Lida Gustava Heymann, 1915
Der internationale Gedanke war eben im Begriff zu erstarken, viele glaubten schon, er würde sich die Welt erobern. Nationales und Internationales suchten sich in inniger Gemeinschaft zu verbrüdern, feine Gewebe, sonnig und klar, spannen sich hin und her.
Da brach der schrecklichste aller Kriege aus; ein Kriegsrausch erfaßte nicht nur Europa, sondern zog alle Weltteile in Mitleidenschaft. Alles schien zu wanken, internationale Beziehungen wurden abgebrochen, der internationale Gedanke bankrott erklärt.
Wer vom Kriegsrausch erfaßt, scheint mit Blindheit geschlagen, klare Begriffe schwinden ihm hin, haßerfüllt werden Ursache und Wirkung, werden Persönliches und Sachliches verwechselt.
Der internationale Gedanke ist nicht tot, hat nicht bankrott gemacht, er lebt, wird seine Lebenskraft beweisen und wieder beweisen, bis er sich in der Welt durchgesetzt hat, selbst dann, wenn diesem Weltkriege noch andere Kriege folgen sollten.
Wie könnte es denn auch anders sein! Was ist denn international, was national?
Wir wollen den Worten nicht mit exakter Wissenschaft beikommen, wir wollen national nicht mit den chauvinistischen Begriffen der politischen Weltmacht-Stellung eines Staates definieren, sondern wir wollen die Worte auf den einfachsten für jedermann verständlichen Sinn zurückführen.
National ist, wer bei allen seinen Handlungen das Wohl seines Vaterlandes, wohl verstanden, das Wohl seines Volkes in geistiger wie moralischer, in rechtlicher wie in wirtschaftlicher Beziehung im Auge hat. International ist, wer bei allen seinen Handlungen das Wohl der Welt im Auge hat. National handelt nur der, der bei der Arbeit für das Wohl seiner Nation niemals vergißt, daß sein Vaterland in der Welt liegt, daß es nicht nur gilt, die Interessen seiner Nation zu wahren, sondern, daß er als Weltbürger auch Pflichten der Welt gegenüber hat. Vaterland und Welt stehen in inniger Gemeinschaft zueinander. Das sind so einfache klare Begriffe, daß man annehmen sollte, jeder könnte sie verstehen und müßte danach handeln.
Und dennoch, – verstanden von Tausenden und Abertausenden, schien Theorie und Praxis bei Ausbruch des Krieges in grellem Widerspruch zu stehen. Viele haben sich durch diesen Schein trügen lassen, 1914 brachte ihnen den völligen Zusammenbruch des internationalen Gedankens, mit fliegenden Fahnen gingen sie in das Lager der ausschließlich Nationalen und übersehen dabei vollständig, daß nicht der internationale Gedanke an sich, wohl aber sie, die ihn vertraten, bankrott gemacht hatten, weil sie den wahren Sinn niemals erfaßt hatten.
Wir aber, die wir den Glauben an die Möglichkeit einer internationalen Verständigung und Gemeinschaft aller Völker hochhalten, uns soll das Jahr 1914 ein Menetekel sein; 1915 muß uns tatkräftiger denn je an der Arbeit finden.
Schon heute besitzen wir unvergängliche nationale Werte, die längst internationales Eigentum sind und durch nichts, auch durch keinen Weltkrieg zerstört werden können. Das sind geistige, künstlerische Güter, technische Fortschritte, soziale Einrichtungen, usw., diese Güter besaßen in sich Eigenschaften weltbezwingender Mächte und schufen sich deshalb selbst díe Stellung. Diesen völkerverbindenden Werten stehen andere, trennende Momente gegenüber, die in wirtschaftlichem Neid, Machtgelüsten, Ehrgeiz, einer Nation gegen die andere ihre Ursache haben; daß sie aus den internationalen Beziehungen beseitigt werden, dafür muß Sorge getragen werden. Wie aber ist das möglich?
Es wird in jeder Nation stets Schurken, Betrüger, Diebe, Mörder usw. geben, die Leben und Besitz, ihrer Mitmenschen bedrohen. Staat und Gesellschaft gestatten ihnen aber nicht ihren Gelüsten zu fröhnen, sondern sie schützen sich vor ihnen durch Gesetz, machen sie durch Richterspruch unschädlich für die Gesellschaft. Es wird in der internationalen Politik stets Schurken, Betrüger, Diebe, Mörder usw. geben. Warum schützen wir uns nicht vor ihnen durch Völkerrecht, durch internationalen Richterspruch; warum zwingen wir sie nicht unter das Gesetz und machen sie für die Völker unschädlich?
Ansätze zum Völkerrecht, zur internationalen Rechtsprechung sind vorhanden. In der Masse der Menschheit ist aber das erste Verständnis für die Dinge kaum geweckt, und nur, wenn sie die ganze Masse durchtränkt haben, werden sie zum unwiderstehlichen Machtbegriff.
Erfüllen wir die Welt und in erster Linie die Jugend mit dem Geiste, daß das nationale und internationale Wohl in inniger Gemeinschaft stehen, daß national und international in gewisser Beziehung einander decken, daß sie niemals durch ein Oder getrennt sein dürfen und bekämpfen wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln den Völkerhaß, den dieser traurige Weltkrieg zeitigte, gedenken wir der Goetheschen Worte: „Es ist mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden wir ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet.“
Führen wir nicht nur das Individuum, sondern die Völker der Erde zu dieser Kulturstufe, dann wird die Welt vor gleichen Erlebnissen wie 1914 bewahrt bleiben.
(Quelle: Heymann, Lida Gustava (1915): National-International. – In: Zeitschrift für Frauenstimmrecht : Organ für die staatsbürgerliche Bildung der Frau, Nr. 2, S. 3 – 4)