Vergewaltigung: sexuelle Gewalt gegen Frauen

Ausschnitt aus Werk von Pippilotti Rist

Ab Mitte der Siebziger Jahre bringt die Frauenbewegung das epidemische Ausmaß der sexuellen Gewalt im privaten wie öffentlichen Raum an die Öffentlichkeit. Feministinnen analysieren, dass Vergewaltigung keineswegs die Tat abnormer ‚Triebtäter‘ ist, sondern im Patriarchat zur systematischen Brechung und Unterdrückung gegen Frauen eingesetzt wird – im Alltag wie auch in Kriegen. Die Frauenbewegung organisiert Demonstrationen, gründet Notrufe für vergewaltigte Frauen und kämpft dagegen, dass den Opfern die Schuld an der Tat gegeben wird („Warum hatten Sie so einen kurzen Rock an?“). Und sie fordert eine Reform des ‚Vergewaltigungsparagrafen‘§177, der häufig zu Freisprüchen für die Täter führt. Außerdem soll auch die Vergewaltigung in der Ehe strafbar werden. Beide Forderungen sind inzwischen umgesetzt: Die Vergewaltigung in der Ehe wird 1997 unter Strafe gestellt. Es wird aber bis 2016 dauern, bis der §177 Vergewaltigung als sexuelle Handlung „gegen den Willen“ einer Person definiert. Nein heißt nun Nein.

24. November 1973

© Martin Abegglen (CC BY-SA 2.0)
Nein heißt nein

Die sozialliberale Koalition reformiert das Sexualstrafrecht. Bei dieser Vierten Großen Strafrechtsreform wird die ‚einfache Pornografie‚ straffrei gestellt sowie die Verfolgung der Zuhälterei durch eine schwammige Definition erschwert.1 Allerdings legt der Gesetzgeber bei den Sexualstraftaten in dem Klima des Kampfs gegen den §218 und des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper einen neuen Begriff zugrunde: Sie gelten nun nicht länger als „Verbrechen oder Vergehen wider die Sittlichkeit“, sondern als „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Damit steht als zu schützendes Rechtsgut nicht mehr Moral oder ‚Ehre‘ der Frau im Mittelpunkt, sondern das Recht der Frau, über ihren Körper zu verfügen.

Aktivistin Susan Brownmiller

September 1974

Im Berliner Frauenzentrum gründet sich die erste Frauengruppe Frauen gegen Gewalt gegen Frauen.  Die Aktivistinnen veröffentlichen Texte zum Thema, beobachten Vergewaltigungsprozesse und planen eine Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer nach dem Vorbild der amerikanischen Rape-Crisis-Centers.

Frühjahr 1975

In den USA erscheint Susan Brownmillers Buch Against Our Will3 (auf Deutsch: Gegen unseren Willen,4 1978). Darin räumt Brownmiller auf mit dem gängigen Vergewaltigungsmythos, der besagt: Vergewaltigungen sind Einzeltaten krimineller bzw. ‚triebgestörter‘ Männer.

Brownmiller, Susan (1975): Against our will. - New York, NY : Fawcett Columbine (FMT-Signatur SE.03.164.[03])
Against Our Will
Brownmiller definiert Sexualgewalt als Mittel der Herrschaftsausübung der Männer über Frauen. Sie analysiert auch die Vergewaltigungen von Frauen durch Soldaten als systematisch eingesetzte Kriegswaffe. Brownmillers Analyse wird zum Klassiker, die feministische Debatte um Sexualität und Sexualgewalt zum Thema des Jahres.5

27. Februar 1976

Unter dem Titel Die Frau als Opfer der Männer berichtet Die Zeit über das Thema Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe. Sie referiert dabei auf Susan Brownmillers Buch Against Our Will. Das Thema Sexualgewalt gegen Frauen, das von der Frauenbewegung nun immer stärker an die Öffentlichkeit gebracht wird, stößt auf eine so breite Resonanz, dass es verstärkt von den Medien aufgegriffen wird.6

4.-8. März 1976

Internationales Frauentribunal Brüssel 4.-8. März 1976. Frauengruppen [Hrsg.] - Bremen : Selbstverlag (FMT-Signatur: SE.01.038)
Tribunal zu Gewalt gegen Frauen
In Brüssel kommen 1.500 Teilnehmerinnen aus dreiunddreißig Ländern, so auch aus Deutschland, zum Internationalen Tribunal Gewalt gegen Frauen zusammen.7 Die ‚Anklagen‘ der Frauen umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche: Von Gewalt in der Ehe über diskriminierende Gesetze bis Pornografie. Simone de Beauvoir schreibt in einem Grußwort: „Ich halte dieses Treffen für ein großes historisches Ereignis.“8

14. April 1976

Der Stern veröffentlicht die Ergebnisse einer von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage. Titel: Mein Mann hat mich vergewaltigt. Ergebnis: „In jeder fünften Ehe wird die Frau zum Sex gezwungen.“ Das entspricht rund 2,5 Millionen Frauen in der BRD. Ebenfalls jede fünfte Frau ist der Ansicht, eine Ehefrau müsse „ihrem Mann sexuell zur Verfügung stehen, wann immer er es will“.9 Tatsächlich hatte der Bundesgerichtshof noch im Jahr 1966 geurteilt, eine Ehefrau dürfe die „Beiwohnung“ durch den Ehemann, auch wenn sie sie nicht will, „nicht teilnahmslos über sich ergehen lassen“.10

Aufruf zur "Frauen Nacht Demo" am 30.04.1977 in Berlin (FMT-Signatur: FB.07.104)
Demoaufruf, 1977

30. April 1977

In Berlin veranstalten Frauen zum ersten Mal eine Frauen-Nacht-Demo gegen sexuelle Gewalt. Anlass: In Charlottenburg war die 26-jährige Susanne Schmidtke vergewaltigt und dann mit Tritten und Schlägen so stark misshandelt worden, dass sie drei Wochen später daran starb. In dem Flugblatt zur Aktion heißt es: „35.000 Frauen werden jährlich in der BRD und in West-Berlin vergewaltigt. Das bedeutet: Einundfünfzig Prozent der Bevölkerung haben abends Ausgangssperre, nämlich alle Frauen, vom kleinen Mädchen bis zur Rentnerin. (…) Frauen, hören wir auf, das als selbstverständlich hinzunehmen! Schreien wir zurück, schlagen wir zurück, wehren wir uns gemeinsam!“11 In den folgenden Jahren werden Frauen in zahlreichen Städten solche Nachtmärsche veranstalten. Motto: „Wir erobern uns die Nacht zurück!“ Meist finden sie in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai statt, der sogenannten Walpurgisnacht.12

August 1977

Button, undatiert, FMT-Signatur: VAR.02.012
Frauen gegen Vergewaltigung

In ihrem Aufsatz Die Rechtsprechung zur Vergewaltigung – Über die weit gezogenen Grenzen der erlaubten Gewalt gegen Frauen13 in der Zeitschrift Kritische Justiz analysiert die Juristin Alisa Schapira den Umgang der Justiz mit Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigen. Sie stellt fest: „Sexuelle Aggressionen machten 1975 nur 3% aller polizeilich erfassten Straftaten aus. Nur ein sehr geringer Teil dieser Fälle wird vor Gericht verhandelt, und rund ein Drittel der Angeklagten wird freigesprochen.“ Nach der Analyse verschiedener Prozesse und höchstrichterlicher Urteile kommt Schapira zu dem Schluss: „Die Verwendung allgemeiner Weiblichkeitsmythen zur Beurteilung von Vergewaltigungen durch die Justiz führt dazu, dass der Gewalt in den Beziehungen der Geschlechter ein weiter Spielraum innerhalb der Legalität bleibt. Zum einen ist Gewalt nur in Extremfällen tatbestandsmäßig im Sinne des §177 StGB, zum anderen führt insbesondere die Unterstellung des weiblichen Masochismus dazu, dass Frauen vor Gericht als höchst unglaubwürdig gelten. Inquisitorische Befragungen der Frauen über ihr ‚Vorleben‘ sind die Folge […].“Die Juristin fordert eine „Entideologisierung der Rechtsprechung“.

Demonstration, 1976, © Redl-von Peinen, Margarete (FMT-Signatur: FT.02.006)
Demonstration, 1976

Der Gesetzgeber, so Schapira, stehe immer noch in der „Tradition der Auffassung von Vergewaltigung als Verletzung des männlichen Eigentumsrechts an der Frau.“14 Schapiras Aufsatz wird breit rezipiert.

Oktober 1977

EMMA veröffentlicht in drei Folgen einen Vorabdruck von Susan Brownmillers Gegen unseren Willen.

28.- 30. April 1978

© Uschi Dresing (FMT-Signatur: FT.02.059)
Es ist vorbei mit dem Schweigen

Auf Initiative des Kölner Frauenzentrums veranstalten Delegierte aus den Frauenzentren ein Nationales Tribunal Gewalt gegen Frauen. Der ,Gewaltkatalog‘, den die Initiatorinnen aufgestellt haben, reicht von dem ,Mode- und Schönheitsterror‘ über die ,männerorientierte Sprachentwicklung‘ bis hin zur ,Gewalt in der Ehe‘.15

Ende der 1970er

Frauen gründen in ihren Städten die ersten Frauennotrufe, um Opfer von Vergewaltigungen und anderer (sexueller) Gewalt zu helfen.16 Im Laufe der folgenden Jahre werden rund einhundertzwanzig Notrufe entstehen.

Aufkleber Frauennotruf (FMT-Signatur: VAR.01.087)
Handzettel in Freiburg

24. Februar 1980

1983 fordert der Jurist Dierk Helmken in seinem Buch Vergewaltigung in der Ehe – Plädoyer für einen strafrechtlichen Schutz der Ehefrau17 die Bestrafung von Ehemännern, die ihre Frau zum Beischlaf zwingen. In einem Interview mit der Heidelberger Rundschau (HR) erklärt Helmken: „Bisher zwingt der Gesetzgeber Frauen förmlich dazu, sich zu wehren, um später nachweisen zu können ‚ich habs nicht freiwillig über mich ergehen lassen‘. Dies hat zur Folge, daß sie Gefahr laufen, beim Mann mehr Aggressionen freizusetzen, als ihnen guttut, schwer verletzt zu werden und unter Umständen das Leben zu verlieren […]. Auf das Gebiet der ehelichen Vergewaltigung kann man sich nur wagen, wenn die Organe des Strafverfolgungssystems möglichst viel Freiraum haben, um auf verschiedene Fälle spezifisch eingehen zu können.“18

Juni 1980

Courage, Nr. 6, 1980, Externer Link: Courage : Berliner Frauenzeitung, Nr.6 (FMT-Signatur: Z-Ü104:1980-6).
Courage, Nr. 6, 1980

In einem Themenheft der Courage zum Thema Vergewaltigung fordert die Rechtsanwältin Ingrid Lohstöter trotz ihrer Kritik an der Auslegung des §177 StGB zur konsequenten Anzeige von Vergewaltigungen auf: „Die Rechtsprechung ändert sich nur dann, wenn immer mehr Vergewaltigungsprozesse geführt werden, die Dunkelziffer verringert wird, Staatsanwaltschaft und Gerichte kritisiert werden und unsere Inhalte und unser Selbstverständnis als Frau auch der Männerjustiz gegenüber vertreten wird.“19 Ebenfalls im Heft: Die Forderung des Berliner Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen und anderer Frauengruppen zur Verschärfung der Paragrafen 177 (Vergewaltigung) und 178 StGB (sexuelle Nötigung): „Wenn Frauen nein sagen, meinen sie auch nein!“20

28. Juli 1980

Monika Lundi, EMMA, Nr. 9, 1980, Externer Link: EMMA-Lesesaal
Monika Lundi, EMMA, Nr. 9, 1980

Im Prozess gegen den Schauspieler Burkhard Driest, den seine Kollegin Monika Lundi wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, wird das Urteil gesprochen.21 Driest wird von dem Gericht im kalifornischen Santa Monica zu 500 Dollar Geldstrafe wegen Körperverletzung verurteilt, der Vorwurf der Vergewaltigung wird fallengelassen. Lundi hatte in Santa Monica, zusammen mit mehreren KollegInnen, ein Schauspiel-Seminar besucht und war nach einem gemeinsamen Abendessen noch mit zu Driest und Jürgen Prochnow gegangen. Im EMMA-Interview schildert Lundi, dass Driest die auf dem Sofa Eingeschlafene an den Haaren auf den Teppich geschleift, sie mehrfach geschlagen und schließlich vergewaltigt habe. Das Krankenhaus, das die Verletzte behandelt, benachrichtigt die Polizei, die Driest verhaftet. Der Gerichtsverfahren wird zum Schauprozess gegen das mutmaßliche Opfer Lundi, die, wie in Vergewaltigungsprozessen üblich, von der Verteidigung unglaubwürdig gemacht wird.  Auch die Medien machen das mutmaßliche Opfer zur Täterin. EMMA führt ein Interview mit Monika Lundi und titelt mit dem Fall. Lundi: „Die haben mich gehetzt wie ein Tier.“

03. August 1981

Der Spiegel, Nr. 21, 1981, Externer Link: Der Spiegel
Der Spiegel, Nr. 21, 1981

Der Spiegel titelt Vergewaltigung – das perfekte Verbrechen und konstatiert eine „militante Stimmung“, die „auch in der Bundesrepublik die Frauen erfasst hat“.22 Beispiele: „Nach der erfolgreichen Verteidigung eines wegen Vergewaltigung angeklagten Mandanten bekam der Berliner Rechtsanwalt Niklas Becker Besuch von fünfzig Frauen. Die Frauen drapierten Dessous in seiner Kanzlei, verspritzten Parfüm und hängten dem Juristen ein Schild um die Brust: ‚Zuhälteranwalt‘. – Vor einem Berliner Amtsgericht funktionierte eine Feministinnengruppe einen Vergewaltigungsprozess mit einem großen violetten Papp-Penis zum Happening um. – In Hamburg wurden Frauen mit Plakaten dazu aufgefordert, in einem Notzuchtverfahren Stimmung für das Opfer zu machen: „Erscheint alle massenhaft und stärkt ihr den Rücken.“23 – Der Spiegel stellt fest: „Wegen des einmalig großen Dunkelfeldes muss höchstens ein Prozent aller Vergewaltiger damit rechnen, für die Tat auch angezeigt und verurteilt zu werden. ‚Wer Opfer und Tatsituation gut wählt‘, sagt der Leiter des Instituts für Kriminologie an der Universität Münster, Hans Joachim Schneider, ‚kann das Strafrisiko nahezu ausschließen.'“24 (Fünfunddreißig Jahre später, 2016, wird EMMA schreiben: „Nur 1 von 100 Vergewaltigern wird in Deutschland auch verurteilt.“25)

September 1981

Aktion gegen den Rechtsanwalt Niklas Becker in Berlin, 12.04.1979 (FMT-Signatur: FT.02.0192)
Aktion gegen den RA Niklas Becker

In EMMA erscheint ein Kommentar von Alice Schwarzer Wir nehmen die Kriegserklärung an! Anlass für den Text ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 01. Juli 1981. Darin hatte der BGH das Urteil gegen einen 39-jährigen Malermeister kassiert, den das Wuppertaler Landgericht zuvor wegen mehrfacher Vergewaltigung seiner Auszubildenden zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Der Täter hatte die junge Frau immer wieder in seinem Lieferwagen in den Wald gefahren, das Fahrzeug verschlossen und die Frau vergewaltigt. Die Karlsruher Richter bezweifeln zwar nicht, dass der Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Auszubildenden stattfand. Aber: Weder „das bloße Fahren zu einer abgelegenen Stelle, an der die mitgeführte Frau Hilfe nicht erwarten kann“, noch „Einschließen oder ähnliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit einer Frau, in der Absicht, mit ihr geschlechtlich zu verkehren“, seien bereits Anwendung von Gewalt im Sinne des §177. Schwarzer schreibt: „Ausgerechnet jetzt, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo Frauen endlich wagen, über ihre Demütigung und Angst zu sprechen; (…) ausgerechnet jetzt, wo Frauen die subtilen Verflechtungen von Einschüchterung, Scham und Angst analysieren – ausgerechnet jetzt antwortet ein Bundesgericht auf genau dieser Ebene! Und genau darauf kommt es diesem Gericht an. Darum ist dieser Richterspruch eine direkte Antwort auf die Arbeit der Frauenbewegung! Darum ist er ein hochpolitisches Urteil!“

Frauendemo gegen Vergewaltiger-Urteil : Männerjustiz für Vergewaltigung? ; BGH-Urteil vom 1.7.1981 (FMT-Signatur: PT.1981-06)
Plakat, 1981

Die Bremer Frauenzeitung Gesche veröffentlicht eine Sondernummer mit dem Titel Vergewaltigung,26 die ausschließlich von Frauen des Bremer Notrufs für vergewaltigte Frauen e. V. gemacht wurde. Sie beklagen mehrfach, dass Vergewaltigungen in der „sogenannten Linken oder Alternativen Szene“ nicht angezeigt und Vergewaltiger „manchmal bemitleidet“ würden, „weil er doch durch seine sozialen Zusammenhänge zum Vergewaltiger geworden ist (keiner spricht dann von der Frau)“. Gewalt gegen Frauen sei kein Thema in der linken Szene. Fazit einer Autorin: „Lieber hätte ich den Bruch nicht gesehen, denn er berührt meine Identität, läßt es mich die Frage stellen, ob ich überhaupt noch auf eine Demo gehe, wenn z. B. der Freak neben mir mich gegen Bullen schützt und mir zwei Stunden später ‚in die Fresse‘ hauen möchte, weil ich eine ‚Scheiß-Emanze‘ bin.“27

1983

Gesche : Frauenzeitung aus Bremen, Sondernummer, September 1981 (FMT-Signatur: Z104)
Gesche, September 1981

Die Dissertation der Soziologin Margrit Brückner erscheint im Verlag Neue Kritik unter dem Titel Die Liebe der Frauen: über Weiblichkeit und Mißhandlung.28 Ausgehend von ihrer Erfahrung mit misshandelten Frauen in Frauenhäusern analysiert Brückner das Verhältnis von Liebe und Hass in gewalttätigen Beziehungsstrukturen: „Mißhandelte Frauen drücken oft ihre Verwunderung darüber aus, daß sie sich so tief in Abhängigkeit zu einem gewalttätigen Mann haben fallen lassen und daß sie diese Situation so lange erduldet haben. […] Eine Erklärung für das Versinken in dumpfer Abhängigkeit könnte die Angst sein, von dem aufgestauten inneren Haß ebenso überschwemmt zu werden wie vorher von der Macht der Liebensphantasien. Denn das Verharren in bewegungsloser Passivität bedeutet Schutz vor der Wucht vulkanartiger Haßausbrüche.“29

Juli 1983

Walpurgisnacht "Nacht der Frauen gegen Gewalt und gegen Vergewaltigung" : "Wir wollen mehr als die Nacht zurück" (FMT-Signatur: FB.07.160)
Flugblatt, 1982

Die erste Initiative aus der Politik, die die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellen will, startet die Hamburger Justizsenatorin Eva Leithäuser (SPD), die einen Gesetzentwurf als Bundesratsinitiative einbringen will. Mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP wird der Antrag Hamburgs im Bundesrat jedoch abgelehnt.30 Im selben Monat bringt die SPD einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der eine Bestrafung von vergewaltigenden Ehemännern vorsieht. Auch die Grünen legen einen Gesetzentwurf vor, der in den §177 (Vergewaltigung), §178 (sexuelle Nötigung) und „179 (sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger) das Wort ,außerehelich‘ gestrichen haben will.31

Brückner, Margrit (1983): Die Liebe der Frauen : Über Weiblichkeit und Mißhandlung. - Frankfurt am Main : Verlag Neue Kritik (FMT-Signatur: SE.01.006).
Die Liebe der Frauen

1. Dezember 1983

Der Bundestag debattiert über die Anträge von Grünen und SPD.32 Die VertreterInnen der CDU/CSU und FDP bestreiten nicht, dass die sexuelle Selbstbestimmung auch in der Ehe zu wahren sei, allerdings verläuft die Debatte so, dass Jurist Dierk Helmken erklärt, er habe den Verdacht, dass es den Reformgegnern letztlich um die Verteidigung von patriarchalischen Privilegien gehe.33 Der Bundestag verweist die Gesetzentwürfe an die Ausschüsse für Recht, Gesundheit, Jugend und Familie.

Der Abschlussbericht der vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit finanzierten und veröffentlichten Untersuchung Vergewaltigung als soziales Problem – Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen erscheint.  Ulrike Teubner, Ingrid Becker und Rosemarie Steinhage von der Notruf- und Beratungsgruppe des Frauenzentrums Mainz hatten über den Zeitraum von zweieinhalb Jahren nach den Ursachen und Folgen sexueller Gewalt geforscht. Sie folgen der feministischen Kernthese, Vergewaltigung sei „in der Mehrzahl der Fälle nicht Ausdruck sexueller Bedürfnisse und Wünsche, sondern Ausdruck von Macht und Verachtung gegenüber Frauen.“35

Plakat Frauennotruf, undatiert (FMT-Signatur: PT.002)
Plakat Frauennotruf, undatiert

12./13. Januar 1984

Das Familienministerium richtet in Bonn eine Fachtagung Gewalt gegen Frauen aus. SozialarbeiterInnen, JuristInnen, Ärztinnen, PolizistInnen, Journalistinnen, Frauen aus (autonomen) Frauenhäusern und Vertreterinnen der Notrufe für vergewaltigte Frauen diskutieren über Erscheinungsformen und Ursachen der Gewalt gegen Frauen sowie Hilfsmöglichkeiten.36  

21. Januar 1984

Das Bundesministerium gibt ein Rechtsgutachten über die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe in ausländischen Strafgesetzen beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Auftrag. Das Gutachten stellt fest, dass „in vielen Ländern aktuelle Bestrebungen zur Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Ehefrau bestehen.“37

Familienminister Heiner Geissler, Link zur Quelle: EMMA Nr. 3, 1984, S.52
Familienminister Heiner Geissler

In einigen Ländern ist die Vergewaltigung in der Ehe bereits strafbar, u.a. in Schweden, Frankreich und neunzehn Bundesstaaten der USA.38 Die Gegner einer Änderung des Strafrechts führen als Argument an, dass der Staat sich davor hüten müsse, in die Intimsphäre von Eheleuten einzugreifen. Was sich zu Hause, im ehelichen Schlafzimmer, wirklich zutrage, werde sich vor dem Gericht nie mit Sicherheit feststellen lassen, „das Zeugnis der Frau allein kann dazu nicht ausreichen.“39

März 1984

Familienminister Heiner Geißler (CDU) bekundet im Interview mit EMMA Verständnis für die Forderung nach einem Gesetz, das die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt, da damit den Männern deutlich gemacht würde, dass „auch in der Ehe die Frau nicht Objekt oder Eigentum des Mannes ist, mit der er machen kann, was er will.“

12. September 1984

zum Berliner Gynäkologen-Prozess, Quelle: Pressedokumentation: Vergewaltigung : exemplarische Prozesse und Urteile II ; Berliner Gynäkologen-Prozess (FMT-Signatur: PD-SE.03.04)
zum Berliner Gynäkologen-Prozess

Am Berliner Landgericht fällt das Urteil im sogenannten Berliner Gynäkologenprozess, der seit Monaten die Öffentlichkeit bewegt.40 Die beiden angeklagten Ärzte werden wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung zu je zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie eine Kollegin während eines Nachtdienstes an der Berliner Pulsklinik gemeinsam vergewaltigt hatten. Der Prozess hatte unter anderen deshalb so viel Aufmerksamkeit erregt, weil die beiden (als ‚progressiv‘ geltenden) Verteidiger, „nichts ausgelassen hatten, um die vergewaltigte Ärztin als ‚sexbesessenes Monster‘ und ‚Hysterikerin‘ darzustellen.“ Diese in Vergewaltigungsprozessen übliche Verteidigungsstrategie wird nun erstmalig nicht nur von Feministinnen scharf kritisiert, sondern auch in den Medien. Die Süddeutsche Zeitung spricht von einer „Niederlage des Rechtsstaates, wenn Verbrechensopfer nach dem Strafverfahren vom ‚schrecklichsten Erlebnis ihres Lebens‘ reden. Dagegen muss etwas unternommen werden.“41

Plakat Selbstverteidigung, undatiert (FMT-Signatur: PT.030)
Plakat Selbstverteidigung, undatiert

Januar 1985

EMMA schreibt: „Seit Beginn der Frauenbewegung ist die seit Jahrhunderten totgeschwiegene und zur Privatsache erklärte Vergewaltigung nicht länger ein Tabu.“ Das feministische Magazin listet die Forderungen auf, die u.a. feministische Juristinnen, Mitarbeiterinnen der Frauennotrufe und -beratungsstellen aufgestellt haben, damit Vergewaltigungsopfer von der Justiz angemessen behandelt werden und mehr Vergewaltigungen verurteilt werden können. Dazu gehören die Schulung von PolizeibeamtInnen und die Einrichtung von Sonderdezernaten bei den Staatsanwaltschaften. Die Opferzeuginnen sollen das institutionalisierte Recht auf Nebenklage haben, Fragen nach dem ‚Intimleben‘ des Opfers sollen begrenzt werden. Die Vergewaltigung in der Ehe soll unter Strafe gestellt werden, ebenso soll anales und orales Eindringen in den Körper ebenfalls als Vergewaltigung gelten und der vaginalen Vergewaltigung strafrechtlich gleichgestellt werden.

15. Mai 1997

Erst jetzt beschließt der Bundestag die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe. Im neuen Gesetz wird das Wort ,außerehelich‘ gestrichen. Die historische Gesetzesreform, für die die Frauenbewegung und engagierte Politikerinnen seit einem Vierteljahrhundert gekämpft hatten, war nur deshalb möglich geworden, weil Politikerinnen aller Parteien fraktionsübergreifend für das Gesetz gestimmt und ihre männlichen Kollegen unter Druck gesetzt hatten. So setzten sie auch durch, dass die sogenannte ,Widerspruchsklausel‘ aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf gestrichen wurde: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hatte vorgesehen, dass die Ehefrau, die ihren Ehemann wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, dies widerrufen könne. Um dieses Passus zu verhindern, der die Ehefrau dem massiven Druck des Ehemannes ausgesetzt hätte, legte das Frauenbündnis unter Führung von Ulla Schmidt (SPD) einen Gruppenantrag ohne Widerspruchsklausel vor (EMMA berichtet). Er wurde mit den Stimmen fast aller CDU/CSU-Frauen und einiger Unions-Männer, Teilen der FDP-Stimmen sowie allen Stimmen von SPD, Grünen und PDS angenommen. Dagegen stimmten einhundertachtunddreißig Abgeordnete, u.a. Horst Seehofer (CSU), Norbert Blüm (CDU) und Burkhart Hirsch (FDP).

Kommentar zum Urteil im Gynäkologenprozeß - gesehen am 20.3.86 Berlin-Schöneberg © Petra Gall (FMT-Signatur: FT.02.0197)
Kommentar zum Urteil, 1986

Die Reform beinhaltet auch eine Neudefinition des Vergewaltigung-Begriffs. Von nun an gilt jedes Eindringen in den Körper, also auch anale und orale Penetration als Vergewaltigung. Damit sind zwei zentrale Forderungen der Frauenbewegung zum Sexualstrafrecht erfüllt.

1999

Die inzwischen rund einhundertzwanzig Frauennotrufe gründen unter Federführung des Frauennotrufs Kiel eine Bundesvernetzungsstelle der Frauennotrufe. Die Anschubfinanzierung übernimmt das Bundesfrauenministerium.

Demonstration Hildesheim, 1990, Bildquelle: EMMA-Archiv, © Gesa Kohlhase, Demonstrantinnenzug durch die Hildesheimer Innenstadt am 5.5.1990 (FMT-Signatur: FT.02.0170)
Demonstration Hildesheim, 1990

Wie geht es weiter?

Im Jahr 2002 entsteht aus der Vernetzungsstelle der Bundesverband autonomer Frauennotrufe (BaF). Im November 2004 schließt sich der BaF mit dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen zusammen zum Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt (bff). Der bff wird zur bedeutenden Lobby-Organisation im Kampf um eine Verbesserung der Gesetzgebung zur Vergewaltigung. Er wird u.a. mit einer Dokumentation von rund einhundert Vergewaltigungsverfahren zu einer Aufdeckung der bestehenden Gesetzeslücken beitragen. In den dokumentierten Fällen war der erzwungene Geschlechtsverkehr jeweils unstrittig gewesen. Dennoch wurden die Verfahren eingestellt oder die Täter freigesprochen, weil die Frau nach Auffassung der JuristInnen nicht genügend Widerstand geleistet hatte oder nicht geflüchtet war.42

Aufruf Walpurgisnachtdemo, 1991, Link zum Flugblatt, FMT-Signatur: FB.07.243
Aufruf Walpurgisnachtdemo, 1991

Im Dezember 2004 veröffentlicht das Bundesfrauenministerium die Studie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Es ist mit 10.000 Befragten die größte Dunkelfeld-Studie, die in Deutschland jemals zum Thema Gewalt gegen Frauen gemacht wurde. Ein zentrales Ergebnis: Mindestens jede siebte Frau hat ab ihrem 16. Lebensjahr sexuelle Gewalt im strafrechtlichen Sinne (also Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung) erfahren. Doch nur jede zwölfte hat die Tat angezeigt. In der Zahl ist der kindliche Missbrauch nicht enthalten.

Ulla Schmidt (SPD), 2002 © Bettina Flitner (FMT-Signatur: FT.02.1806)
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt

Im Jahr 2006 bestätigt der Bundesgerichtshof noch einmal den Gewaltbegriff, den er schon 1981 für eine Verurteilung eines Vergewaltigers angelegt hatte. In seiner Urteilsbegründung für den Freispruch des Täters erklärt der BGH: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt“.43 Initiativen wie der bff und der Deutsche Juristinnenbund starten Kampagnen und Gesetzesinitiativen für eine Reform des Sexualstrafrechts, die dem Prinzip ,Nein heißt Nein‘ Rechnung trägt: Um den Straftatbestand der Vergewaltigung zu erfüllen, muss es reichen, dass der Täter gegen den erklärten Willen des Opfers verstößt, ohne das Letzteres massiven Widerstand leisten muss.

„Wir stellen fest, dass vergewaltigten Frauen heute wieder verstärkt mit Vorbehalten begegnet wird“, erklärt Katja Grieger, Sprecherin des Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). Der bff lädt deshalb am 02. September 2010 zum Kongress Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke.44 Rund zweihundert BeraterInnen und ProzessbegleiterInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen, RechtsmedizinerInnen und TraumatherapeutInnen debattieren über die Frage „Wie kann die ‚Gerechtigkeitslücke‘ geschlossen werden?“ Die Zahlen des bff belegen, dass Vergewaltigung in Deutschland ein nahezu strafloses Verbrechen ist: Im Jahr 2008 zeigten 7292 Frauen eine Vergewaltigung an. Rund drei Viertel der Vergewaltigungs-Verfahren werden von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Nur jede siebte Anzeige endete mit einer Verurteilung des Beschuldigten. Geht man davon aus, dass nur jede zwölfte Tat angezeigt wird, gehen 95% der Täter straffrei aus.45

Link zur Dokumentation: bff Kongress 'Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke'
bff-Kongress, 2010

Am 06. September 2010 beginnt vor dem Landgericht Mannheim der Prozess gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann. Es geht in diesem Prozess um die brisante Frage von sexueller Gewalt innerhalb von Beziehungen. Der Prozess zieht sich über acht Monate. Am Ende steht ein Freispruch für den Angeklagten nach dem Prinzip ,in dubio pro reo‘. Der Richter führt aus: „Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann und damit im Gegenzug von einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt ist.“ Er fordert die Medien auf: „Bedenken Sie, wenn Sie künftig über den Fall reden oder berichten, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch umgekehrt, dass Frau D. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war.“ Die Medien werten das Urteil als Unschuldsbeweis für Kachelmann.

Plakat vom Bundesverband bff, © bff - Frauen gegen Gewalt e.V.
Plakat vom Bundesverband bff

In der Folge kommt es zu weiteren Prozessen und Urteilen. Kachelmann verklagt seine Ex-Geliebte auf Schadenersatz für die von ihm beauftragten Gutachten. Während das Landgericht Frankfurt diesen Anspruch verneint, erklärt das Oberlandesgericht im September 2016 nach nur zweitägiger Beweisaufnahme, Claudia D. habe Kachelmann „vorsätzlich und wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt“. Die Staatsanwaltschaft Mannheim, die nun gegen Claudia D. wegen „Freiheitsberaubung“ ermitteln muss, stellt hingegen fest: Die „zu bewertenden Indizien und Beweismittel“ zeigten „in mehrere Richtungen und lassen unterschiedliche Geschehensabläufe als möglich erscheinen“.46

Am 01. August 2014 tritt das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen des Europarats in Kraft. Diese sogenannte Istanbul-Konvention verlangt, dass nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung bestraft wird: „Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.“

Istanbul Konvention, Externer Link: Broschüre des Europarats
Istanbul Konvention

Im September 2014 legt Justizminister Heiko Maas (SPD) eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts vor. Sie betrifft verschiedene Bereiche wie Kinderpornografie oder sexuelle Belästigung im Internet. Für eine Reform des §177 sieht der Minister jedoch „keinen Handlungsbedarf“.47 Frauenorganisationen protestieren dagegen u.a. mit einer Petition mit 20.000 Unterschriften. Schließlich legt das Bundesjustizministerium doch einen Entwurf zur Reform des §177 vor. Er enthält einige Verbesserungen, das Prinzip ,Nein heißt Nein‘ ist jedoch nicht umgesetzt.48 Der Entwurf verstößt damit gegen die Istanbul-Konvention.

Silvesternacht Köln 2015/2016, Quelle: EMMA-Archiv
Silvesternacht Köln 2015/2016

31. Dezember 2015 Am Kölner Hauptbahnhof kommt es in der Silvesternacht zu massenhafter sexueller Gewalt an Frauen und Mädchen durch rund 2.000 überwiegend arabische und nordafrikanische Männer. Der Schock über das Ereignis führt dazu, dass im ganzen Land plötzlich wieder über sexuelle Gewalt gegen Frauen debattiert wird.49 In diesem Klima präsentiert Justizminister Maas erneut seinen Gesetzentwurf, der bis dato auf Eis gelegen hatte. Am 08./09. Januar beschließt der CDU-Bundesvorstand auf Initiative der Vorsitzenden der CDU-Frauenunion, Annette Widmann-Mauz, in seiner Mainzer Erklärung: „Sexualdelikte sind keine Kavaliersdelikte. (…) Deshalb sorgen wir dafür, dass gemäß Art. 36 der Istanbul-Konvention die Gesetzeslücke bei Vergewaltigung geschlossen wird. Für den Straftatbestand muss ein klares ‚Nein‘ des Opfers ausreichen.“50

Der Schock - die Silvesternacht von Köln (2016). - Schwarzer, Alice [Hrsg.]. Köln : Kiepenheuer & Witsch. (FMT-Signatur: SE.01.187)
Der Schock – die Silvesternacht von Köln

Auch diesmal tut sich ein parteiübergreifendes Frauenbündnis zusammen: Die CDU-Frauenunion und die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) organisieren eine ExpertInnen-Anhörung zum Thema und verkünden anschließend in einer gemeinsamen Presseerklärung: „Solange es weiterhin auf die Widerstandsfähigkeit und nicht den Willen des Opfers ankommt, bleiben Schutzlücken bestehen. Wir brauchen einen Grundtatbestand, der jede nicht-einvernehmliche sexuelle Handlung unter Strafe stellt.“ Flankiert wird der   Frauenaufstand von einem breiten Protest von Frauenorganisationen: Organisationen von Terre des Femmes über die Frauenhaus-Dachverbände bis zum Juristinnenbund kritisieren in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel den aktuellen Gesetzentwurf scharf: „Übergriffe bleiben weiterhin straffrei, auch wenn die betroffene Peron ihren entgegenstehenden Willen bekundet und der Täter sich darüber hinweggesetzt hat.“ Schließlich legt das Justizministerium einen neuen Gesetzentwurf vor, in dem es heißt: „Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“

Kampagne Frauen Notruf Münster, Externer Link: Kampagne Frauen Notruf Münster
Kampagne Frauen Notruf Münster

Am 07. Juli 2016 stimmen alle 601 Bundestagsabgeordneten für das neue Sexualstrafrecht. Nein heißt nun endlich Nein.51

Am 01. Juni 2017 beschließt der Bundestag die Ratifizierung der Istanbul-Konvention. Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt legt in 80 Artikeln gemeinsame europäische Standards zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fest und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, konkrete Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu ergreifen. Deutschland hatte die Konvention schon 2011 unterzeichnet, konnte sie aber erst sechs Jahre später ratifizieren, weil der §177 bis zu seiner Reform 2016 gegen die Istanbul-Konvention verstoßen hatte.

Quellen

1 § 184 StGB : Verbreitung pornographischer Schriften (1973). - Verfügbar unter: lexetius.com/StGB/184,12. Siehe auch Stümper, Alfred (1974): Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Zuhälterei. - In: Kriminalistik : Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Nr. 3, siehe Pressedokumentation: Prostitution : Politik und Justiz, Kapitel 2 Urteile und Prozesse, FMT-Signatur PD-SE.15.04).
2 Vorwort zu unserer Gruppe Frauen gegen Gewalt gegen Frauen (1974). - Frauenzentrum Berlin [Hrsg.]. [Flugblatt], siehe Pressedokumentation: Chronik der Neuen Frauenbewegung 1974, Kapitel 3.2. Dokumente Chronologie der Ereignisse - 17 (FMT-Signatur: PD.FE.03.01-1974).
3 Brownmiller, Susan (1975): Against our will : men, women and rape. - New York : Simon and Schuster (FMT-Signatur: SE.03.164.[01]).
4 Brownmiller, Susan (1978): Gegen unseren Willen. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt (FMT-Signatur: SE.03.164.[02]).
5 Siehe auch Pressedokumentation: Chronik der Neuen Frauenbewegung 1975 (FMT-Signatur: PD-FE.03.01-1975).
6 Siehe auch Pressedokumentation: Vergewaltigung : Debatte über Vergewaltigung als Mittel zur Unterdrückung und Beherrschung von Frauen (FMT-Signatur: PD-SE.03.05).
7 Internationales Frauentribunal Brüssel 4.-8. März 1976. Frauengruppen [Hrsg.] - Bremen : Selbstverlag (FMT-Signatur: SE.01.038) und Gewalt gegen Frauen in Ehe, Psychiatrie, Gynäkologie, Vergewaltigung, Beruf, Film und was Frauen dagegen tun : Beiträge zum Internationalen Tribunal über Gewalt gegen Frauen, Brüssel März 1976 (1976). - Frauenzentrum [Hrsg.]. Berlin: Selbstverlag (FMT-Signatur: SE.01.066).
8 Grußwort von Simone de Beauvoir zum Internationalen Frauentribunal (1976). - In: AUF : eine Frauenzeitschrift, Nr.7, S.10 (FMT-Signatur: Z-A001:1976-7).
9 „Mein Mann hat mich vergewaltigt“ (1976). - In: Stern, Nr. 17, siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung : Debatte über die Forderung nach Strafbarkeit von Gewalt in der Ehe II (FMT-Signatur: PD-SE.03.09).
10 BGH: Urteil vom 2. November 1966 : Az. IV ZR 239/65. - Verfügbar unter: openjur.de/u/270402.html
11 Frauenzentrum Berlin (1971): Frauen, wir erobern uns die Nacht zurück! [Flugblatt] (FMT-Signatur: FB.07.104).
12 Frauen gegen Männergewalt : Die „Hexen“ kommen wieder! ; Frauen-Nachtdemo und anschließendes Frauenfest (1978). - In: [Flugblatt Frauenzentrum Langenfelderstr., Hamburg], siehe Pressedokumentation: Gewalt gegen Frauen : feministische Initiativen gegen Gewalt II - Demos und Kampagnen: PD.SE.01.09, Kapitel 2. Walpurgisnacht-Demonstrationen).
13 Schapira, Alisa (1977): Die Rechtsprechung zur Vergewaltigung : über die weit gezogenen Grenzen der erlaubten Gewalt gegen Frauen. - In: Kritische Justiz, Nr. 3, S. 230 f. (FMT-Signatur: SE.03-a). Artikel auch online verfügbar unter: www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/1977/19773Schapira_S_221.pdf [PDF-Dokument].
14 Ebenda
15 Siehe auch Tribunal Gewalt gegen Frauen : Frauen kämpft gegen Mißhandlung in der Ehe, Abtreibungsverbot, Frauenlohngruppen und Hausarbeit, Frauenfeindlichkeit in der Werbung, Erziehung zur Duldsamkeit (1978). – o.O. : Selbstverlag (FMT-Signatur: SE.01.040).
16 Siehe Pressedokumentation: Gewalt gegen Frauen : Feministische Initiativen gegen sexuelle Gewalt I - Nachttaxi und Notruf (FMT-Signatur: PD-SE.01.08).
17 Helmken, Dierk (1979): Vergewaltigung in der Ehe : Plädoyer für einen strafrechtlichen Schutz der Ehefrau. Heidelberg : Kriminalistik-Verlag (FMT-Signatur: SE.03.014).
18 Ludwig, Mia ; Tripp, Ulla ; Helmken, Dierk (1980): Vergewaltigung in der Ehe : „Egal, ob sie will, oder nicht – jetzt ziehen wir das durch“ - Ursprünglich in: Heidelberger Rundschau, Nr. 8, 15. April 1980; erneut abgedruckt und hier zitiert nach: Die Tageszeitung, 24.04.1980, siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung: Debatte über die Forderung nach Strafbarkeit von Gewalt in der Ehe II (FMT-Signatur: PD-SE.03.09).
19 Lohstöter, Ingrid (1980): Wann eine Vergewaltigung für die deutsche Justiz eine Vergewaltigung ist. - In: Courage : Berliner Frauenzeitung, Nr.6, S. 24 – 28 (FMT-Signatur: Z-Ü104:1980-6).
20 Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen, Berlin (1980): Wir fordern ein neues Gesetz. - In: Courage : Berliner Frauenzeitung, Nr.6, S. 29 ff. (FMT-Signatur: Z-Ü104:1980-6).
21 Siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung: exemplarische Prozesse und Urteile, Kapitel 1 Prozess Driest / Lundi (FMT-Signatur: PD-SE.03.03).
22 Vergewaltigung: „Mord an der Seele“ (1981) - In: Der Spiegel, Nr. 32, S. 50-62. - Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14333818.html
23 Ebenda
24 Ebenda
25 Schwarzer, Alice (2016): Die desaströsen Folgen des Falles Kachelmann. - In: EMMA, Nr. 6, S.17 (FMT-Signatur: Z-Ü107:2016-6).
26 Männerjustiz und Vergewaltigung (1981). - In: Gesche : Frauenzeitung aus Bremen. - Notruf für vergewaltigte Frauen e.V. [Hrsg.], Sondernummer 09/1981, S. 25 (FMT-Signatur: Z104).
27 Ebenda, S.32.
28 Brückner, Margrit (1983): Die Liebe der Frauen : Über Weiblichkeit und Mißhandlung. - Frankfurt am Main : Verlag Neue Kritik (FMT-Signatur: SE.01.006).
29 Ebenda, S. 112.
30 Gerste, Margit (1986): Augen zu und durch : Das Gesetz kennt keine Vergewaltigung in der Ehe. - In: Die Zeit, 04.07.1986. - Verfügbar unter: www.zeit.de/1986/28/augen-zu-und-durch
31 Ebenda
32 Deutscher Bundestag (1983): Plenarprotokoll 10/40, 40. Sitzung, Bonn, 01.12.1983, siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung : Debatte über die Forderung nach Strafbarkeit von Gewalt in der Ehe I (FMT-Signatur: PD-SE.03.08).
33 Helmken, Dierk (1985): Zur Strafbarkeit der Ehegattennotzucht : ein Beitrag zur Reform des Sexualstrafrechts. - In: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), Nr. 7, S.171-174 (FMT-Signatur: SE.03-a). Wörtlich heißt es: „Es besteht der Verdacht, dass viele, die dieses Argument verwenden, hier eine rationale Rückfallposition bezogen haben, nachdem im Kampf zwischen Patriarchat und Gleichberechtigung die rechtsdogmatischen Bastionen verfassungsrechtlich nicht mehr zu halten waren.“ S.172.
34 Untersuchung "Vergewaltigung als soziales Problem - Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen" : Abschlußbericht der Projektgruppe (1983). - Frauenzentrum [Hrsg.] ; Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit [Hrsg.]. Stuttgart u.a.: Kohlhammer (FMT-Signatur: SE.03.015).
35 Ebenda, S. 29.
36 Dokumentation der Fachtagung "Gewalt gegen Frauen" des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit vom 12. und 13. Januar 1984 in Bonn (1984). - Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit / Arbeitsstab Frauenpolitik [Hrsg.]. Bonn : Selbstverlag (FMT-Signatur: SE.01.001).
37 Meyer, Jürgen (1984): Gutachten über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe nach ausländischen Strafgesetzen. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, S. 10 f., siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung : Debatte über die Forderung nach Strafbarkeit von Gewalt in der Ehe I (FMT-Signatur: PD-SE.03.08). Siehe auch: Schalkhäuser, Vera (1985): Rechtsgutachten über die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe in ausländischen Strafgesetzen (Zusammenfassung und Anmerkung). - In: Streit : Feministische Rechtszeitschrift, Nr. 3 (FMT-Signatur: Z-F011).
38 Ebenda
39 Ebenda
40 Siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung: exemplarische Prozesse und Urteile II ; Berliner Gynäkologen-Prozess (FMT-Signatur: PD-SE.03.04).
41 Kerscher, Helmut (1984): Wenn dem Opfer der Prozess gemacht wird. - In: Süddeutsche Zeitung, 29.09.1984, siehe Pressedokumentation: Vergewaltigung : exemplarische Prozesse und Urteile II ; Berliner Gynäkologen-Prozess (FMT-Signatur: PD-SE.03.04, Kapitel 2 Debatte über Vergewaltigungsprozesse).
42 Erfahrung - Debatte - Veränderung : 10 Jahre bff ; 2005-2015. - In: bff Frauen gegen Gewalt e.V. [Hrsg.], S. 20f., verfügbar unter www.frauen-gegen-gewalt.de/id-10-jahre-bff-broschuere.html [PDF-Dokument].
43 Hat sie wirklich Nein gesagt? (2016). - In: EMMA-Online, 04.07.2016, verfügbar unter: http://www.emma.de/artikel/hat-sie-wirklich-nein-gesagt-332983
44 Streitsache Sexualdelikte : Frauen in der Gerechtigkeitslücke ; Dokumentation zum Kongress des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) am 2. September 2010 im Roten Rathaus Berlin (2010). - Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) [Hrsg.]. Berlin : o.V. (FMT-Signatur: SE.03.250). Auch verfügbar unter www.frauen-gegen-gewalt.de/studie-doku/dokumentation-der-bff-fachtagung-2010-streitsache-sexualdelikte.html
45 Ebenda, S. 10.
46 Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der schweren Freiheitsberaubung gegen frühere Partnerin des Wettermoderators K. (2017). - Staatsanwaltschaft Mannheim, 22.09.2017, [Pressemitteilung]. - Verfügbar unter: tinyurl.com/yc4ulva3
47 Louis, Chantal (2014): Petition : Nein heißt Nein! - In: EMMA-Online, 19.09.2015, verfügbar unter http://www.emma.de/artikel/petition-nein-heisst-nein-herr-minister-330593
48 Ebenda
49 Der Schock - die Silvesternacht von Köln (2016). - Schwarzer, Alice [Hrsg.]. Köln : Kiepenheuer & Witsch. (FMT-Signatur: SE.01.187)
50 Mainzer Erklärung : Beschluss des Bundesvorstands der CDU Deutschlands anlässlich der Klausurtagung am 8. und 9. Januar 2016 in Mainz. Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) [Hrsg.], S. 9. https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/2016_01_09_mainzer_erklaerung.pdf?file=1
51 Siehe Eine Revolution für die Frauen!. - In: EMMA, 07.07.2016, verfügbar unter http://www.emma.de/artikel/eine-revolution-fuer-die-frauen-332995

Alle Internetlinks wurden zuletzt abgerufen am 06.10.2017.

Auswahlbibliografie

Empfehlungen

Brownmiller, Susan (1978): Gegen unseren Willen : Vergewaltigung und Männerherrschaft. -
Carroux, Ivonne [Übers.]. Frankfurt am Main : Fischer (FMT-Signatur SE.03.164).

Brückner, Margrit (1983): Die Liebe der Frauen : über Weiblichkeit und Mißhandlung. - Frankfurt am
Main : Verl. Neue Kritik (FMT-Signatur SE.01.006).

Schapira, Alisa (1977): Die Rechtsprechung zur Vergewaltigung: über die weit gezogenen Grenzen
der erlaubten Gewalt gegen Frauen. - In: Kritische Justiz 10, Nr. 3 (FMT-Signatur SE.03-a).

Tribunal Gewalt gegen Frauen : Frauen kämpft gegen Mißhandlung in der Ehe,
Abtreibungsverbot, Frauenlohngruppen und Hausarbeit, Frauenfeindlichkeit in der Werbung,
Erziehung zur Duldsamkeit (1978). - [o. O.] : Selbstverl., o. A. (FMT-Signatur SE.01.040).

Pressedokumentation

Pressedokumentation zum Thema Vergewaltigung: PDF-Download

Der FMT verfügt über eine einzigartige, umfangreiche Pressedokumentation zum Thema Vergewaltigung (15 Ordner, inkl. zahlreicher Flugblätter, Artikeln der feministischen und allgemeinen Presse, umfangreichem Material zu einzelnen Prozessen und Fällen, strafrechtlichen Debatten usw.).

Weitere Bestände im FMT (Auswahl)

FMT-Literaturauswahl Vergewaltigung: PDF-Download

EMMA-Artikel Vergewaltigung: PDF-Download

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