Hedwig Dohm, 1903
Die Gegner der modernen Frauenbewegung freilich sehen in der Mütterlichkeit des Weibes die Verbürgung der Rechte des Kindes. Daher ihre feindliche Haltung gegen die umstürzlerischen Weiber der Emanzipation, die, wie es scheint, nichts Geringeres planen als einen neuen bethlehemitischen geistigen Kindermord. Daß alle seelischen und physischen Kräfte des Weibes nur der Mutterschaft zu dienen haben, daß auf der Mütterlichkeit ihre Genialität beruhe, wird immer wieder mit den Zeusgebärden souveränen Allwissens der Welt verkündet. Wie sich in Wirklichkeit das Leben der Frau als Mutter der Babies abspielt, will ich hier zu schildern versuchen. Die Mutterliebe ist ein Naturtrieb.
So recht von Herzen kann ich nicht einmal an diesen, kaum je bezweifelten Naturinstinkt glauben.
Lege ein fremdes Kind statt des eigenen der Mutter, die eben geboren hat, in die Wiege, und sie wird das untergeschobene Geschöpfchen – falls sie von der Vertauschung nichts weiß – in ihr Herz schließen, als wäre es ihr leibliches Kind. Ich kenne Fälle, wo kinderlose Frauen ein adoptiertes Kind mit der denkbar inbrünstigsten Mutterliebe umfaßten. Nicht der Naturinstinkt scheint mir der Grundpfeiler der menschlichen Mutterliebe, eher ist es das Schaffen und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt sich als das Schicksal des kleinen hilflosen Geschöpfes, das ihr anvertraut wurde, wobei allerdings die Vorstellung, daß es ihr eigenes Fleisch und Blut ist, mitwirkt. Die Vorstellung, sage ich, – nicht die Tatsache.
Ein Beispiel aus meinem eigenen Leben mag das Gesagte erläutern. Aus irgend welchem Anlaß wohnte eine kleine Nichte einige Monate bei mir. In kürzester Zeit liebte ich das Kind, das ich vorher kaum gekannt hatte (die Eltern lebten in einer anderen Stadt), wie nur eine Mutter ihr Kind lieben kann. Seine Gegenliebe bereitete mir Entzücken, es war mein Geschöpfchen, das ich zu behüten, zu versorgen hatte, für das ich verantwortlich war. Als das Kind mir wieder genommen wurde, entschwand es allmählich aus meinem Gedächtnis und aus meinem Herzen. Ein noch markanteres Beispiel, wobei es sich freilich um einen Mann handelt, einen älteren Herrn und vielbeschäftigten Kaufmann. Dieser Mann – ein naher Verwandter von mir – hatte acht Kinder, denen er keinerlei Interesse zuwandte; höchstens zeigte er an ihren weltlichen Erfolgen einige Anteilnahme. Die Kinder gehörten ganz der eifrigen, willensstarken Mutter. Der charakterschwache Vater war eine Null im Hause. Einer seiner Söhne starb mit der Bitte auf den Lippen, daß der Vater sich seines verlassenen unehelichen kleinen Mädchens annehmen möge. Und dieser trockene Geschäftsmann, der sich um seine eigenen Kinder nie gekümmert hatte, wurde diesem Kinde ein überzärtlicher Vater. Sein ganzes Gemütsleben konzentrierte sich auf die Kleine, die wahrscheinlich ohne ihn gestorben oder verdorben wäre. Es war rührend, zu beobachten, wie er heimlich, fast mit dem Gefühl einer Schuld, Tag für Tag zu dem Kinde schlich und sich mit Geschenken und zarter Fürsorge für die Enkelin nicht genug tun konnte. Und das Kind gab ihm Liebe für Liebe. Daß es ja in der Tat aus seinem Blute stammte, hatte mit seiner Liebe nichts zu tun. Es ist eine oft gemachte Wahrnehmung, daß ein Vater seinem ehelichen Kinde häufig erst dann ein echter, fürsorgender Vater wird, wenn der Tod ihm die Gattin, dem Kinde die Mutter entrissen hat.
Zum Bestand der Mutterliebe gehört als wesentliches Element die Gegenliebe des Kindes. Denken wir uns diese Liebe ausgeschaltet, so dürfte die Mutterzärtlichkeit eine starke Abkühlung erfahren. Ich kenne Fälle, wo Mütter mit einer zahlreichen Kinderschar diejenigen Kinder, die sie mit der eigenen Milch genährt, leidenschaftlich liebte, den Ammenkindern aber, die, von der Mutter sich wendend, nach der Amme schrien, abhold waren. Kluge und gute Frauen freilich werden es verstehen, sich ihrer Kindchen, wenn die Amme entlassen ist, zu bemächtigen. Welches aber auch der Grund und Urgrund der Mutterliebe sein mag: sie ist da, sie wird immer da sein, selbst wenn Titanden der Emanzipation den Himmel dieser Gemütswelt zu stürmen sich unterfangen wollten. – Immer ist sie dagewesen ? Selbst das scheint nicht einmal sicher. Kulturhistoriker bezweifeln es. Richard Muther sagt in einer Abhandlung »Das Kind in der Kunst«, daß man erst am Ende des 18. Jahrhunderts anfing, mit dem Mutterglück zu posieren, von dem man vorher sehr gering schätzig gedacht; und er führt diese Umwandlung auf Rousseau zurück.
Ob man in Indien – doch auch ein Kulturland – vor der Invasion der Engländer von Mutterliebe etwas wußte? Was geschah nur mit den Kindern all der verbrannten Witwen, unter denen es doch sicher viele junge Mütter gab? Zugleich Witwenverbrennung und hohe Einschätzung der Mutterliebe, das geht doch nicht.
Warum aber soll die Mutterliebe eine so überaus geniale, das Leben der Frau erschöpfende Leistung sein? Schlechte und gute Frauen lieben in gleicher Weise ihre Kinder; und sie lieben auch ihre seelisch mißratenen Sprößlinge, die voraussichtlich der Menschheit Unheil bringen.
Und solcher Liebe ein Heiligenschein? Wir bewundern doch auch den Künstler nicht, der sein mißlungenes Werk anbetet; eher lächeln wir mitleidig darüber hinweg.
Die Zärtlichkeitsbeweise, die Liebkosungen, die eine Begleiterscheinung der Liebe zu den Babies sind, machen offenbar der Mutter mehr Vergnügen als dem Kinde.
Diese Liebe, die ein so kleines, hirn- und seelenloses Wesen brünstig umklammert, es förmlich in sich saugt in ekstatischer Wonne, bezeichnet das starke sinnliche Element in der Mutterliebe. Die Kinder vor Liebe aufessen, ist eine oft angewandte Redensart.
Und doch – mag man dieser Mutterpassion auch Blindheit, in vielen Fällen Entartung bis zur Affenliebe nachsagen, dennoch ist ein ergreifender Zug in ihr, irgend ein geistiges Prinzip, das ich nicht klar erkenne, ein transcendentales Schauen, als wäre nun ein Schatz, der verborgen im Innersten der jungen Mutter geruht, von dem Kindlein da gehoben, als wäre es eine Antwort auf eine drängend sehnsüchtige Frage. Eine Liebe mit leichtem Anklingen an Mystisches, das das Kind in Zusammenhang bringt mit dem »Woher?« »Wohin?« aller Kreatur, und als ob in der klaren Tiefe dieser fragenden Kinderaugen noch ein Abglanz ruhte von einer andern Welt, aus der sie kommen, Engelsbilder, die irgendwo Flügel verloren, ein Erinnern an den Platonischen Mythus von der Präexistenz der Seele, in der die noch ungeborene die reine Bedeutung der Dinge schaute.
Die zärtlichen Muttergefühle immer auf dem Präsentierteller, als piece de resistance in der Argumentation gegen die Frauenbewegung, ist aufdringlich, abstoßend. Wie man in seinem Kämmerlein betet, so liebe man daheim sein Kindchen. Aber ich sehe keinen Grund, Gefühle, die einen ’so reichen Lohn schon in sich selbst tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende Qualitäten an die große Glocke zu hängen, Heiligenscheine dafür als Dutzendware auf den Markt zu werfen, auch für Stirnen, hinter denen nie eines Gedankens Glut gestrahlt, nie ein Funke von Edelsinn auch nur geglimmt hat. Mir ist dieses Protzen mit der Mutterliebe widrig. Frauen können ihren Kindern die zärtlichsten Gefühle weihen, und sich anderen Kindern, ja, der ganzen übrigen Menschheit gegenüber herz- und gemütlos erweisen. Das wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ist.
Viele Frauen haben vielleicht keine andern Vorzüge, oder gar keine; sie können vielleicht nicht einmal kochen; da bleibt ihnen doch immer noch die Mutterliebe. Die kostet keine Arbeit, wird nicht erworben, ist von selbst da, und je heftiger sie da ist, um so mehr rückt sie die Mutter in eine verklärende Beleuchtung.
Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuspricht, wenn es mir auch fern liegt, zu leugnen, daß es eine Mutterliebe gibt, die rührend und ergreifend ist, eine Liebe, die immer tröstet, immer verzeiht, die immer gibt, niemals nimmt, die selbst an dem entgleisten Kinde, das am Pranger der Menschheit steht, in unverbrüchlicher Treue festhält.
In Romanen kommen diese Mütter noch häufiger vor als im Leben.
Doch, was ist nicht alles Mutterliebe! Oft genug ist sie nur eine Interessenliebe, und der Begriff der Familienehre liegt ihr zu Grunde.
Es kommt vor, daß eine Mutter aus verschiedenen Gründen, oder auch grundlos, das eine oder das andere ihrer Kinder gar nicht oder weniger liebt als seine Geschwister.
Ihre übrigen Mutterinstinkte aber bleiben wach, auch den ungeliebten Kindern gegenüber. Sie ist auf ihre Talente und Erfolge ebenso stolz wie auf diejenigen ihrer Lieblinge. O ja, die Mutterliebe treibt oft Blüten, aus denen nicht Blumen und nicht Früchte werden.
Erinnerungen aus meinem Jung-Frauenleben tauchen in mir auf. Wir hatten ein Gärtchen bei der Wohnung. In dem saß ich oft lange Vormittage und languettierte Unterröckchen und Schürzchen für meine kleinen Kinder, und ich stickte rote Pünktchen hinein, eine mühselige Arbeit für meine talentlosen Finger. Und Unterröckchen und Schürzchen wären ebenso nützlich und sogar feiner gewesen ohne Languetten und rote Pünktchen. Aber – das war Mutterliebe.
Und wenn ich – wie es öfter geschah – einige Wochen mit den Kindern am Ostseestrand zubrachte, suchte ich, wie sich’s gehört, Steinchen und Muscheln für sie, aber – ich bemalte sie auch, in einer Weise, die sicher im Gegensatz zu der »Kunst im Leben des Kindes« stand. Und es war wieder eine mühselige, zeitraubende Arbeit für meine talentlosen Finger. Aber- es war Mutterliebe. O, wie leidenschaftlich gern hätte ich in späteren Jahren diese vielen verschleuderten Stunden aus dem Schoß der Vergangenheit zurückgehabt, um sie in den Dienst einer für mich und die Kinder fruchtbareren Entwicklung zu stellen.
An einem Badeort war ich Zuschauer bei einem Kinderfest. Eine der Nummern des Festprogramms hieß: Bonbonregen. Der maitre de plaisier stellte sich auf einen hohen Stuhl und warf aus einer großen Tüte Bonbons in die Kinderschar hinein. Ein wüstes Gebalge – von Staubwolken eingehüllt – begann, nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch zwischen den Müttern der Kinder. Geradezu widrig die Gier, mit der sich die Mütter auf die im Staub halb zertretenen Bonbons stürzten, um für ihre Lieblinge zu retten, was vor den andern, fremden Kindern zu retten war. Mutterliebe!
Zwei kleine, mir verwandte Mädchen, Lili und Traut, Cousinen, spielen auf dem Balkon von Trautchens Mutter. Eins der Kinder beugt sich weit über die Balustrade des Balkons hinaus. Trautchens Mutter sieht es. Entsetzt springt sie hinzu: »Traut! Um Gottes willen, Traut!« Plötzlich wird sie ganz ruhig. »Ach so, es ist ja Lilli.« Mutterliebe!
Mutterliebe ist auch der Haß der Mutter gegen die Töchter anderer Mütter, die die ihrigen in den Schatten stellen. Und diese Gehässigkeiten bleiben nicht immer passiv. Sie äußern sich oft recht aktiv, indem man – mit innigster Mutterliebe – der Konkurrentin der Tochter eine kleine Schwindsucht oder ein paar schwarze Charakterdefekte aufredet, zur Abschreckung für Verlobungslustige.
O ja, Mutterliebe wird in immensen Quantitäten produziert. Aber nicht die Quantität dieser Gefühle, sondern ihre Qualität, ihr Ergebnis, dürfte für den Wert der Mutterschaft entscheidend sein. Da ist ein Künstler, der pinselt und pinselt mit leidenschaftlicher Glut an seinem Bilde. Er liebt es, denn es ist sein Bild, – ein garstiges Bild.
Zeige mir dein Kind, und ich will dir sagen, ob du eine gute Mutter bist. Das Muttersein ist ohne Bedeutung für das Kind, wenn es nicht durch ein gedeihliches Wirken an ihm in die Sphäre des Wertes erhoben wird.
Es sind die kleinen, hilflosen Geschöpfe, die Babies, denen die Mutter die größte Zärtlichkeit widmet. Der Säugling in der Tat ist von der Natur auf die Mutter angewiesen. Bei der heutigen Beschaffenheit der Frau kommt das Säugeamt nur zu oft in Wegfall. Surrogate für die Muttermilch mögen in vollkommener chemischer Zusammensetzung noch nicht vorhanden sein. Sie herzustellen, bleibt der Zukunft vorbehalten. Es ist vorauszusehen, daß die Mutter der Zukunft imstande sein wird, ihre Nährpflicht besser zu erfüllen als die jetzige Generation. Die Erfahrung widerlegt die Ansicht, daß Nährtätigkeit auf den geistigen und körperlichen Zustand der Frau ungünstig einwirke. Im Gegenteil, viele Frauen fühlen sich in dieser Zeit besonders wohl.
Vorkehrungen zu treffen, daß die Mutter ihres Säugeamtes neben einer Berufstätigkeit walten kann, liegt im Bereich der Möglichkeit.
Eine ausgezeichnete Schriftstellerin weist auf »die ungeheure psyschologische Bedeutung hin, die die persönliche Pflege des Kindes für die Mutter habe.« Die persönliche Pflege und Fürsorge … Hm! Die Mutter wäscht, wickelt, badet Tag für Tag das kleine Kindchen, sie gibt ihm das Fläschchen und kocht ihm das Süppchen, füttert es, trägt oder fährt es spazieren, singt es in den Schlaf, näht und wäscht seine Kleidchen und besorgt nachts, was zu besorgen ist. Tut sie das?
Bewahre! Dazu ist ja die Kinderfrau da.
Ob eine Pflicht für die Frau besteht, ihr ganzes Leben den Kindern zu widmen, darüber mag man verschiedener Meinung sein. Daß kaum eine Frau dieser Pflicht nachkommt, ist sicher; sie kann es auch nicht, ohne ihre soziale Stellung, ihre gesellschaftlichen Beziehungen, ihren Gatten an den Nagel zu hängen (ich meine das bildlich).
Wohlgemerkt: ich spreche hier immer nur von der Mütterlichkeit mit Ausschluß des Proletariats, bei dem die Notlage die Kinderfürsorge auf ein Minimum herabdrückt.
Das Warten der kleinen Kinder ist außerordentlich angreifend. Eine durch lange Übung erworbene Geduld gehört dazu, Ruhe, starke Arme und sogar eine gewisse Freiheit von allzu heftigen Liebesaffekten. Das kleine Kind bedarf der unausgesetzten Beaufsichtigung.
Ich kenne eine wahnsinnig zärtliche Mutter, die, als sie von einer seltsamen Krankheit hörte, die irgendwo unten im Süden ausgebrochen sein sollte, bei der Vorstellung, daß ihre Lieblinge davon ergriffen werden könnten, in heiße Tränen ausbrach. Dieselbe junge Frau aber versicherte, sie würde lieber Holz hacken, als ihre Kinder den ganzen Tag warten.
In Frankreich und Italien wurden und werden noch heute vielfach die kleinen Kinder aufs Land gegeben, teils aus hygienischen Gründen, teils, weil es eben Landesbrauch war. Daß die Mutterliebe in diesen Ländern ausgestorben ist, bezweifle ich. Die Tage, an denen die Kinder besucht werden, sind Festtage für die Familie. In keinem Lande Europas gibt es zärtlichere Eltern als in Italien. Und sind die Engländerinnen etwa Rabenmütter? In England ist die Pflege der kleinen und kleineren Kinder völlig der nurse überlassen. Die nurse ist eine gründlich und trefflich für ihren Beruf geschulte Person, die ihre ganz bestimmten, weitgehenden Rechte hat, Rechte, die selbst die Mutter nicht anzutasten wagt, und auch nicht anzutasten braucht. Ja, eine englische Mutter schickt ihre Kinder allein mit der nurse in bestimmte Seebäder und darf der Überzeugung sein, daß sie selbst nicht besser für die Kinder dort sorgen könnte, als die nurse es tut. Auch bei uns in Deutschland sind die Kinderfrauen Machthaberinnen; leider nicht annähernd so tüchtig und geschult wie die englischen nurses. Ihre Unzulänglichkeit beruht aber doch nicht auf einer Naturnotwendigkeit. Man wird für Institute zu sorgen haben, aus denen Kinderpflegerinnen hervorgehen, die den englischen ebenbürtig sind. Und sind nicht auch Kindergärten denkbar, die, von echten Pädagoginnen geleitet, von rechten Ärztinnen überwacht, der Vorstellung eines Kinderparadieses annähernd entsprechen dürften? Wer die Seligkeit der Kinder, auch der ganz kleinen, an den Ostseestränden gesehen hat, dem ist ein Fingerzeig gegeben, wie solche Gärten beschaffen sein müssen. Erstes Prinzip: Freiester Spielraum für die Schaffenslust der Kinder. Ich habe verkehrt und verkehre noch in einer großen Anzahl gebildeter und intelligenter Familien. Einige davon sind reich, andere unbemittelt. In allen diesen Familien werden die Kinder zärtlich geliebt, oft über das vernünftige Maß hinaus, und in allen ist der Verkehr der Mütter mit ihren Kindern völlig gleich. Die Mutter ist denTag über zwei, wenn es hoch kommt, drei Stunden mit ihren Kindern zusammen. Die Kinderfrau (später das Kinderfräulein) bringt morgens das Kindchen zum Morgengruß ins Schlaf- oder Wohnzimmer der Mutter, die kost und spielt ein halbes Stündchen mit ihm. Dann zieht sich die Wärterin mit dem Kleinen wieder in die Kinderstube zurück. Ist das Kindchen noch ganz jung, so wird Muttchen wohl zu ihrem Vergnügen als Zuschauer zum Baden eingeladen. Nach Tisch zum Dessert und nachmittags beim Kaffee präsentiert die Kinderfrau abermals das Herzblättchen auf kurze Zeit. Und ab und zu im Laufe des Tages steckt Muttchen noch flüchtig den Kopf ins Kinderzimmer, mit dem kleinen Schatz liebäugelnd oder ihn mit vielen, vielen Küssen erstickend. Und liegt Kindchen abends im Bett, so ruft die Kinderfrau sie zum Gutenachtsagen und zum Gebet, falls das Muttchen nicht gerade durch Theater, Konzerte oder Gesellschaften in Anspruch genommen ist.
Baby ist Muttchens Zeitvertreib und Spielen und Kosen sein Inhalt. Den größten Teil des Tages gehören die Kinder der Kinderfrau oder dem Fräulein. Die Mutter stattet nur Besuche im Kinderzimmer ab, das Kind nur Besuche im Wohnzimmer. So ist es. Wer aber meint, daß hier Wandel geschafft werden müsse, damit der Mutter allein »der ungeheure psychologische Vorteil der persönlichen Pflege des Kindes« zufalle, der trete offen für die Abschaffung der Kinderfrauen ein, statt – wie es gewöhnlich geschieht – diese breiten Machthaberinnen in der Kinderstube völlig zu ignorieren.
Die Wärterin meiner Kinder bekam Wutanfälle, wenn ich einmal mein Kind selbst baden, wickeln oder im Garten spazieren fahren wollte. Das sei ihre Sache. Sie empfand mein Eingreifen als eine Ehrverletzung, eine tödliche Kränkung. Und ich, – ich suchte heimlich, hinter ihrem Rücken, meinem Kindchen beizukommen. Die Despotin an die Luft zu setzen, wäre natürlich vernünftiger gewesen..
Gewiß hat die Mutter immer und überall die Pflicht zur Oberaufsicht über die Kinderwärterinnen. Die Wirksamkeit der Oberaufsicht aber hängt viel weniger von ihrer Liebe und der Zeitdauer ab, die sie dieser Tätigkeit widmet, als von ihrer Intelligenz und ihrem Charakter.
Ist die Mutter als Pflegerin und Erzieherin eine absolute Notwendigkeit für das Kind? Ist die Untrennbarkeit von Mutter und Kind ein für alle Ewigkeit geltendes Prinzip? Zwei Gesichtspunkte kommen dabei in Frage; erstens: die Freude und das Glück der Mutter am Kinde; und zweitens: die Wohlfahrt des Kindes. Die Freude und das Glück der Mutter! Ja, wissen denn die Frauen nicht selbst, wo ihr Glück, wo ihre Freuden blühen? Ist das Kind ihr größtes Glück, ihre intimste Freude, so werden sie es sich um keinen Preis der Welt entreißen lassen, am allerwenigsten aber werden sie sich dieses Glückes freiwillig entäußern. Und es ist ein Luxus der Großherzigkeit, wenn die Männer sich so feurig für das Glück ihrer Schwestern ereifern.
Das Gedeihen des Kindes. Ist das Herz der Mutter nicht sein bester Hort?
Darauf antworte ich: Des Kindes Wohlfahrt wird da am besten gewahrt, wo eine erzieherisch begabte Persönlichkeit von Intelligenz und Herzensgüte über ihm wacht, es leitet und führt. Besitzt die Mutter diese Eigenschaften – um so besser. Besitzt sie sie nicht, dann wird das Kind in ihrer Sphäre das bestmöglichste Gedeihen nicht finden.
Und die hellseherische Kraft des Mutterinstinktes? Gehört sie doch zu den auswendig gelernten Wahrheiten, die sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben. Erst kürzlich las ich in der Schrift eines warmen Feministen, daß »selbstverständlich, wie bisher, so auch in Zukunft die wunderbar hellseherische Kraft des liebevollen Mutterinstinktes das Beste tun wird.« So lange man sich von dieser alteingesessenen Wahnvorstellung nicht freimacht, wird der milden Engelmacherei der Instinktmütter Vorschub geleistet. Ich glaube nicht an die Wunderwirkung des Mutterinstinktes; eher scheint mir die Mutterliebe, die nur in Ausnahmefällen nicht blind ist, ein Hemmnis des fruchtbaren Wirkens am Kinde.
Und das Glück des Kindes? Braucht das Kind nicht Liebe? Gewiß. Aber es gilt ihm gleich von wem die Liebe kommt. Es kann die Mutter sein, sie braucht es aber nicht zu sein. Die Liebe des Kindes zur Mutter ist ganz sicher kein Naturinstinkt. Sein instinktives Bedürfnis nach Liebe und Anhänglichkeit fällt den Personen zu, die ihm Lust bringen, sei es durch Nahrung, Spielzeug, oder was ihm sonst Behagen schafft. Der Säugling von sechs Monaten jauchzt der Amme, nicht der Mutter entgegen. Bei dieser Kindesliebe ist eben auch die Gewohnheit dauernden Beisammenseins und das Gefühl der Abhängigkeit von der pflegenden Persönlichkeit ein stark mitwirkendes Element. Darauf ist zum Teil die merkwürdige Erscheinung im Kindesleben zurückzuführen, die mich oft mit Staunen und Groll erfüllt hat: daß die kleinen Kinder ihren Wärterinnen, auch wenn sie schlecht und ungerecht von ihnen behandelt werden, leidenschaftlich anhängen. Ich betone hier ausdrücklich, daß nie und nimmer ein Gewaltakt das Kind von der Mutter reißen soll. Was das Recht des Kindes erheischt, wird sich in langsamer, allmählicher Entwicklung zu höheren Kulturstufen von selbst ergeben. Wenn die Kindchen bei der Aufziehung durch ungeschulte Kinderfrauen und unreife Kindermädchen nicht zu ihrem Recht kommen: der Mutter ist kein Vorwurf zu machen. Sie ist eben, wie sie sein kann. Die Babies kommen nicht zu ihrem Recht, weil die Mütter selbst nicht zu ihrem Recht gekommen sind, das heißt, nicht zur Entwicklung der Intelligenz, die ihnen das Verständnis für die Psyche des Kindes erschlossen hätte, der Kenntnisse, von denen das leibliche Wohl des Kindes abhängt, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß auch eine Frau, trotz aller Intelligenz und allem Wissen, wenn ihr die erzieherische Begabung abgeht oder schlechte Charaktereigenschaften ihre Geistesvorzüge neutralisieren, eine ungute Mutter sein wird.
Die Mutterschaft soll mehr sein als eine auf selbstischen Vorstellungen beruhende, undisziplinierte Gefühlsschwelgerei. Bisher ist in dem Verhältnis von Mutter und Kind die Mutter mehr zu ihrem Recht gekommen als das Kind. Sehr erklärlich. Die Mutter redet, das Kind nicht.
Auch die Umwertung der Mutterschaft steht auf dem Programm der Zeit. Daß sie eine unvergleichliche Vertiefung und Veredelung erfahren wird, wenn die Frau erst zu Lebens- und Erkenntnis-Höhen gestiegen ist, die ihr bis jetzt nicht zugänglich waren, unterliegt für mich keinem Zweifel. Die Mutter von heute und gestern wird nicht mehr die Mutter der Zukunft sein. Man vergleicht gern die Mutter mit dem Kind im Arm einem Madonnenbild. Und das wäre wohl die rechte Mutter, die, gleich der Mutter Maria, mit ehrfürchtiger Inbrunst auf das Kind in ihrem Schoß blickte, in der Erkenntnis, daß das Kind die Zukunft bedeutet, das heißt: einen Fortschritt der Menschheit. Die Emanzipation des Weibes ist das Recht des Kindes.
(Quelle: Dohm, Hedwig (1903): Der Muttertrieb. – In: Zur Psychologie der Frau. – Brinker-Gabler, Gisela [Hrsg.]. Frankfurt/M. : Fischer-Taschenbuch-Verl., 1979, S. 193 – 203; Original in: Dohm, Hedwig (1903): Die Mütter : Beitrag zur Erziehungsfrage. – Berlin : Fischer, S. 4 – 24)