„Frauen gemeinsam sind stark“ lautet jetzt die Lösung. Aus dem Kampf gegen den § 218 wird eine vernetzte deutsche Frauenbewegung, die sich bewusst „autonom und ohne Männer“ organisiert.
In Frankreich erscheint das erste Interview von Alice Schwarzer mit Simone de Beauvoir. Darin erklärt diese ihre Kehrtwende: Hoffte sie noch im Anderen Geschlecht (1949) auf die „Lösung der Frauenfrage durch den Sozialismus“, erklärte sie nun: „Wir müssen für die konkrete Situation der Frau kämpfen, bevor der erträumte Sozialismus kommt.“
Das Interview verbreitete sich in Windeseile weltweit in Medien und Raubdrucken. Es galt der Frauenbewegung als Bestätigung durch die bedeutendste Geschlechter-Theoretikerin. Schwarzer führte bis 1983 fünf weitere Interviews mit Beauvoir (Weggefährtinnen im Gespräch, KiWi).
21. Februar 1972
Das Kabinett billigt die Indikationslösung. Ein Schwangerschaftsabbruch soll nun in drei Fällen erlaubt sein: Bei Gefahr für die Gesundheit der Mutter (medizinisch-soziale Indikation), bei Schwangerschaft durch Vergewaltigung (ethische Indikation) und bei Behinderung des Fötus (eugenische Indikation).
Zum Beginn des Wahljahrs 1972 erklärt der Kölner Kardinal Höffner zum Thema § 218: „Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, auch des ungeborenen Kindes, zu gewährleisten, sind für einen gläubigen Christen nicht wählbar.“
28. Februar 1972
In Frankfurt geben die Frauengruppen Revolutionärer Kampf und Aktion 218 gemeinsam den Rundbrief Frauen gemeinsam sind stark heraus. Das Themenspektrum reicht von der Frauenausbeutung in Betrieb und Küche über steigende Preise und Spekulantentum bis Ärzteboykott und Misswahlen.
1. März 1972
Nach einer Vorführung von Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers… gründen neun Frauen eine autonome Frauengruppe in der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW). Sie manifestieren damit, dass die Motive und Folgen weiblicher und männlicher Homosexualität nicht identisch sind. Sie verstehen sich als Feministinnen und solidarisieren sich mit dem Kampf gegen den § 218: „Frauen, wenn ihr meint, der § 218 ginge schwule Frauen nichts an, dann irrt ihr euch gewaltig. Er betrifft alle Frauen, er entmündigt alle Frauen. Er verbietet ihnen, über ihren Körper selber zu verfügen.“
8. März 1972
Die Münchner Aktion 218 ruft zum ‚Internationalen Frauentag’ auf, der bis dahin nur in der DDR gefeiert wurde – verspottet als ‚sozialistischer Muttertag’. „Am 8. März 1908 streikten die Frauen der Bekleidungsindustrie in Amerika. Dieser Tag wird seitdem von aufbegehrenden Frauen als Weltfrauentag begangen. Wir wollen diese Tradition wieder aufnehmen!“
9. März 1972
Die Volkskammer der DDR verabschiedet die Fristenlösung, die auch die westdeutschen Frauen für die Bundesrepublik fordern. Die SED befürchtet offensichtlich ein Überschwappen der Frauenbewegung auf die DDR und versucht, dem durch ‚Emanzipation von oben’ zuvorzukommen. In der DDR ist ein Schwangerschaftsabbruch von nun an innerhalb der ersten drei Monate straffrei.
11./12. März 1972
Rund 400 Frauen aus 40 Städten treffen sich zum 1. Bundesfrauenkongress. In ihrer Resolution erklären sie: „Frauen müssen sich selbst organisieren, weil sie ihre ureigensten Probleme erkennen und lernen müssen, ihre Interessen zu vertreten. (…) Die Gruppen, die zunächst größtenteils aus dem Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen entstanden, haben erkannt, dass die Unterdrückung der Frauen in einem umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen ist, der über die Abtreibungskampagne hinausgeht.“
Zum Abschluss singen die Teilnehmerinnen das Lied des Frankfurter Weiberrates: Frauen gemeinsam sind stark. Die Presse konstatiert: Das ‚historische Treffen’ setzte das „Signal für eine autonome Frauenbefreiungsbewegung in Deutschland“. Genau neun Monate nach der Stern-Aktion ist die ‚Neue deutsche Frauenbewegung’ geboren.
10. April 1972
Während eines Sachverständigen-Hearings im Bundestag zum § 218 entrollen Frauen der Aktion 218 im Sitzungssaal ein Transparent: „Schluss mit dem Schwachsinn – weg mit 218!“
8. Mai 1972
Der WDR sendet ein einstündiges Hörfunk-Feature von Alice Schwarzer, die zu der Zeit noch in Paris lebt, über die Neue Frauenbewegung. Titel: Ich lass mir nichts mehr gefallen – Frauenbewegung in der Bundesrepublik und im Ausland. (Textmanuskript und Funkfeature im Bestand des FMT)
14. Mai 1972
Im ganzen Land organisieren Frauengruppen Proteste gegen den Muttertag. Motto: „Muttertag – ein Feiertag? Was feiern wir da eigentlich? Unsere Unterbezahlung? Unsere unbezahlte Hausarbeit? Unsere illegalen Abtreibungen?“
Pfingsten 1972
Das erste überregionale Treffen homosexueller Aktionsgruppen findet in Berlin statt. Rund 30 Frauen und 200 Männer kommen auf Einladung der HAW zusammen. Nach dem Pfingsttreffen entsteht in Hamburg die ‚schwule Frauengruppe in der BRD’.
11. Juni 1972
Im Kölner Gürzenich kommen rund 1.200 Teilnehmerinnen zu einem ‚Tribunal gegen den § 218’ zusammen. Angeklagt sind Politiker, Ärzte, Kirche, Justiz und alle, die Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper verweigern.
August 1972
Nach dem Vorbild der amerikanischen Frauengesundheitsbewegung bringt die Berliner Frauengruppe Brot und Rosen das Frauenhandbuch Abtreibung und Verhütungsmittel heraus. Es soll Frauen und Mädchen zu einem selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper befähigen. Außerdem formuliert das Handbuch die erste medizinisch-politische Kritik an der Pille. Die Broschüre wird zur Grundlage der ersten Veranstaltungen zum Thema Frauengesundheit.
Oktober 1972
In der Schweiz erscheint Die Hexenpresse – Zeitschrift für feministische Agitation. Herausgeberin ist die Baslerin Gunhild Feigenwinter. Die Hexenpresse ist die erste deutschsprachige Stimme der autonomen Frauenbewegung.
In Frankfurt erscheint das Buch Frauen gemeinsam sind stark mit Texten und Materialien der amerikanischen Women’s Liberation. Herausgeberin ist das Arbeitskollektiv der Sozialistischen Frauen Frankfurt. Damit beginnt nun auch in Deutschland eine systematische Rezeption der Analysen amerikanischer Feministinnen.
7./8. Oktober 1972
Auf einer außerordentlichen Delegiertenkonferenz in Frankfurt bereiten sich Frauengruppen auf die Bundestagswahl am 3. Dezember vor. Sie gründen die Aktion Frauen wählen Frauen, mit der sie mehr weibliche Kandidaten auf den vorderen Listenplätzen durchsetzen wollen. Der Frauenanteil der Bundestagsabgeordneten liegt bei allen Parteien unter zehn Prozent.
Die Kampagne Frauen entscheidet die Wahl! wird ins Leben gerufen: „Die Frauen sollen ihre eigene Meinung und nicht mehr die ihres Mannes zur Wahlurne tragen.“
3. Dezember 1972
Die SPD gewinnt die Bundestagswahl. Ausschlaggebend sind laut Wahlanalysen die Stimmen der ‚fortschrittlichen Frauen’. Seit Mitte der 50er Jahre hatte der Unionsanteil der Frauen um rund zehn Prozent über dem der Männer gelegen. In der Aufbruchsstimmung, die vom Kampf gegen den § 218 und der Abkehr von der traditionellen Frauenrolle geprägt ist, wechseln die Frauen nun die Seite: Ihr Stimmanteil bei Union und SPD gleicht sich fast vollständig an.
13. Dezember 1972
Mit Annemarie Renger (SPD) wird zum ersten Mal eine Frau zur Bundestagspräsidentin gewählt. Sie wird sich in den darauf folgenden Jahren wiederholt von der Frauenbewegung distanzieren.
1972
In den USA erscheint erstmals Ms. Das erste feministische Publikums-Magazin (Chefredakteurin: Gloria Steinem) hat auf Anhieb großen Erfolg. Schon die feministischen Pionierinnen hatten 1849 eine überregionale Zeitschrift veröffentlicht. Sie hieß The Lily und wurde herausgegeben von Amelia Bloomer, der Erfinderin der gleichnamigen Hosen.