Christiane Leidinger, 2003
„Die Urne von Frau Elberskirchen liegt im Grab von Frau Moniac.“ Ich versuche ruhig zu bleiben und lächle meine Zeitzeugin erwartungsvoll an. Okay: Die nächste Tram fährt auch ohne mich. Was sie mir dann – zunächst – unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter erzählte, wäre eine nette Story für einen historischen Lesbenkriminalroman: Urnenfund im Pferdestall – zwei Frauen, Skatfreundinnen, eine lesbisch, eine heterosexuell – ein Korb mit Urne, Klappspaten und Blümchen zur Tarnung – ein sommerlicher Abend auf einem Friedhof in Rüdersdorf bei Berlin 1975: eine heimliche Nachbestattung 32 Jahre nach dem Tod Elberskirchens – im Grab der letzten Lebensgefährtin.
Die schönsten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Wer waren die beiden Lesben, um die sich dieses nunmehr gelüftete Geheimnis rankt?
Johanna (Carolina) Elberskirchen wurde am 11. April 1864 in Bonn geboren und wuchs dort mit ihren Eltern, einem älteren Bruder und drei jüngeren Schwestern auf. Bis auf Johanna sind alle Familienmitglieder beruflich im Handel tätig. Sieben Jahre war sie als Buchhalterin in einem kleinen Laden beschäftigt: eine „Tretmühle“, schreibt sie. Sie beschloß, zu studieren. Da eine akademische Ausbildung nur Männern zugestanden wurde, trägt ihr das in der Familie prompt den Spitznamen „Hannes“ ein. Wie viele Frauen, denen nicht nur in Deutschland ein Studium verboten war, ging sie in die Schweiz und schrieb sich 1891 zunächst für Medizin in Bern und 1897 für Jura in Zürich ein.
Johanna Elberskirchen war lesbisch, feministisch, frauenbewegt: Sie war vor allem eine radikale Kämpferin für die Emanzipation von Frauen und – zeitgenössisch ungewöhnlich – gleichzeitig auch von Homosexuellen; eine politische Denkerin, Publizistin und aktive Streiterin zumeist für gesellschaftlich brisante Themen.
Obwohl sie eine der wichtigsten Figuren der deutsch(sprachig)en politischen Lesbengeschichte ist, kennen ihren Namen nur wenige. Ilse Kokula, Pionierin der deutschen historischen Lesbenforschung, entdeckte als erste eine Schrift dieser beeindruckenden Frau: In ihrem 1981 erschienenen Band „Weibliche Homosexualität um 1900″, findet sich ein Reprint des Elberskirchentextes „Revolution und Erlösung des Weibes“ (1904): „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir das doch mit gutem Recht“, heißt es darin. Anders als die meisten Feministinnen ihrer Zeit, die auch Frauen lieben nahm Johanna Elberskirchen für sich die sexualwissenschaftliche besetzte Bezeichnung homosexuell an, lebte zudem offen als lesbische Frau und brach radikal das Tabu weiblicher Homosexualität in der Alten Frauenbewegung. Damit dürfte sie sich wenig politische Freundinnen gemacht haben. Die nationalkonservative Ella Mensch (1859-1955), Herausgeberin der Zeitschrift „Frauenrundschau“ ließ kein gutes Haar an den Broschüren der Bonnerin. Elberskirchen schreibe „oberflächlich“, „dogmatisch“ und „polemisch“. Dennoch: den dahinterstehenden Mut von Elberskirchen scheint sie durchaus bewundert zu haben, als sie ihr „heißen lodernden Zorn und unerschrockene und unermüdliche Kampffreudigkeit“ attestierte.
Neben zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sind bis 1933 mindestens ein Dutzend Bücher von Elberskirchen (anfänglich unter dem Pseudonym Hans Carolan) – teils in bis zu fünf Auflagen – erschienen; zudem gibt sie drei Jahre die Zeitschrift „Kinderheil“ und den „Kinderheilkalender“ heraus.
Ihre politischen und publizistischen Interessen sind vielfältig: Frauenstudium, Wahlrecht, Mutterschaft, Prostitution, „sexuelle Gewalt und Ausbeutung“, Kinderheilkunde. Sexistische Zuschreibungen von Frauen als bloßes „Fortpflanzungsinstrument“ sind ihr persönlich und politisch ein Greuel; das ganze Gerede von der natürlichen Bestimmung der Frau sei nichts anderes als die Angst des Mannes vor der Konkurrenz der Frau auf dem Arbeitsmarkt. Auch als aktive Sozialdemokratin, erst in Bonn und später Rüdersdorf vertrat sie unbequeme Positionen: „Die Socialdemokratie bilde sich nicht ein, dass die Ueberwindung des ökonomischen Kapitalismus die Menschheit von allem Uebel erlöst. Der sexuelle Kapitalismus, der Priapismus kam ohne ökonomischen Kapitalismus in die Welt.“ – eine Kritik am Nebenwiderspruch der Geschlechterverhältnisse in der Sprache von 1896.
Elberskirchen ist die bislang einzig bekannte, offen lebende Lesbe, die um die Jahrhundertwende auch zu Sexualwissenschaft publizierte und sich deren Schriften zu weiblicher Homosexualität kritisch ansah. Bei Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) heißt es zum Beispiel: „Das weibliebende Weib fühlt sich geschlechtlich als Mann.“ Aber selbst Sexualwissenschaftler, die sich in emanzipativer Absicht mit dem Thema beschäftigten, wie der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld (1868-1935), argumentierten ähnlich stereotyp. Elberskirchen konterte geschickt gegen solche Mannweiber-Theorien: „Wie kann nun die Liebe der Frau zur Frau einen Zug zum ‚Männlichen‘ haben? Das Männliche wird doch ausgeschlossen. Man könnte doch im Gegenteil behaupten und sagen: in der Liebe der Frau zur Frau manifestiere sich ein Zug zum Weiblichen! Beide lieben im andern das eigene Geschlecht – das weibliche. Nicht das männliche.“
Elberskirchen war eine der wenigen Frauen im Wissenschaftlich-humanitären Komitee (Whk); von 1914 bis mindestens 1920 war sie gewählter „Obmann“. Das 1897 gegründete und in Berlin ansässige WhK setzte sich für die Abschaffung des Reichsstrafgesetzbuchparagrafen 175 ein, der rechtlich ausschließlich Männer betraf. Die Ausweitung des Paragrafen auf Frauen wurde allerdings während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wie auch im NS immer wieder diskutiert. Ende der zwanziger Jahre war Elberskirchen kurz Referentin der Weltliga für Sexualreform. Sie vertrat keine ausgewiesen rassenhygienischen Positionen, schwamm aber durchaus selbstverständlich und unreflektiert im eugenischen mainstream ihrer Zeit und plädierte ganz selbstverständlich für eine „Höherentwicklung“ des Menschen, was sie wie andere zu einer „zwiespältigen Ahnin“ der FrauenLesbengeschichte macht, wie Ulrike Janz dies treffend formuliert.
In Berlin, wo Elberskirchen ungefähr von 1914-1919 lebte, arbeitete sie in der Säuglingsfürsorge. Im August 1920 kaufte sie gemeinsam mit Hildegard Moniac, die sie 1914 kennengelernt hatte, in Rüdersdorf ein Haus und eröffnete dort eine Praxis für homöopathische Heilbehandlungen. Als Elberskirchen immer kränker wurde, unterstützte sie Moniac beim Praxisalltag. Die Gewerbeoberlehrerin hatte dazu zwangsweise Zeit: Sie war 1933 durch das Berufsbeamtengesetz der Nazis – als ehemalige Mitfrau der USPD – wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen worden.
Hildegard (Helene Friederike) Moniac wurde am 29. März 1891 in Friedenau, Kreis Teltow geboren. In Berlin aufgewachsen, absolvierte sie 1911 im Lette-Verein ihre Prüfung als Gewerbeschullehrerin für Schneiderei und Putz und arbeitete in der Spreemetropole. 1945/1946 war sie bis zur politisch umstrittenen Vereinigung von SPD und KPD zur SED in der SPD aktiv. Rüdersdorfer Zeitzeuginnenberichten zufolge machte sie sich später in der SED um die Seniorinnenarbeit verdient. Schriftstücke sind von ihr leider nicht überliefert.
Im Jahr 1945 wurde Hildegard Moniac erste Direktorin der Grundschule Alt-Rüdersdorf. In diesem Amt blieb sie bis 1951 und wurde dann, „im Interesse des Dienstes“ an die ortsansässige Berufsschule versetzt. Als Hintergrund ihrer Versetzung, die vom Protest seitens der Elternschaft begleitet wurde, lassen sich politische Motive und damit in Zusammenhang stehend auch ihre Homosexualität vermuten. 1954 soll sie gesundheits- und altersbedingt aus dem Schuldienst ausgeschieden sein.
Bis zu ihrem Tod am 3. August 1967 mit 76 Jahren lebte Hildegard Moniac mit ihrer späteren Lebensgefährtin Luitgarde Kettner (1914-1977), „Luli“ genannt, ebenfalls Lehrerin der Grundschule und eine ehemalige Schülerin von Moniac, im Haus in der Luisenstraße 32, die heutige Hausnummer 57 der umbenannten Rudolf-Breitscheid- Straße.
(Quelle: Leidinger, Christiane (2003): Urnenfund im Pferdestall oder: ein Ehrengrab für zwei lesbische Frauen bei Berlin. – In: Lespress : das andere Frauenmagazin, Nr. 94, S. 16 – 18)