Christine de Pizan, 1405
CHRISTINE WENDET SICH AN DIE FRAUEN.
XIX. Meine edlen, hochverehrten Frauen, gepriesen sei Gott, denn nunmehr ist die Errichtung unserer Stadt vollendet und abgeschlossen. Ihr Frauen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Ihr Tugend, Ehre und Unbescholtenheit liebt, findet hier eine Bleibe, denn unsere Stadt wurde für alle ehrsamen Frauen gegründet und errichtet. Da es ferner, Ihr geliebten Frauen, in der Natur des menschlichen Herzens liegt, sich zu freuen, wenn es ein Unternehmen erfolgreich beendet und seine Widersacher überwunden hat, so dürft, liebe Frauen, Ihr Euch nun in Tugend und Gottesfurcht am Anblick dieser neuen und vollkommenen Stadt erfreuen. Sie soll Euch allen, die ihr die Tugend liebt, nicht nur als Zufluchtsort dienen, sondern auch – vorausgesetzt, Ihr verteidigt sie gut – als Hort und Zufluchtsort gegen Eure Feinde und Angreifen. […]
Kurz und gut, Ihr Frauen aller Stände, ob vornehmer, bürgerlicher oder niedriger Herkunft, seid stets äußerst wachsam und auf der Hut gegen die Feinde Eurer Ehre und Eurer Unbescholtenheit! Ihr seht ja, liebe Frauen, wie die Männer Euch allerorts aller erdenklichen Laster zeihen. Straft sie also alle Lügen, indem Ihr Eure Tugend und die Vorbildlichkeit Eures Verhaltens unter Beweis stellt, auf daß Ihr mit dem Psalmisten sagen könnt: ‚Die Schlechtigkeit der Bösen wird sich gegen sie selbst kehren.‘ Und deshalb weicht zurück vor den hinterhältigen Schmeichlern, die Euch mit allerlei Verlockungen und auf mannigfache Weise Euer höchstes Gut, das heißt: Eure Ehre und Euren makellosen Ruf, zu nehmen trachten. Oh Ihr Frauen, flieht, flieht die sündige Liebe, zu der sie Euch zu überreden suchen! Flieht vor ihr, um Gottes Willen, flieht vor ihr! Denn einer Sache könnt Ihr ganz sicher sein: auch wenn das, was sie an Versuchungen birgt, Euch zunächst irreführen mag – die Rechnung bezahlt letztendlich immer Ihr! Laßt Euch bitte nicht das Gegenteil einreden, denn es kann gar nicht anders kommen! Liebe Frauen, denkt stets daran, wie sehr jene Männer Euch einerseits der Schwäche, Leichtfertigkeit und Unbeständigkeit bezichtigen – wie sehr sie aber andererseits sich aller erdenklichen und höchst merkwürdigen Mittel und Betrugsmanöver bedienen, um Euch wie Tiere in Netzen und unter gewaltigen Anstrengungen einzufangen. Flieht, flieht, liebe Frauen, und meidet solche Annäherungsversuche, denn hinter ihrer lächelnden Fassade verbergen sich äußerst gefährliche, todbringende Gifte. Laßt es Euch also angelegen sein, Ihr meine hochverehrten Frauen, durch Eure Tugendhaftigkeit anziehend zu wirken, flieht das Laster in all seinen Erscheinungsformen, betreibt den Ausbau unserer Stadt, vermehrt die Anzahl ihrer Bewohnerinnen und übt Euch in Heiterkeit und Rechtschaffenheit! […]
(Textauszug aus: Pizan, Christine de (1405): Das Buch von der Stadt der Frauen. – Berlin : Orlanda-Frauenverl., 1986, S. 286, 288 – 289)