Weiblicher Pazifismus

Lida Gustava Heymann, 1917

I. Vergangenheit

Um die von Frauen für den Pazifismus geleistete Arbeit in der Vergangenheit objektiv zu beurteilen, müssen wir uns klar machen, daß die modernen Zivilisationsstaaten Männerstaaten sind. Staaten des Mannes, in denen alles: Familie, Schule, Gefängnisse, Rechtswesen, Politik usw. auf dem männlichen Prinzip, d. h. dem Grundsatz der Gewalt, der Autorität, des Kampfes aller gegen alle, der Furcht des einen vor dem andern aufgebaut und eingestellt ist.

Dieses männliche Prinzip, welches das Leben der Individuen und der Völker untereinander seit Jahrhunderten völlig beherrscht, führte letzten Endes immer wieder zu katastrophalen Machtausbrüchen und Rebellionen: Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen. Der Weltkrieg hat bewiesen, daß der durch Gewalt aufgebaute und beherrschte Männerstaat auf der ganzen Linie versagt hat; der Beweis seiner Untauglichkeit wurde wohl noch nie anschaulicher erbracht. Das männliche Prinzip ist zersetzend und wird, wenn fortgeführt, die völlige Vernichtung der Menschheit herbeiführen.

Diesem männlichen, zerstörenden Prinzip ist das weibliche aufbauende Prinzip der gegenseitigen Hilfe, der Güte, des Verstehens und Entgegenkommens diametral entgegengesetzt. In den modernen Männerstaaten war den Frauen nicht nur jede Möglichkeit genommen, ihr ureigenstes Wesen zur Auswirkung zu bringen, sondern sie mußten sich dem männlichen Prinzip unterordnen, es zwangsweise anerkennen, sie wurden vergewaltigt. Viele Frauen machten es, nur um leben, um sich behaupten zu können, zu dem ihren.

Die Frau als Masse wurde nicht nur äußerlich, nein, was viel schlimmer war, innerlich Sklave des Mannes. Eine derartige Versklavung – d. h. Wesensversklavung – wie die des Weibes durch den Mann, hat noch nie stattgefunden, so lange die Welt besteht. Sie geschah mit den raffiniertesten Mitteln, wurde durch Jahrhunderte systematisch mit nie versagender Konsequenz durchgeführt.

Und die wenigen Frauen, die sich trotz alledem ihre Wesenseigenart bewahrten, sich dem Männerstaatsgedanken nicht unterordneten, waren in ständigem Kampfe, um für ihr Geschlecht wenigstens die äußere Gleichstellung mit dem Manne zu erringen. Von der Voraussetzung ausgehend, daß die Beseitigung der äußeren Sklavenketten den ersten Schritt zur innerlichen Befreiung der Frau, zur Rückkehr zu ihrem eigenen Ich bedeute. Der Mann trägt die größte Schuld, daß des Weibes Wesen und Art nicht zur Auswirkung kam und dem Pazifismus in der Vergangenheit verloren ging. Denn weibliches Wesen, weiblicher Instinkt sind identisch mit Pazifismus. Wenn es trotzdem vereinzelten Frauen – es sei hier nur Bertha von Suttner genannt – gelang, aufbauende Arbeit für den Pazifismus zu leisten, ja einer Organisierung des Pazifismus überhaupt die Bahn zu brechen, so ist das nur ein Beweis dafür, daß die weibliche Eigenart trotz der äußersten Vergewaltigung durch den Mann nicht auszurotten ist. Man vergesse niemals, daß die Kompliziertheit moderner Männerstaaten ausschließt, daß große katastrophale Ausbrüche wie Kriege durch wenige Menschen – in diesem Falle Frauen – die nicht an leitender Stelle stehen, verhindert werden können und daß es an unverantwortliche Unkenntnis der Sachlage grenzt, den Frauen vorzuwerfen, sie hätten den Weltkrieg verhindern können und hätten es nicht getan.

II. Zukunft

Was seitens der Frauen während des Weltkrieges geschah, berechtigt für die Zukunft des Pazifismus zu den schönsten Hoffnungen.

Was geschah denn?
Es steht einzig in der Geschichte moderner Kriege da, daß Frauen vieler Länder, während deren Männer sich auf den Schlachtfeldern zerfleischten, ohne jede Feindschaft und Bitterkeit zusammenkamen und die Beendigung des Krieges forderten, wie es im Haag im Mai 1915 geschah. Von dort wurden Frauendeputationen entsandt an alle Regierungen der am Kriege beteiligten Nationen, sie versuchten diese von der zwingenden Notwendigkeit der Beendigung des Krieges zu überzeugen. Daß es ihnen nicht gelang, macht ihr Vorgehen um nichts geringer. Es steht außerdem fest, daß die Thesen, welche die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit im Haag für die Verwirklichung eines Weltfriedens aufstellte, die Grundlage gebildet haben für die berühmten 14 Wilsonschen Punkte, denen die ganze Welt zujubelte. Seit 1915 arbeiten die Frauen unermüdlich in pazifistischem Sinne: Sie gründeten die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit zusammen. Frauen aus 30 Ländern stehen heute in Verbindung.

Was unterscheidet nun diese Organisation von den vorkriegszeitlichen, internationalen Frauen- und Männerverbänden? Sicher haben internationale Organisationen der Wissenschaft, der Gesetzgebung, dem öffentlichen Leben, der sozialen Arbeit, dem Handel, der Industrie usw. positivere Leistungen erwirkt, aber keine internationale Vereinigung gab der Welt bisher mehr für den wahren Gedanken internationaler Gemeinsamkeit und Solidarität der Menschheit, für den Pazifismus. Es ist der Geist, – das weibliche Prinzip im Gegensatz zum männlichen – der alle beherrscht und der bisher alle Konflikte so überwand, daß auch nicht der leiseste Geschmack trüber Bitterkeit zurückblieb. In kleinem Kreise ist hier eine Welt beisammen, erhaben über alle Machtgelüste, über falschen Nationalismus, durchdrungen von der Wahrheit, daß der leidenden, kranken Menschheit nur auf dem Wege der Gewaltlosigkeit durch gegenseitigen Beistand und den Versuch des Verstehens geholfen werden kann. Hier ist das Vorbild eines echten Völkerbundes gegeben. In der Internationalen Frauenliga handelt es sich nicht um theoretischen Pazifismus, sondern um die praktische Anwendung desselben, hier wird Pazifismus gelebt.

Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, der wirklich Pazifist ist, wird nicht nur den Krieg an sich verurteilen, sondern er muß das heute alles vernichtende männliche Prinzip, welches durch Gewalt die Konflikte im Leben der Völker und Menschen lösen will, bekämpfen und gewillt sein, es durch das schaffende, aufbauende weibliche Prinzip der Hilfsbereitschaft zu ersetzen.
Dieses weibliche Prinzip ist vielen, besonders hochstehenden Männern eigen, Frauen aber ist es ursprünglicher Instinkt, vielen allerdings abgewöhnt durch die innerliche Wesensversklavung infolge Annahme der männlichen Weltauffassung. Von dieser Versklavung befreit – und wir sind in allen Staaten auf dem besten Wege dahin -, wird Frauenart sich voll ausleben können und für die Förderung des Pazifismus eine unerschöpfliche Quelle sein. Mag diese Quelle noch häufig durch äußere Schwierigkeiten gehemmt werden, sie wird sich doch immer wieder ihren Lauf bahnen. Vergessen wir niemals bei der Beurteilung der Dinge, daß grundlegende Änderungen im Leben der Völker sich nicht von heute auf morgen vollziehen, sondern im Wandel der Zeiten. Soll der Pazifismus in Zukunft siegen, dann geschieht es nur, wenn das aufbauende weibliche Prinzip zum herrschenden wird, im Verkehr der Menschen und im Zusammenleben der Völker.

Frauenstimmrecht und Pazifismus*

Während der Dauer dieses Krieges haben Frauen zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit als politisch Gleichberechtigte an der Abstimmung über kriegerische Maßnahmen teilgenommen, z. B. über die Einführung der Wehrpflicht in Australien. Ein großer Teil der stimmberechtigten Männer war freiwillig zur Fahne geeilt, stand im Felde, so gaben die Stimmen der Frauen noch mehr als bei früheren Abstimmungen den Ausschlag. Die obligatorische Wehrpflicht wurde mit großer Majorität abgelehnt, das Referendum ergab 637000 Stimmen dafür und 723000 dagegen; das geschah in einem Lande, wo Männer und Frauen von jeher daran gewöhnt sind, daß der Staat durch gesetzliche Maßnahmen jeder Art persönliche Freiheit beschränkt. Eine Wiederholung des Versuches Ende 1917 ergab dasselbe Resultat, so daß der Premierminister Hughes sich veranlaßt fühlte, sein Amt niederzulegen. Was aber erlebten wir während der Kriegsjahre in dem Mutterlande Australiens, in Großbritannien, dessen Einwohner seit der Zeiten der Tudors und Stuarts dem Staate keine Befugnisse einräumten in ihre persönlichen Angelegenheiten. Der Engländer, dessen höchster Stolz die persönliche Freiheit war, der als Typus des freien Mannes bei allen Nationen Europas galt, er mußte die gesetzliche Einführung obligatorischer Wehrpflicht über sich ergehen lassen, die wohl die schlimmste Vergewaltigung persönlicher Freiheit bedeutet. Das geschah im freien England, wo noch die Frauen politisch rechtlos waren und deshalb keinerlei Einfluß auf die Abstimmung über die Einführung obligatorischer Wehrpflicht ausüben konnten.

Auch das zweite Mal während dieses Krieges, wo der politisch gleichberechtigten Frau Gelegenheit gegeben war, ihren Einfluß zu betätigen, gab sie ihre Stimme gegen den Krieg ab. Es war im Senat zu Washington bei der Abstimmung über die Kriegserklärung an die Mittelmächte. Aller Augen waren mit Spannung auf das einzige weibliche Mitglied Miß Rankin gerichtet, die erst seit wenigen Monaten dem Hause angehörte. Bei der Stimmung, die herrschte, kam zu dem Neuen und Ungewohnten für Miß Rankin die selbst für einen charakterfesten, überzeugungstreuen Menschen unangenehme Lage, eine Sonderstellung gegen eine begeisterte Mehrheit zu behaupten. Miß Rankin folgte nur ihrem inneren Drange und erklärte, als die Reihe der Abstimmung an sie kam: »Ich will meinem Vaterlande dienen, aber ich kann nicht für diesen Krieg stimmen.« Die Stimme einer Frau konnte an dem Ausfall der Abstimmung leider nichts ändern, aber diese eine in so erschwerter Lage abgegebene Stimme ist wiederum ein lebendiger Beweis für das in dieser Schrift wiederholt charakterisierte Verhalten der Frauen zum Kriege.

Die Regierungen der am Kriege beteiligten Nationen werden auch nach dieser, die Welt erschütternden Katastrophe mit neuen Rüstungsforderungen für Heer und Marine und anderen kriegerischen Vorlagen an die Parlamente herantreten, da es schwerlich gelingen wird, dergleichen durch bindende internationale Abmachungen über Abrüstung zu verhindern. Im Solde der Regierung stehende Geschichtsschreiber, Industrielle, die fabelhafte Gewinne einheimsten, Menschen, die durch den Krieg aus kümmerlicher Armut zu glänzendem Reichtum gelangten, werden auch die Ereignisse dieses Krieges mit dem Glorienschein unvergänglicher Größe und Hoheit umgeben. Brutalität und Grausamkeit werden zum Heldentum gestempelt, Herzeleid, seelische Not, Kummer und Elend werden ihrer Schwere entkleidet, verschwinden wie im Nebelschleier. Was den kommenden Generationen überliefert werden soll, ist nur eine verklärende Umschreibung der gewesenen Tatsachen, häufig das nicht einmal, sondern nur das Gegenteil von dem, was war, um so die Jugend wieder zu erwärmen und zu gewinnen für kommende Kriege; um so das Märchen von der Unausrottbarkeit der Kriege und ihrer Notwendigkeit ewig weiter zu spinnen. Um das zu verhindern, bedürfen wir der verantwortlichen Mitarbeit der Frauen im politischen Leben.

Die vorhin zitierten Urteile von Politikern über das Frauenstimmrecht, die Gesetze, deren Zustandekommen auf dasselbe zurückzuführen sind, haben uns gezeigt, daß Frauen alles fördern, was die Politik veredelt, was die Rasse vor seelischem und körperlichem Ruin bewahrt, daß die Frauen sich ferner einen ungeheuren Einfluß auf die Erziehung zu sichern wissen; das taten Frauen vor dem Weltkriege von 1914.

Nun denke man sich erst einmal die Frauen der jetzt kriegführenden Länder, welche die schauerlichen Greuel, das maßlose Elend dieses Krieges miterlebt haben, als politisch gleichberechtigte Mitarbeiter! – Glaubt man wirklich, diese Frauen wären imstande, für weitere kriegerische Maßnahmen zu stimmen, die ihre Söhne auch in Zukunft mit dem achtzehnten Jahre der seelischen Verrohung des Krieges aussetzen, als Kanonenfutter preisgeben? Frauen, welche die Unkultur, den Barbarismus und alles Schwere, was dieser Krieg zeitigte, mit erlebten, die selbst maßlos unter den anarchistischen Zuständen gelitten haben, die mit schwerem Herzeleid die Verrohung ihrer Völker mit ansahen, denen muß in den großen europäischen Staaten nach diesem Kriege die Möglichkeit gegeben werden, ihrem antikriegerischen Einfluß im politischen Leben Geltung zu verschaffen. Die scharfe Abneigung der Frauen gegen den Krieg, gegen alle kriegerischen Maßnahmen, kann nur dann für die Anbahnung eines dauernden Friedens nutzbringende Werte schaffen, wenn sie an maßgebender Stelle von ihnen selbst persönlich zum Ausdruck gebracht wird. Frauen sind die Berufenen, der heranwachsenden männlichen und weiblichen Jugend Aufschluß zu geben, über das, was Krieg für die Menschheit bedeutet und diese für die Idee eines dauernden Friedens unter den Völkern zu entflammen. Millionen von Frauen fanden durch diesen Krieg den Weg zu ihrem ureigensten Ich zurück, den sie verloren hatten. Bei Millionen von Frauen lösten die Geschehnisse dieses Krieges einen eisernen Willen aus, machten sie stark wie nie zuvor, erfüllten sie mit Mut zu neuen Taten, ließen sie den heiligen Schwur schwören: »Krieg dem Kriege«. Es gilt, diese ungeheuren Frauenkräfte im Interesse des Völkerrechts, der Völkerverständigung, eines dauernden Friedens unter den Völkern, den Staaten der Welt nutzbar zu machen.

Wohlan, ihr Pazifisten, kämpft im Interesse eurer Sache, die ihr vertretet, für das Frauenstimmrecht! Stimmet ein in die Worte, die der bekannte ungarische Pazifist Prälat Gießwein am 2. Juni 1917 einer vieltausendköpfigen Menge in Budapest zurief: »Der Pazifismus hat mich zum Frauenwahlrecht geführt. Ohne freie Frauen kein ständiger Friede! Ein Europa mit Frauenwahlrecht wäre keinem Weltkriege zum Opfer gefallen.«

(Quelle: Heymann, Lida Gustava (1917): Weiblicher Pazifismus. – In: Frauen gegen den Krieg. – Brinker-Gabler, Gisela [Hrsg.]. Frankfurt/M. : Fischer-Taschenbuch-Verl., 1980, S. 65 – 70)

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