Ab Mitte der Siebziger Jahre macht die Frauenbewegung das dramatische Ausmaß der Gewalt von Männern an ihren eigenen Frauen und Kindern öffentlich und initiiert nach ausländischem Vorbild die ersten Frauenhäuser.
Im November 1976 eröffnet in Berlin das erste autonome Frauenhaus in Deutschland, bald folgen weitere. Gegen die Propaganda von der Familie als ’sicherem Ort‘ und obwohl Männergewalt in Ehen und Beziehungen trotz der überfüllten Frauenhäuser weiter geleugnet wird, gelingt es der Frauenbewegung, zunehmend ein öffentliches Bewusstsein für diese alltägliche Gewalt zu schaffen, der viele Frauen und Kinder ausgesetzt sind. Bald professionalisieren sich die Frauenhäuser und es entsteht ein flächendeckendes Netz aus Frauenhäusern und weiteren Hilfsangeboten. Heute gibt es in Deutschland rund 350 Frauenhäuser. Ihre Finanzierung ist allerdings nach wie vor nicht staatliche Pflicht. Tausende schutzsuchender Frauen und Kinder müssen jedes Jahr abgewiesen werden.
1971
Das weltweit erste Frauenhaus wird von der Sozialarbeiterin Erin Pizzey in London gegründet. Pizzey, die zunächst in einer kommunalen Beratungsstelle gearbeitet hatte, war dort immer öfter auf geschlagene Ehefrauen getroffen, die in Ermangelung einer anderen Unterkunft trotz jahrelanger Misshandlungen gezwungen waren, bei dem Schläger zu bleiben. Sie eröffnet zunächst ein inoffizielles Schutzhaus im Stadtteil Chiswick und später eine größere Unterkunft: das Women’s Aid Centre. Da Pizzey keine Frauen abweist, ist das Frauenhaus stets mit bis zu 150 Frauen und ihren Kindern überfüllt. Andere Frauengruppen nehmen sich ein Beispiel an Pizzeys Initiative. 1976 wird es in England schon 90 Frauenhäuser geben.
1974
In Deutschland erscheint Erin Pizzeys Buch Schrei leise1 (Original: Scream Quietly or the Neighbours Will Hear, 1971) über ihre Erfahrungen mit dem Frauenhaus.2 Die Aktivistin wird mit dem Buch, das schon drei Jahre zuvor in England herausgekommen war, international zu Lesungen eingeladen und trägt so zur Gründung von Frauenhäusern auch in anderen Ländern bei. Weltweit eröffnen nun weitere Frauenschutzhäuser, beispielsweise in Schottland, den Niederlanden, den USA und Australien.3
27. Februar 1976
Unter dem Titel Die Frauen als Opfer der Männer berichtet die Zeit über das Thema Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe. Sie referiert dabei auf das Buch Against Our Will der amerikanischen Feministin Susan Brownmiller, das kurz zuvor in den USA erschienen war. (Deutsch: Gegen unseren Willen, 1977). Das Thema (Sexual)Gewalt gegen Frauen, das von der Frauenbewegung nun immer stärker in die Öffentlichkeit gebracht wird, stößt auf eine so breite Resonanz, dass es nun auch immer öfter von den Medien aufgegriffen wird.
4. – 8. März 1976
In Brüssel kommen 1.500 Teilnehmerinnen aus 33 Ländern zum Internationalen Tribunal Gewalt gegen Frauen zusammen. Die ‚Anklagen‘ der Frauen umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche: Von Gewalt in der Ehe über diskriminierende Gesetze bis Pornografie. Das Tribunal liefert der bundesdeutschen Frauenhausinitiative, die mittlerweile entstanden ist, wichtige Impulse. Simone de Beauvoir schreibt in einem Grußwort: „Ich halte dieses Treffen für ein großes historisches Ereignis.“4
14. April 1976
Der Stern veröffentlicht die Ergebnisse einer von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage. Titel: Mein Mann hat mich vergewaltigt. Ergebnis: „In jeder fünften Ehe wird die Frau zum Sex gezwungen.“ Das entspricht rund 2,5 Millionen Frauen in der BRD. Ebenfalls jede fünfte Frau ist der Ansicht, eine Ehefrau müsse „ihrem Mann sexuell zur Verfügung stehen, wann immer er es will“.5
26. April 1976
Die ARD zeigt die Dokumentation Schreien nützt nichts – Brutalität in der Ehe von Sarah Haffner. Auf rund 400 Fälle ‚Häuslicher Gewalt‘ war die Autorin bei ihren Recherchen gestoßen. „Wir hörten Geschichten, die an Grausamkeit alles übertrafen, was wir uns haben vorstellen können, ohne dass grundsätzlich Abhilfe geleistet wird“, berichtet Haffner, die ihre Recherchen auch in einem Buch verarbeiten wird: Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun: Frauenhäuser.6 Sarah Haffner wird bald darauf eine der Gründerinnen des Berliner Frauenhauses werden.
01. November 1976
In Berlin eröffnet das erste Haus für geschlagene Frauen. Initiiert wurde das Frauenhaus vom Verein zur Förderung des Schutzes misshandelter Frauen e.V. Seit 1974 hatte sich der feministische Verein aus Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Ärztinnen und Anwältin um eine Finanzierung für das Projekt bemüht. Sie wenden sich an Ämter und Ministerien.
Eine Anfrage an Bundesfamilienministerin Katharina Focke (SPD) bleibt zunächst unbeantwortet. Erst als die Medien auf das geplante Projekt aufmerksam werden und der Wahlkampf für die Bundestagswahl am 03.10.1976 beginnt, bewilligt die Ministerin die Förderung des ersten deutschen Frauenhauses für drei Jahre als Modellprojekt. Der Berliner Senat steuert 20 Prozent der Kosten (489.500 DM)7 bei – auch dies erst nach öffentlichem Druck und einer Umfrage bei den Berliner Eheberatungsstellen: Jede achte Ehefrau wendet sich wegen Misshandlungen durch ihren Ehemann an die Beratung. Als das Haus für geschlagene Frauen schließlich eröffnet, sind die 80 Plätze für Frauen und Kinder innerhalb weniger Tage belegt. Allein in den ersten drei Monaten suchen 193 Frauen mit 300 Kindern im Frauenhaus Zuflucht.8
01. Dezember 1976
In Köln eröffnet der Verein Frauen helfen Frauen das zweite deutsche Frauenhaus. Der Verein war aus einem Seminar der Fachhochschule zur Geschichte der Frauenbewegung entstanden. Eine 15-köpfige Studentinnengruppe, die sich auch praktisch engagieren wollte, hatte sich zwecks Gründung eines Frauenhauses an den Kölner Sozialdezernenten gewandt. Der bestritt den Bedarf. Die Studentinnen mobilisierten die Medien mit Aktionen in der Fußgängerzone und sammelten 2.000 Unterschriften. Nachdem der Kölner Stadtanzeiger die Telefonnummer einer Wohngemeinschaft veröffentlicht hatte, unter der sich schutzsuchende Frauen melden konnten, riefen dort permanent Frauen an, die die Initiatorinnen zunächst privat unterbrachten. Die Stadtverwaltung, die immer mehr unter Druck geriet, erfragte nun bei ihren Einrichtungen, wie viele Frauen dort Zuflucht vor ihren gewalttätigen Ehemännern suchten. Resultat: „Sie musste feststellen, dass durchschnittlich 100 Frauen monatlich bei der Polizei und den sozialen Einrichtungen auftauchten, die Schutz vor Männergewalt suchten, dass diese Klagen aber nicht behandelt werden konnten, weil Gewalt in der Familie als Privatangelegenheit galt.“9
Da die Stadt jedoch weiterhin untätig bleibt, mietet der inzwischen gegründete Verein Frauen helfen Frauen selbst ein Haus und richtet einen ehrenamtlichen Rund-um-die-Uhr-Dienst ein. Auch dieses Frauenhaus ist von Anfang an überfüllt. Schließlich bewilligt die Stadt eine Stelle für eine Sozialpädagogin sowie die Finanzierung der Bewohnerinnen per Sozialhilfe. Der Fall erregt öffentliche Aufmerksamkeit, in weiteren Städten gründen sich Vereine Frauen helfen Frauen.
Januar 1977
Das Frauenhaus Bielefeld eröffnet als drittes Frauenhaus in Deutschland. Weitere Frauenhäuser folgen. Zum 30. Jubiläum der Gründung der ersten deutschen Frauenhäuser wird die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) die Ausgangssituation im Jahr 1977 rückblickend so beschreiben: „Vor 30 Jahren wurde die alltägliche Gewalt gegen Frauen von allen Seiten beschwiegen, verleugnet oder bagatellisiert und zum Einzelfall erklärt, wobei den Opfern immer auch ein Selbstverschulden unterstellt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Ort, wo von Gewalt betroffene Frauen und Kinder Unterstützung finden konnten. In der Familie konnte Männergewalt gegen Frauen ungestraft ausgeübt werden.“10
März 1977
Im März erscheint in EMMA die Reportage Ein Tag im Haus für geschlagene Frauen von Alice Schwarzer. Sie schreibt: „Schätzungen über die Zahl der sogenannten ‚geschlagenen Frauen‘ schwanken in der Bundesrepublik zwischen 100 000 und vier Millionen. Untersuchungen und Statistiken existieren nicht. Was kein Zufall ist, sondern die totale Ignoranz dieses Problems ausdrückt.“11
06.-08. Mai 1977
In Köln findet das erste Nationale Frauenhaustreffen statt. Es nehmen rund 100 Frauen von 22 Initiativgruppen teil. Die Initiatorinnen der vier schon gegründeten Frauenhäuser in Berlin, Köln, Bielefeld und Bremen berichten von ihren Erfahrungen, ebenso die Gruppen in Dortmund, Bonn und Rendsburg, die Wohnungen für schutzsuchende Frauen angemietet haben.12
Januar 1978
Die Frauenhaus-Initiativen kämpfen um eine stabile Finanzierung der Frauenhäuser, die gleichzeitig die Bewohnerinnen nicht entmündigt oder stigmatisiert. Den Plan der zuständigen Behörden, den Aufenthalt der schutzsuchenden Frauen in Zukunft nach § 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHA) zu regeln, stößt bei den Frauen auf große Skepsis. Denn der Paragraf gilt für Personen, bei denen „besondere soziale Schwierigkeiten der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen“.13 Voraussetzung für die Unterstützung ist, dass „dass das Unvermögen des Gefährdeten ursächlich auf einem Mangel an innerer Festigkeit beruht“.14 Diese Klassifizierung der vor ihren Misshandlern geflüchteten Frauen ist auch deshalb ein Problem, weil ihr angeblicher ‚Mangel an innerer Festigkeit‘ sich negativ in Sorgerechtsprozessen auswirken kann. Hinzu kommt: Das Anlegen einer Akte über jede Frau mit Angaben über ihren Zustand stünde im Widerspruch zur Anonymität, die die Frauenhaus-Initiativen ihren Bewohnerinnen garantieren wollen.15 Bei Migrantinnen kann die Meldung bei den Behörden sogar zu ihrer Abschiebung führen, weil ich Aufenthaltsstatus an den Fortbestand der Ehe geknüpft ist.
20. Februar 1978
Auf das Berliner Frauenhaus wird ein Brandanschlag verübt. Ein Jahr später, im Januar 1979, folgt der zweite. Auch die anderen Frauenhäuser sind regelmäßig Ziel von Anschlägen.
28.- 30. April 1978
Auf Initiative des Kölner Frauenzentrums veranstalten Delegierte aus den Frauenzentren ein nationales Tribunal Gewalt gegen Frauen. Der ‚Gewaltkatalog‘, den die Initiatorinnen aufgestellt haben reicht von ‚Gewalt in der Ehe‘ über den ‚Mode- und Schönheitsterror‘ bis zur ‚Männerorientierten Sprachentwicklung‘.
20. September 1978
Vor dem Münchner Frauenhaus erschießt ein Mann seine 23-jährige Ehefrau und danach sich selbst. Sie war vor ihm mit den Kindern in das Frauenhaus geflohen. Die Presse berichtet. Reporter halten sich tagelang vor dem Frauenhaus auf.16 Immer wieder werden misshandelte Frauen, die in Frauenhäusern Zuflucht gesucht haben, von ihren Ehemännern ermordet.
07. und 30. November 1978
Zwei Fernsehfilme im ZDF thematisieren das Thema Gewalt in der Ehe und die Flucht der Frauen in ein Frauenhaus: Ehen vor Gericht (von Sina Walden) und Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (von Cristina Perincioli). Die Sendungen bekommen große mediale Aufmerksamkeit und die Sender zahlreiche – teils heftige – Reaktionen von ZuschauerInnen.17
27.-28. Oktober 1979
In Bochum findet das 5. Nationale Frauenhaustreffen statt. Zentrales Thema ist weiterhin die Finanzierungsfrage. Die Frauenhäuser verlangen statt einer Finanzierung über das Bundessozialhilfegesetz pauschale Tagessätze.
19. Dezember 1979
Abordnungen von zehn nordrhein-westfälischen Frauenhäusern demonstrieren im Düsseldorfer Landtag. Sie fordern Gesundheits- und Sozialminister Friedhelm Farthmann (SPD) zur finanziellen Sicherung der Frauenhäuser auf.18
Januar 1980
Nachdem die Finanzierung des Berliner Frauenhauses als Modellprojekt ausgelaufen ist, übernimmt nun das Land Berlin die Kosten, ebenso für das zweite Berliner Frauenhaus, das im September 1979 eröffnet hat. Die Finanzierung umfasst u.a. die Sanierung und Erstausstattung des zweiten Frauenhauses sowie Personalkosten für sechs Mitarbeiterinnen pro Frauenhaus und 90.000 Mark für psychologische, juristische, medizinische und therapeutische Fachkräfte. Die Finanzierung läuft über Pauschalen und nicht über das Bundesozialhilfegesetz.19
Auf dem 8. Nationalen Frauenhaustreffen in Braunschweig wird die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) als Vernetzungs-, Informations- und Koordinationsstelle gegründet. Inzwischen gibt es in Deutschland 30 autonome Frauenhäuser.20
Januar 1981
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entscheidet: Flüchtet eine misshandelte Frau ins Frauenhaus, um „eine akute Bedrohung des körperlichen oder seelischen Wohls des Ehepartners und/oder der Kinder abzuwenden“, kann der Mann vom Sozialamt zur Übernahme der entstandenen Kosten herangezogen werden.
Es ist das erste Mal, dass sich ein deutsches Gericht mit dieser Frage beschäftigt. Das Urteil wird von den Frauenhaus-Initiativen als „wegweisende Entscheidung“ begrüßt.21
17. April 1981
In Gießen demonstrieren 1.500 Frauen gegen Männergewalt. Der Kurde Mehmed Urak hatte seine Frau Gülüzar im Gießener Frauenhaus mit 30 Messerstichen ermordet.22
23. März 1982
Bundesfamilienministerin Antje Huber trägt den Abschlussbericht des Modellprojekts Frauenhaus Berlin vor, das drei Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurde. Resultat: Zwischen 1976 und 1979 haben über 2.500 Frauen und etwa ebenso viele Kinder Zuflucht im Frauenhaus gesucht. Der vor der Eröffnung des ersten Frauenhauses so vehement bestrittene Bedarf steht also jetzt auch offiziell außer Frage: „Die Misshandlung von Frauen und Gewalt in der Familie, auch gegen Kinder, ist lange Zeit tabuisiert worden. Die Errichtung von Frauenhäusern hat dazu beigetragen, das Problem der Gewalt gegen Frauen öffentlich zu machen und einen Bewusstseinswandel einzuleiten.“23
1983
Die Bundesregierung legt den Ersten Frauenhausbericht vor. Er stellt fest: „In der Bundesrepublik gibt es inzwischen weit über 100 Frauenhäuser, zumeist in großen und mittleren Städten, noch sehr selten in ländlichen Gebieten. Träger sind vielfach Initiativgruppen der autonomen Frauenbewegung, daneben auch Verbände der freien Wohlfahrtspflege und vergleichbare Verbände. In der Praxis wird deshalb auch zwischen autonomen und nichtautonomen Frauenhäusern unterschieden.“
Zur Bedeutung der Frauenhäuser heißt es: „Frauenhäuser haben mit ihren Aktivitäten wesentlich dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit auf das bis dahin weitgehend tabuisierte Thema der Gewalttätigkeit gegenüber Frauen in Ehe und Partnerschaft aufmerksam geworden ist und die Forderung nach ausreichenden Hilfen unterstützt. Frauenhäuser sind als Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen und ihre Kinder notwendig. Sie leisten beispielhafte Arbeit vor allem durch Selbsthilfe und ehrenamtliches Engagement. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten sollte deshalb bewährte Frauenhausarbeit gefördert werden.“24
Zentrales Thema des Berichtes ist die Frage der Finanzierung der Frauenhäuser. Denn: „Die Träger von Frauenhäusern (…) sehen ohne neue gesetzliche Absicherung die Existenz der Frauenhäuser gefährdet.“ Die Finanzierung der Frauenhäuser ist in das Ermessen des jeweiligen Bundeslandes bzw. der Kommune gestellt, weshalb die Frauenhäuser eine Finanzierung per Pauschale fordern, die sich an der durchschnittlichen Belegung orientiert. Diese soll bundesweit einheitlich per Gesetz geregelt sein. Die Bundesregierung aber erklärt: „Für die Schaffung neuer bundesgesetzlicher Grundlagen zur Sicherung der Finanzierung von Frauenhäusern fehlen nach Auffassung der Bundesregierung die Grundlagen. Die geltenden Vorschriften werden für ausreichend gehalten.“
12.-13. Januar 1984
Das Familienministerium richtet in Bonn eine Fachtagung Gewalt gegen Frauen aus. SozialarbeiterInnen, JuristInnen, Ärztinnen, PolizistInnen, Journalistinnen, Frauen aus (autonomen) Frauenhäusern und Vertreterinnen der Notrufe für vergewaltigte Frauen diskutieren über Erscheinungsformen und Ursachen der Gewalt gegen Frauen sowie Hilfsmöglichkeiten.
September 1988
Die Bundesregierung legt den Zweiten Bericht über die Lage der Frauenhäuser vor. Zum ersten Mal liegen offizielle Zahlen über die Nutzung der Frauenhäuser vor: In den rund 180 Frauenhäusern, davon etwa 100 autonome, suchen jährlich geschätzt 25.000 misshandelte Frauen und etwa die gleiche Anzahl an Kindern Zuflucht. 10 bis 30 Prozent von ihnen sind Migrantinnen.
Wie geht es weiter?
Nach der Wiedervereinigung entstehen auch in Ostdeutschland die ersten Frauenhäuser. In der DDR existierten keine Frauenhäuser, da Männergewalt in Ehe und Familie nach offizieller Lesart nicht existierte. Anders als im Westen, gab es hier aber keine starke Frauenbewegung, die die sogenannte Häusliche Gewalt ans Licht bringen und Frauenhäuser und -beratungsstellen gründen konnte. Dabei berichten Mitarbeiterinnen in ostdeutschen Frauenhäusern von vergleichbarer Gewalt von Männern gegen Frauen zu DDR-Zeiten.25
2001 wird unter der rot-grünen Regierung vom Parlament das Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz von Gewalttaten und Nachstellung sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung vom Parlament verabschiedet. Dieses ‚Gewaltschutzgesetz‘ oder auch ‚Wegweisungsgesetz‘ ist ein Meilenstein: Misshandelte Frauen können nun in der gemeinsamen Wohnung bleiben, der Misshandler muss gehen. Es gilt das Prinzip „Wer schlägt, der geht!“. Wenn der Mann die Wohnung allein gemietet hat oder sie ihm gehört, wird der Frau die Wohnung für ein halbes Jahr zugesprochen.
Ein weiterer Paradigmenwechsel: Die Polizei ist gehalten, die Wegweisung des Schlägers sowie eine Strafanzeige auch ohne den Wunsch des Opfers vorzunehmen. Die PolizistInnen wurden inzwischen – auch von Frauenhaus-Mitarbeiterinnen – über die Mechanismen von Beziehungsgewalt geschult und wissen um die (finanzielle wie psychische Abhängigkeit) des Opfers vom Misshandler. Das Gewaltschutzgesetz, dem Österreichs „Gesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie“ als Vorbild diente, wurde von Frauenministerin Christine Bergmann und Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin vorangetrieben (SPD).
Im Dezember 2004 veröffentlicht das Bundesfrauenministerium die Studie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Es ist mit 10.000 Befragten die größte Studie, die in Deutschland jemals zum Thema Gewalt gegen Frauen gemacht wurde. Ein Ergebnis: „Rund 25 Prozent der Frauen im Altern von 16 bis 85 Jahren haben mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartnerinnen oder Beziehungspartner erlebt.“ Und weiter: „Zwei Drittel der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen haben schwere oder sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten. Frauen sind demnach von häuslicher Gewalt mehr bedroht als durch andere Gewaltdelikte wie Körperverletzung mit Waffen, Wohnungseinbruch oder Raub. Zu den Risikofaktoren gehören neben Trennung oder Trennungsabsicht auch Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend. Frauen werden keineswegs nur in sozialen Brennpunkten von ihrem männlichen Partner geschlagen, vergewaltigt, beschimpft oder gedemütigt.“ Auch Frauen „in mittleren und hohen Bildungs- und Sozialschichten“ würden „in einem viel höheren Maß Opfer von Gewalt werden, als dies bislang bekannt war“. Von Beziehungsgewalt überdurchschnittlich betroffen sind laut Studie Migrantinnen. Rund jede zweite Frauenhaus-Bewohnerin hat einen Migrationshintergrund.
Erst ab 2011 weist die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes die ‚Beziehungsgewalt‘ aus und erfüllt damit eine jahrzehntealte Forderung der Frauenbewegung. Das im März 2013 beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) eingerichtete Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen registriert im ersten Jahr 47.504 Anrufe.26 Im Jahr 2014 erstatteten 73.830 Frauen Anzeige wegen Körperverletzung durch (Ex)Ehemann oder (Ex)Lebensgefährten. 241 Frauen wurden von ihren (Ex)Männern getötet.
Aktuell gibt es in Deutschland rund 350 Frauenhäuser, davon rund 130 autonome Häuser. Seit der Jahrtausendwende mussten etwa 80 Frauenhäuser aus Geldmangel schließen, nachdem Länder und Kommunen Mittel gestrichen hatten. Mit Ausnahme von Schleswig-Holstein ist die Finanzierung von Frauenhäusern immer noch keine Pflichtaufgabe der Bundesländer oder Kommunen, ein Bundesgesetz zur Finanzierung von Frauenhäusern gibt es nach wie vor nicht. Deutschland erfüllt die vom Europarat empfohlene Quote von einem Frauenhausplatz auf 7.500 EinwohnerInnen nicht. Die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) konstatiert: „Als Folge davon übersteigt in Deutschland die Zahl der Frauen, die wegen Überfüllung abgewiesen bzw. weiterverwiesen werden müssen, die Zahl der in den Frauenhäusern aufgenommenen Frauen bei weitem.“27
Quellen
1Pizzey, Erin (1984): Schrei leise : Mißhandlungen in der Familie. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl. (FMT-Signatur SE.07.008). Original von 1971, dt. Erstausgabe 1974.
2Siehe Falsche Scham (1976). - In: Der Spiegel, 08.11.1976, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser A-H (FMT-Signatur: PD-FE.07.04, Kapitel 4).
3Glahn, Lisa (1998): Frauen im Aufbruch : 20 Jahre Geschichte und Gegenwart Autonomer Frauenhäuser. München : Unrast-Verl., S. 22 f.
4Simone de Beauvoir schickte dem Tribunal folgende Grußbotschaft (1976). - In: AUF, Nr. 7, Rückseite des Covers. Siehe Grußwort als französischsprachiges Originaldokument von Simone de Beauvoir in der Chronik der Neuen Frauenbewegung 1976 (FMT-Signatur PD-FE.03.01).
5Schippke, Ulrich (1976): Mein Mann hat mich vergewaltigt. - In: Der Spiegel, Nr. 17, S. 68-74, siehe Pressedokumentation: Gewalt in der Ehe II 1976-1992 (FMT-Signatur PD-SE.03.09).
6Sarah Haffner (1976): Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun : Frauenhäuser. - Berlin : Wagenbach (FMT-Signatur SE.07.09).
7Informationen des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit (1976): Modellversuch „Hilfen für misshandelte Frauen“ wird vom Bundesminsterium für Jugend, Familie und Gesundheit gefördert, 30.09.1976, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser A-H (FMT-Signatur PD-SE.07.04, Kapitel 4).
8Verein zur Förderung des Schutzes mißhandelter Frauen (1976): [Brief an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie], 09.12.1976, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser A-H (FMT-Signatur PD-SE.07.04, Kapitel 4).
9Maria Mies: Der Kampf um das Frauenhaus Köln. - Verfügbar unter: Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser ZIF:https://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/sites/default/files/page_attachment/Maria%20Mies-Was%20haben%20wir%20gewollt-was%20ist%20daraus%20geworde.pdf [PDF-Dokument].
10Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser ZIF (2006): Pressemitteilung 30 Jahre Frauenhäuser 1976-2006, 15.11.2006. - Verfügbar unter: Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser ZIF: www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/sites/default/files/page_attachment/pressemitteilung_30_jahre_1.pdf [PDF-Dokument].
11Schwarzer, Alice (1977): Ein Tag im Haus für geschlagene Frauen. - In: EMMA, Nr. 2, S. 6-12.
12Frauen helfen Frauen e.V. (1977): Nationales Frauenhaustreffen in Köln : Protokolle 15/1977, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 6).
13Neuer Angriff auf selbstverwaltete Frauenhäuser. (1979) - In: Arbeiterkampf, 08.01.1979, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser I (FMT-Signatur PD-SE.07.02).
14Roggenkamp, Viola (1980): Als haltlos abgestempelt : Mit Hilfe eines fragwürdigen Paragraphen werden Frauenhäuser kaputtgemacht. - In: Die Zeit, 07.04.1980, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 9).
15Gefahr für Frauenhäuser? : Paragraph 72 des Sozialhilfegesetzes stößt auf Ablehnung (1978). - In: Frankfurter Rundschau, 07.11.1978, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.039).
16Mord im Frauenhaus? (1978) - In: EMMA, Nr. 11., S. 43.
17Siehe Flut unflätiger Anrufe bei Frauenhäusern nach TV-Film (1978). - In: Frankfurter Rundschau, 09.11.1978 / Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (1978). - In: die tageszeitung, 02.12.1978 / Koch, Getrud (1979): Die tägliche Gewalt : C. Perinciolis Spielfilm über Gewalt gegen Frauen - In: Frankfurter Rundschau, 08.05.1979. Alle drei Artikel (und weitere) siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser I (FMT-Signatur PD-SE.07.02).
18Frauen demonstrierten im Landtag (1979). - In: Frankfurter Rundschau, 20.12.1979, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser K-W (FMT-Signatur PD-SE.07.05, Kapitel 23) / Mißhandelte Frauen auf der Suche nach dem Minister (1979). - In: Kölnische Rundschau, 20.12.1979, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 3).
19In drei Jahren fanden 2180 Frauen eine Zuflucht im Frauenhaus (1979). - In: Tagesspiegel 07.11.1979, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser A-H (FMT-Signatur PD-SE.07.04).
20Gewagtes Stück (1981). - In: Der Spiegel, 02.02.1981, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 8).
21Ebenda
22Gekränkte Ehre : Prozeß in Gießen (1982). - In: die tageszeitung, 22.04.1982 / Prozeß wegen Mordes im Frauenhaus : Große Öffentlichkeit in Gießen (1982). - In: die tageszeitung, 22.04.1982 / Frauendemo gegen Männergewalt [Flugblatt Aufruf zur Frauendemo am 17.04.1982]. Alle Quellen siehe Pressedokumentation: Frauenmord I: Mord an Ehefrauen und Lebensgefährtinnen (FMT-Signatur PD-SE.01.02).
23Problem der Gewalt in der Familie wird verharmlost (1982). - In: die tageszeitung, 24.03.1984, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 3).
24Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode (1983): Bericht der Bundesregierung zur Frage, ob bundesgesetzliche Grundlagen zur Finanzierung von Frauenhäusern geschaffen werden können, Drucksache 10/291 vom 08.08.1983, siehe Pressedokumentation: Frauenhäuser II (FMT-Signatur PD-SE.07.03, Kapitel 3).
25Louis, Chantal (2010): Ein Blick ins Frauenhaus. - In. EMMA, Nr. 1, S. 124-129.
26 EMMA News vom 1. 04.2014: 47.504 Anrufe beim Hilfetelefon www.emma.de/artikel/gewalt-47504-anrufe-beim-hilfetelefon-316729
27 Risse, Eva (2014): Stellungnahme zum nichtöffentlichen Fachgespräch zur Situation der Frauenhäuser am 10. November 2014, 31.10. - Verfügbar unter: Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser ZIF: www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/sites/default/files/report_attachment/zif-stellungnahme_zum_fachgespraech_zur_situation_der_frauenhaeuser_10.11.2014.pdf [PDF-Dokument].
Alle Internetlinks wurden zuletzt abgerufen am 5.09.2018.
Auswahlbibliografie
Online verfügbare Quellen
Leonhardt, Rudolf Walter (1976): Die Frauen als Opfer der Männer. - In: Die Zeit, 27.02.1976.
Schwarzer, Alice (1977): Ein Tag im Haus für geschlagene Frauen. - In: EMMA, Nr. 2, S. 6-12.
Empfehlungen
Frauen gegen Männergewalt : Berliner Frauenhaus für mißhandelte Frauen ; erster Erfahrungsbericht (1978). - Berliner Frauenhaus für Misshandelte Frauen [Hrsg.]. Berlin : FrauenSelbstverl. (FMT-Signatur SE.07.016).
Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun : Frauenhäuser. - Haffner, Sarah [Hrsg.]. Berlin : Wagenbach, 1976. (FMT-Signatur SE.07.009).
Hilfen für mißhandelte Frauen : Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts Frauenhaus Berlin (1981). - Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit [Hrsg.]. Stuttgart [u.a.] : Kohlhammer. (Schriftenreihe / Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, 124). (FMT-Signatur SE.07.007).
Pizzey, Erin (1984): Schrei leise : Mißhandlungen in der Familie. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl. (FMT-Signatur SE.07.008).
Pressedokumentation
Pressedokumentation zum Thema Frauenhäuser: PDF-Download
Die Pressedokumentation des FMT umfasst strukturierte, thematisch aufbereitete und inhaltlich erschlossene Beiträge der allgemeinen und feministischen Presse, meist angereichert mit weiteren Materialien wie z.B. Flugblättern und Protokollen.
Weitere Bestände im FMT (Auswahl)
FMT-Literaturauswahl Frauenhäuser: PDF-Download
EMMA-Artikel Frauenhäuser: PDF-Download