Gegen den Strich leben

Die Frauen der Lesbenbewegungen waren Studentinnen, Akademikerinnen, Erzieherinnen, Psychologinnen, Krankenschwestern, Schriftstellerinnen, Angestellte, Arbeiterinnen, Lehrerinnen, Journalistinnen, Sängerinnen, Musikerinnen, Schauspielerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen, waren vorwiegend zwischen 20 und 70 Jahre alt, christlich, jüdisch, schwarz, weiß, hatten einen Migrationshintergrund, waren Frauen mit Behinderungen, blond, brünett, rothaarig, hatten weiße oder graue Haare, waren groß, klein, dick oder dünn und hatten sexuell unterschiedliche Vorlieben. Kurz: Die Frauen der Lesbenbewegung entsprachen keinem Stereotyp.

„Lesbian Nation“, FMT, VAR.01.057

Biografien von Akteurinnen der Lesbenbewegung zu greifen, ist nicht leicht. Die meisten Frauen verstecken in Dokumentationen ihrer Tätigkeiten ihre Identität und nutzen Vornamen oder Pseudonyme, vor allem zu Beginn in den 1970er Jahren. Die Angst vor Diskriminierung und Ablehnung im privaten aber auch dem beruflichen Umfeld ist groß, viele Frauen berichten von Kündigungen nach ihrem Outing. Ab Mitte der 1970er Jahre trauen sich immer mehr Frauen mit ihrem echten Namen an die Öffentlichkeit. Wir stellen drei Pionierinnen der Lesbenbewegung vor:

Lesbenrundbrief Nr.1, 1975

Anne Henscheid (1945 – 2009)
Anne Henscheid wird 1945 in einem Dorf in Westfalen geboren und zieht mit 20 Jahren nach Münster. Sie lebt offen lesbisch, was zu dieser Zeit viel Mut erfordert. Sie selbst berichtet: „1970 ist mir mal zufällig eine Homosexuellenzeitschrift in die Hände geraten. Da habe ich zum erstenmal erfahren, daß es Gruppen und Organisationen gibt. Erst da ist mir so richtig klar geworden, wie unterdrückt ich lebte.“[1] Und so beginnt sie zu handeln: Als erste Frau engagiert sie sich ab 1971 in der studentischen Aktionsgruppe Homosexualität Münster (HSM) und unterzeichnet als einzige Lesbe die Satzung der Gruppe. Als Mitglied des Vorstandes versucht sie, weitere Frauen zur Mitarbeit zu bewegen, was vorerst kaum gelingt. An der ersten Demonstration Homosexueller in der Bundesrepublik am 26. April 1972, die von der HSM organisiert wird, ist sie beteiligt; aber schon im Sommer verlässt sie die Gruppe und vernetzt sich überregional mit anderen Lesben. Sie habe sich zu Beginn zunächst völlig mit den Problemen der Männer identifiziert, berichtet sie 1975.[2] Erst später habe sie gemerkt, dass das gar nicht dieselben waren, wie die der homosexuellen Frauen. Deshalb gründet sie 1973 mit fünf weiteren Frauen die Homosexuelle Frauengruppe Münster (HFM). Fortan spielt die Initiative eine wichtige Rolle bei der Vernetzung der wachsenden Zahl von Lesbengruppen. So gibt sie ab 1975 den Rundbrief für Lesben heraus, der über Veranstaltungen und Entwicklungen in der Lesbenszene informieren soll. Die Gruppe orientiert sich von nun eher an der Frauen- als an der Schwulenbewegung. Schließlich, so begründet es Henscheid, hätten Lesben ja abgesehen von der persönlichen Beziehung die gleichen Probleme, wie andere Frauen: Unterbezahlung im Beruf, Rollenerwartungen, Sexismus.[3]

Als vermutlich erste Frau der Bundesrepublik outet sich Henscheid mit Bild und vollem Namen in den Medien: 1975 lässt sie sich von der Journalistin Alice Schwarzer interviewen; der Text erscheint in der Brigitte, einer der auflagenstärksten Frauenzeitschriften der Republik.[4]  Zum Zeitpunkt des Interviews hat Henscheid ihr privates Outing längst hinter sich. Dabei habe ihr vor allem die HSM geholfen. Nach den vielen Diskussionen in der Gruppe über die Unterdrückung homosexueller Menschen habe sie sich nicht länger verstecken wollen, im Gegenteil: richtig aufsässig sei sie geworden. „Am liebsten,“ berichtet sie, „wäre ich damals mit einem Schild durch die Stadt gelaufen: Ich bin lesbisch!“[5] Anne Henscheid starb 2009. In Münster ist heute eine Straße nach ihr benannt.

Käthe Kuse
Eine weitere Akteurin der Lesbenbewegung ist Käthe Kuse, genannt Kitty. Sie wird 1904 in Berlin geboren, im Arbeitermilieu. Nach Volks- und Handelsschule nutzt sie Anfang der 1920er Jahre die Volkshochschule, um sich fortzubilden. Danach arbeitet sie als kaufmännische Angestellte. Während des Nationalsozialismus verbirgt sie ihre Homosexualität und unterstützt jüdische Lesben wie die Künstlerin Gertrude Sandmann.

Nach dem Krieg holt sie ihr Abitur in Ostberlin nach und studiert anschließend Wirtschaftswissenschaften. Vor dem Mauerbau zieht sie mit ihrer Lebensgefährtin in den Westen. In den 1970er Jahren, mit Anfang 70, kommt sie das erste Mal in Kontakt mit der lesbischen Szene. In der Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), später Lesbisches Autonomes Zentrum (LAZ), trifft sie auf Gleichgesinnte und kann sich über ihre Homosexualität austauschen sowie für die Anerkennung ihrer Sexualität kämpfen. Da in der HAW hauptsächlich jüngere Frauen organisiert sind, gründet sie mit älteren Lesben wie Gertrude Sandmann und Hilde Radusch die Gruppe „L74“. Die Gruppe gibt Anfang 1975 die erste lesbische Zeitschrift der Frauenbewegung Unsere Kleine Zeitung heraus, deren Herausgeberin Kitty Kuse ist.

Nachruf Käthe Kruse, EMMA, 3/1984

Sie engagiert sich in der Lesbenbewegung auch noch mit 80 Jahren. An den Vorbereitungen zur Ausstellung „Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur“ im Berlin Museum 1984 ist sie ebenfalls beteiligt.[6] Die Schriftstellerin Ilse Kokula hält rückblickend über Kuse fest, dass sie das Kunststück fertig gebracht habe, in ihrer Arbeit mit dem „Strom zu schwimmen und doch gegen den Strich zu leben.“[7]

Ilse Kokula
Ilse Kokula wird 1944 in Schlesien geboren und wächst in Bayern auf. 1967 schließt sie ihr Studium der Sozialarbeit in Bayern erfolgreich ab. Nach ein paar Jahren in ihrem Beruf beginnt sie Anfang der 1970er Jahre Pädagogik in Berlin zu studieren. Dort knüpft sie Kontakte zur Lesbenbewegung und wird in der HAW-Frauengruppe, später LAZ, selbst aktiv.

Ilse Kokula, ©Veidt, Edeltraud, FMT, FT.02.1073

Ihre Diplomarbeit „Der Kampf der Unterdrückung“ über das LAZ ist das Ergebnis ihrer langjährigen Arbeit in der Gruppe.[8] Es erscheint im Verlag Frauenoffensive unter ihrem Pseudonym Ina Kuckuc in mehreren Auflagen und ist das „erste deutsche Buch über weibliche Homosexualität, deren Autorin sich als Teil der Bewegung sah.”[9]

Ilse Kokula schreibt, forscht und publiziert zur Geschichte von lesbischen Frauen und bringt Geschichtsbewusstsein in die Bewegung. Ihre Artikel erscheinen in Zeitschriften und sie hält Vorträge auf Treffen der Lesbenbewegung. Sie setzt sich zudem aktiv für die Erinnerung an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus ein. An der Ausstellung: „Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur“ ist sie, wie Kitty Kuse, 1984 maßgeblich beteiligt.[10] Inzwischen promoviert, wird sie 1985 für eine Gastprofessur an die Universität Utrecht für Homostudies berufen. Zu dieser Zeit gilt Homosexualität in Deutschland noch als Krankheit, weibliche Homosexualität als irrelevant.[11] Von 1989 bis 1996 arbeitet sie als Gleichstellungsbeauftragte im Berliner Senat im Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen.[12] 2007 wird ihr vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.[13]

 

Chronik der Lesbenbewegung

 

[1] Schwarzer, Alice: „Die Heimlichtuerei macht einen kaputt“, in: Brigitte 7/1975, S. 96 – 102, hier: S. 101.

[2] Schwarzer, Alice: „Die Heimlichtuerei macht einen kaputt“, in: Brigitte 7/1975, S. 96 – 102, hier: S. 101.

[3] Schwarzer, Alice: „Die Heimlichtuerei macht einen kaputt“, in: Brigitte 7/1975, S. 96 – 102, hier: S. 102.

[4] Eine erweiterte Fassung des Interviews erscheint später in Schwarzer, Alice: Der „kleine Unterschied“ und seine großen Folgen, Frankfurt a. M. 1975, S. 62 – 72.

[5] Schwarzer, Alice: „Die Heimlichtuerei macht einen kaputt“, in: Brigitte 7/1975, S. 96 – 102, hier: S. 102.

[6] Tonbandprotokolle: Nicht Achtung kannst du dem, der dich nicht achtet, schenken, oder du mußt sogleich von dir geringer denken, in: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, Ausstellungskatalog, Berlin 1984, S.210-215.

[7] https://stadtteilzeitung.nbhs.de/aktuelles/news-detail/artikel/kitty-kuse-mit-dem-strom-und-doch-gegen-den-strich/

[8] Kuckuc, Ina: Der Kampf gegen Unterdrückung: Materialien aus der deutschen Lesbierinnenbewegung, München 1975.

[9] Dennert, Gabriele/ Leidinger, Christiane/ Rauchhut, Franziska: Die 70er Jahre – Politischer Aufbruch in der BRD, in: Dies.: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, S.31-61, hier S.50. [LE.11.342].

[10] Dennert, Gabriele/ Leidinger, Christiane/ Rauchhut, Franziska: Die 80er Jahre in der BRD – (gegen) Herrschaftsverhältnisse, in: Dies.: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, S.126-160, hier S.146. [LE.11.342].

[11] Prof.lesb., in Emma 2/87, S.24.

[12] Dennert, Gabriele/ Leidinger, Christiane/ Rauchhut, Franziska: Die 80er Jahre in der BRD – (gegen) Herrschaftsverhältnisse, in: Dies.: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, S.126-160, hier S.142. [LE.11.342].

[13] https://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Women%20+%20Work.php?id=10698

 

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