbesondere durch die Desinfektion des Fleisches durch Einsalzen, und die Durchführung anderer scheinbar unwichtiger Vorschriften erfüllt die jüdische Frau innerhalb der Gemeinde still und selbstverständlich das Amt einer Sanitätsbeamtin, die sich in Zeiten schwerer Epidemien oft, ihr selbst unbewußt, in großer Pflichttreue hervorragend bewährt hat.

Noch wichtiger aber, weil ethisch von der höchsten Bedeutung ist die Teilnahme der Frau an der Sabbatheiligung. Am Freitag abend, dem weihevollen Auftakt der Sabbatharmonie hat die Frau Symbolisch die Lichter anzuzünden und darüber zu wachen, daß im jüdischen Hause 24 Stunden lang Mensch und Tier ruhe und aufatme und Sammlung und Kraft finde für die nächsten sechs Werktage.
Es ist längst als berechtigte Forderung des Frau aller Konfessionen ausgesprochen, daß für die im schweren Broterwerb stehende Arbeiterin allgemein dieser Auftakt des Ruhetages zu verlangen sei, wie ihn das vom sozialen Geist durchdrungene jüdische Gesetz einsichtig und liebevoll vorsieht. Denn gerade für die dreifach schwierigen und dreifach verantwortungsvollen Leistungen der Frau als Hausfrau, Mutter und Erwerbende ist dieser Vorabend der Ruhe die Vorbedingung des vollen religiösen, physischen und auch ästhetischen Sabbattgenusses.

Nur ein Gebiet gibt es, auf dem sich die jüdische Frau innerhalb ihrer Gemeinde gleichartig und gleichwertig mit dem Manne betätigen kann, und das ist die Erfüllung jenes Gebotes, das nach dem Ausspruch eines Weisen den Inhalt der jüdischen Religion bildet: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“! Dieser altjüdische wundertätige Imperativ, dessen Fundament die zehn Gebote sind, gilt für Mann und Frau. Aber nicht nur gepredigt, praktisch geübt muß er werden.

Das Speisen der Hungrigen, die Pflege der Kranken, der Schutz der Verwaisten, die Ausstattung der Bräute, die Treue für die Toten – in all diesen Werken konnte und sollte sich die jüdische Frau von jeher in stets bereiter Opferfreudigkeit betätigen. Freilich konnte sich diese Betätigung bei den Juden bis zu ihrer politischen Befreiung niemals zu festen Organisationen kristallisieren, wie in den christlichen Gemeinschaften, die sich in Ruhe und Seßhaftigkeit entwickelten. Ansätze zu solchen finden sich nur in kleinen schwachen Gegenseitigkeitsvereinen für Krankenpflege und Totenbestattung, ab und zu auch in Handwerksinnungen. Aber die warme persönliche, individualisierte Liebestätigkeit, der zwar das planmäßig geordnete fehlt, der aber eine bewundernswerte Tragfähigkeit innewohnt, gerade diese gedieh hinter den Ghettomauern in unerschöpflicher Kraft und wirkt bis auf den heutigen Tag.

Auch bevor die Juden bei beginnender Seßhaftigkeit es wagen durften, kleine Krankenhäuser zu bauen, kleine Stiftungen zu machen, blieb in ihren Gemeinden kein Kranker ungepflegt, kein Kind, dessen Vater auf der Landstraße vielleicht als vogelfrei erschlagen worden war, blieb ohne Annehmer, keine Frau, deren Mann durch die Folter zum Krüppel wurde, blieb ohne Hilfe, kein Mann, dessen Existenz durch einen grausamen Richterspruch vernichtet war, blieb im Elend von seinen Glaubensgenossen verlassen, immer traten sie schützend zusammen, Männer und Frauen.

Freilich auf die Stellung der Frau in der Gemeinde hatte auch die Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe keinen Einfluß, und so sehen wir bis in unsere Zeit den Unterschied zwischen Bedeutung und Stellung der Frau eher zu ihrem Nachteil verändert, denn durch die Verflachung des religiösen Lebens unter den Juden hat die jüdische Frau in ihrem Hause an Bedeutung verloren, ohne noch bisher im kommunalen Leben in gleichem Maße an Wichtigkeit und Stellung zu gewinnen.

Einerlei wo und von wann an wir die freiere und kräftigere Entwicklung von jüdischen Gemeinden beobachten, ob von der Französischen Revolution, ob nach dem Jahr 1848 oder später, immer und überall sehen wir die Kommunen lediglich von Männergremien verwaltet; nur bezüglich der Steuern war man schon früh großherzig genug, die selbständige Frau zu den Kultusabgaben heranzuziehen.

Der freie Luftstrom, der die alten Judengassen der deutschen Städte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts durchwehte, brachte den jüdischen Frauen zwar bald größere Bildungsmöglichkeiten, die sie zum Teil eifrig ergriffen und mit feinem Verständnis ausnützten, aber rechte im Sinne unserer heutigen Frauenforderungen wurden der jüdischen Frau in ihrer Gemeinde bis zum heutigen Tage nicht eingeräumt.
Eigentümlicherweise geschah und geschieht es auch heute noch vielfach dort nicht, wo das für beide Geschlechter traditionell gleich geltende Gebot praktischer Liebestätigkeit der Frau den Weg in die selbständige soziale Hilfsarbeit frei eröffnen sollte. Es gab zwar bald nach der Emanzipation der Juden in Deutschland jüdische Frauenvereine, die sich mit Kranken- und Wochenpflege beschäftigten. So gibt es einen Frauenverein in Kassel, der seit hundert Jahren wirksam ist, einen anderen in Köln, der im nächsten Jahre sein hundertjähriges bestehen feiern wird, eine Frauenkrankenkasse in Frankfurt ist fast ebenso alt, ein Mädchenwaisenhaus daselbst besteht seit 65 Jahren, würdige Beweise, daß die deutsche Jüdin sich relativ früh in eine Organisation einzufügen und deren Wert zu schätzen wußte, wenn sie auch noch nicht den Mut fand, die Verwaltung und Vertretung ihres Vereins selbständig und ohne Männerhilfe zu führen. Aber seitens der Männer fanden derartige Bestrebungen wenig Verständnis und Förderung.

Die ganze große jüdische Philanthrophie, jene bewunderungswürdige ethische Kraftäußerung der Judenschaft des 19. Jahrhunderts – ich gebrauche das Wort Philanthropie hier mit Bedacht, weil seinem Begriffe das demokratische Element fehlt – sie wurde seit ihrem Bestehen ohne Frauen geübt und geleitet und ist auch fast ausschließlich dem männlichen Teil der jüdischen Bevölkerung zugute gekommen.
Die Alliance Israelite Universelle, die großen Stiftungen des Baron Hirsch (sowohl das Schulwesen wie die Kolonisation betreffend), die weitverbreitete caritative Verbindung der Logenbrüder – sie haben sich von dem Geist moderner Sozialpolitik noch nicht erfassen lassen und schließen noch ängstlich die Frau von jeder Mitarbeit und Mitverantwortung aus. Ein kleiner Versuch des Hilfsvereins der Deutschen Juden, auf eine Mitarbeit der Frauen einzugehen, ist erst allerjüngsten Datums und noch unentschieden in seiner Tragweite.
Der Zentralverein der Deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens hat mit der Wahl von zwei Frauen in Lokalvorstände einen bemerkenswerten Anfang zur Zusammenarbeit gemacht. Die jüngste der großen jüdischen Organisationen, die zionistische, die sich modernen Entwicklungsformen assimiliert, räumt der Frau zwar „in ihrem Parlament Sitz und Stimme“ ein, aber die Zentralstelle arbeitet ohne Frau, trotzdem es sich dort um volkserzieherische Probleme handelt.
Aber auch lokale Wohlfahrtseinrichtungen sehen wir in jüdischen Gemeinden noch vielfach ausschließlich von Männern geleitet, selbst in Institutionen, die längst als weibliche Arbeitsgebiete anerkannt sind. Es gibt Gemeinden, deren Kindergarten, Krankenhaus, Volksküchen, Vereine zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen, Erziehungsanstalten für Mädchen, ja sogar das ganze Armenwesen, noch in den Händen von Männern liegt, die sich der Frauen nur als Helferinnen ohne Verantwortung und ohne Sitz im Rate bedienen.

In wenigen Städten, z.B. in Berlin, Breslau, Hamburg sehen wir schon einige Frauen mit den Männern an dem berühmten grünen Tisch erscheinen, u. zw. wie zugegeben werden muß, zum künftigen Vorteil des jüdischen Gemeinschaftslebens. Daß dieses temporitardando in dem Fortschritte der Frauen innerhalb des jüdischen Gemeinschaftslebens nur teils auf die orientalisch-religiöse Tradition und teils auf die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau vom Manne zurückzuführen ist und nicht auf ihre Unfähigkeit, soziale Pflichten zu erfüllen, sehen wir, wenn wir die Jüdin außerhalb ihrer jüdischen Gemeinschaft beobachten.

Die Geläufigkeit sozialen Denkens, die verständnisvolle Opferwilligkeit, die ihr durch Jahrtausende hindurch aus ihrer Väter Väter und Mütter Mütter Schulung, zur sittlichen Veranlagung geworden ist, macht sie auf dem Plane der großen allgemeinen Frauenarbeit zur wohlgelittenen Mitarbeiterin.
Hätte die jüdische Frau, ihrer Kraft und Fähigkeit entsprechend, rechtzeitig in der jüdischen Gemeinschaft Verwendung, Stellung und Wertung gefunden, wir hätten heute nicht wehmütig auf manche zu verzichten, der in ihrem berechtigten Wunsche nach Betätigung und nach Entfaltung ihrer Persönlichkeit das Band entglitten ist, das sie mit ihrer Stammesgemeinde verbindet, der Gemeinschaft, der sie nun verständnislos den Rücken wendet. Aber für die Majorität der jüdischen Frauen bringt die intensive Beschäftigung mit den Menschheitsaufgaben, die uns die Frauenbewegung als letztes und alle Konfessionen einigendes Ziel bringt, so viel Charakterstärke und wahren Persönlichkeitsmut, daß auch die Frau innerhalb ihrer religiösen und Stammesgenossenschaft ihre hohen Aufgaben neu erkennen lernt und sie den Mut finden läßt, sich zu ihr zu bekennen. So sehe ich zwischen den aufrechten Bekennerinnen der Frauen der drei Konfessionen einen Wechselstrom höchsten menschlichen Wollens, und wir Jüdinnen wollen den unsrigen der drei Ringe, der noch die alte Kraft bewährt „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“ in dieser Zuversicht vertrauensvoll bewahren.

(Quelle: Pappenheim, Bertha (1912): Die Frau im kirchlichen und religiösen Leben. – In: Der Deutsche Frauenkongreß. – Bäumer, Gertrud [Hrsg.]. Leipzig [u.a.] : Teubner, S. 237 – 245)

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