Bertha Pappenheim, 1901
Sie sprachen und sprechen von der «Immoralität der Galizianerinnen», als ob das eine ganz exceptionelle für sich bestehende Abnormität einer besonderen Menschenklasse wäre. Ja, wissen die Herren nicht oder wollen sie es nicht wissen, daß unter den deutschen, hier heimatberechtigten jüdischen Mädchen dasselbe Sinken des moralischen Niveaus zu bemerken ist – dasselbe Sinken wie unter allen Mädchen, die durch die bestehenden sozialen Verhältnisse moralisch haltloser und schwächer geworden sind? Einst war es ein unerhörtes Ereignis, wenn ein jüdisches Mädchen außerehelich ein Kind gebar, – ein Ereignis, das so wie die Abtrünnigkeit vom Glauben, die Taufe einen Romanen- oder Novellenstoff bildete. Heute sind das gar nicht seltene, sondern sehr oft wiederkehrende Fälle.
Die Sittlichkeit der jüdischen Frauen und Mädchen, dieser Pfeiler, auf dem die unauslöschliche Ausdauer und Regenerationskraft unseres Volkes beruht, sie ist tatsächlich bedroht – aber nicht von den Galizierinnen allein.
Die Herren sprachen auch in beiden Sitzungen von einer drohenden Gefahr, von Schutzmaßregeln, abwehrenden und vorbeugenden, den Galizierinnen gegenüber. Nach dem Grunde und der Ausdehnung des Übels fragte Niemand. Das ist aber kein guter Arzt, der die Symptome kurieren will und nicht nach Art und Sitz der Krankheit forscht.
Wenn man sich nun die Mühe gibt, so im allgemeinen nach der Ursache der zunehmenden Immoralität unter den Frauen und Mädchen zu forschen, dann lautet die Antwort der Geistlichen aller Konfessionen meist: es ist der Mangel an Frömmigkeit. Im ersten Augenblick erscheint der Grund auch stichhaltig. Bei näherem Zusehen aber kann man erkennen, daß es die reaktionäre Partei ist, die unter dem Ruf nach Sittlichkeit die persönliche und Glaubensfreiheit unterdrückt, um ihre Privat-, ihre politischen und Spezialinteressen dabei zu verfolgen. Sehr augenfällige Erscheinungen, die von den Bekennern strengster Observanz in allen Konfessionen nicht geleugnet werden können, sprechen dagegen, daß die abnehmende «Frömmigkeit» die zunehmende Immoralität bedingt. Und so sehen wir denn auch, daß Galizien, das Reservoir der jüdischen Orthodoxie, seit vielen Jahren an Ungarn, Rumänien, London und viele Städte Amerikas einen bedeutenden Teil ihres Bedarfs an Mädchen «liefert». Die Frömmigkeit, wie sie die orthodoxe Geistlichkeit verlangt, scheint nach dieser Richtung hin kraftlos zu sein und machtlos bleibt auch ihr Einfluß in den Asylen und Magdalenenhäusern, die mit ihren Besserungsversuchen recht klägliche Resultate aufweisen.
Ein einziges Haus in Chicago, das sich die Rettung gefallener jüdischer Mädchen ohne jeden religiösen Zwang zur Aufgabe macht, hat relativ den anderen confessionellen Einrichtungen gegenüber bessere Resultate. Als zweiten Grund nach der landläufigen Auffassung nennen die Herren – die Damen in ihrer behaglichen Indolenz befassen sich mit so schmutzigen Dingen nicht-also die Herren in ihrer patentierten Logik sagen: «Die Mädchen sind schlecht, weil sie schlecht sind.»
Nun, das ist einfach nicht wahr. Daß es viele zügellose, schlechte Elemente in der Gesellschaft gibt, und wenn nicht energisch dagegen gearbeitet wird, späterhin noch viel mehr geben wird, ist wahr. Aber die Mädchen, die heute schlecht sind, sind schlecht, weil die Gesellschaft sie schlecht werden ließ und ihnen, so lange sie schwankten, so lange sie auf der Scheide zwischen gut und schlecht standen, nicht half, gut zu werden.
Unter helfen verstehe ich natürlich keine Hilfe im Sinne von Wohltätigkeit, sondern ich verstehe darunter: Rat, Schutz, Förderung und das Zugeständnis aller rechtlichen und politischen Mittel, deren jeder Mensch, Mann und Frau, zur Aufrechterhaltung seiner physischen und sittlichen Existenz bedarf. Verfolgen Sie doch einmal den Lebenslauf eines solchen Geschöpfes, über das die satte ungeprüfte Wohltätigkeit den Stab bricht (Fälle, in denen übermäßige Wohltätigkeit ganze Familien üppig und träge macht, nehme ich natürlich aus). Ein Mädchen, gleichviel ob es in Whitechapel, in einem Hinterhaus in Berlin oder in einem galizischen Dorfe ist, kommt zur Welt. Erlassen Sie es mir, Ihnen das Milieu zu schildern. Körperlich ungepflegt nehmen die Sinne nur Wahrnehmungen auf, die der gesunden Entwicklung des Kindes nach jeder Richtung hinderlich sind. Die Schlafräume sind überfüllt, und das Ringen zur Existenz und um die Existenz spielt sich als einziger Lebensinhalt vor dem Kinde ab. Auch wie es um Unterricht und Ausbildung, um Erziehung und Beaufsichtigung bestellt ist, wissen Sie, – Alles ungenügend im Verhältnis zu den Anforderungen, die das Leben späterhin unweigerlich stellt.
Was der Staat in Deutschland bietet, ist der Schulzwang bis zum 14. Lebensjahre. Daß in diesem Alter ein Mädchen geistig reif zur Selbstbestimmung und erwerbsfähig sein kann, wird niemand ernstlich behaupten können, und doch ist mit dem zurückgelegten 14. Lebensjahre gesetzlich das Schutzalter für Mädchen überschritten und in vielen tausend Fällen tritt mit demselben Augenblick auch die Notwendigkeit des Broterwerbes an das Mädchen heran. Aber nehmen Sie auch die günstigeren Fälle an, in denen den Mädchen eine Lehrzeit zugestanden wird als Näherin, Schneiderin, Modistin, Ladnerin etc. etc., auf allen Erwerbsgebieten, von der Fabrikarbeiterin bis zur Lehrerin und Beamtin, ist die Arbeit der Frau bei gleicher Leistung noch schlechter bezahlt als die des Mannes. Es gibt Lohnsätze und Gehälter, die geradezu empörend sind. Wenn nun ein nach jeder Richtung schwaches, mangelhaft erzogenes, ungenügend vorgebildetes Mädchen bemerkt und erfährt, daß es einen Erwerb gibt, der ihr mühelos ein sorgloses, bequemes Dasein unter verlockenden Äußerlichkeiten bietet, da ist es nur zu begreiflich, ja entschuldbar, wenn sie das Martyrium der Anständigkeit nicht länger auf sich ladet.
Für die galizischen Mädchen liegen die Verhältnisse noch schlechter. In Galizien gibt es keinen Schulzwang. Die Mädchen, nicht nur sozial, sondern auch religiös minderwertiger als die Knaben, dürfen zwar in die Schule gehen, es geschieht aber nur sehr unregelmäßig, und soweit überhaupt von Unterricht die Rede sein kann, ist er ganz planlos. Dazu kommt noch, daß die Mädchen im Kindesalter schon verlobt werden. Empfinden sie dann heranwachsend einen Widerwillen gegen den ihnen bestimmten Mann, dann nehmen sie entweder die Zuflucht zur Taufe, oder sie laufen in die weite Welt, um endlich auf illegalem Wege demselben Schicksal zu verfallen, dem unter legaler Form sie zu entrinnen hofften.
Was ich ihnen bis jetzt in allerdings nur sehr flüchtigen Strichen zu zeichnen versuchte, ist die soziale Begründung jener Erscheinungen, die als «zunehmende Immoralität» die Veranlassung zu vielfachen Erwägungen gibt. Vielleicht haben sie zwischen meinen Erörterungen die verzweigten Wurzeln der Frauenfrage gesehen, vielleicht auch in dämmriger Ferne die Ziele der Frauenbewegung.
Die extremsten Erscheinungen, die stellenweise auf der Oberfläche des Gemeinlebens erscheinen, erschrecken zum Glück auch wohlmeinende Männer. Sie sehen und erkennen die Größe der Gefahr, die die Häufung dieser Erscheinungen für die Gesamtheit ergibt, und aus ihren Reihen erwachsen den Frauen und ihren Bestrebungen heute schon eine recht stattliche Zahl von Mitarbeitern, allerdings meist nur so weit es sich um gewisse äußere Reformen handelt.
Der Zusammenhang der Sittlichkeitsfrage mit der Wohnungsfrage, mit der Lohnfrage, mit der Erziehungsfrage ist ja leicht zu fassen.
Aber wenn man sich in der Behandlung der Sittlichkeitsfrage nur auf diese äußeren Reformen beschränkt und dabei auf dem Standpunkt der doppelten Moral stehen bleibt, dann wird man fortfahren, die Krankheit zu verschleppen. Die Herren des Israelitischen Hilfsvereins sind nicht die ersten und nicht die einzigen, denen die zunehmende Prostitution unter den Mädchen bedenklich erscheint. Und wie aus ihrer Mitte kürzlich lakonisch der Rat erteilt wurde: «Fort mit dem Gesindel», so ist auch diese, allerdings nicht sehr weitherzige Auffassung, keine vereinzelte. Merkwürdig ist nur, daß seitens der Männer, selbst kaufmännisch gebildeter, das Gesetz von Angebot und Nachfrage zur Durchleuchtung dieser Sache keine Anwendung findet.
Diese jüdischen Hausierinnen und Artistinnen, die Kellnerinnen, die Ladnerinnen, Modistinnen, Probiermamsellen, Balletteusen und Choristinnen, ja, sie verkaufen sich. «Man» ist sittlich entrüstet darüber – aber könnten sie sich denn verkaufen, wenn keine Käufer da wären? Die furchtbare Ungerechtigkeit liegt eben darin, daß, wenn zwei Menschen gemeinsam ein Verbrechen begehen, dem einen von ihnen alle Schuld beigemessen wird, während der andere in den Augen der Welt als makellos gilt. Ich sage absichtlich: in den Augen der Welt makellos, denn straflos nach den unwandelbaren Naturgesetzen geschieht es ja nicht.
(Quelle: Pappenheim, Bertha (1901): Die Immoralität der Galizianerinnen. – In: Sisyphus: gegen den Mädchenhandel – Galizien. – Heubach, Helga [Hrsg.]. Freiburg i.Br. : Kore, 1992, 19 – 23)