Revolution und Erlösung des Weibes
Johanna Elberskirchen, 1904
Was ist Homosexualität?
I.
In der wissenschaftlichen, präziser in der naturwissenschaftlich-medizinischen Welt besteht eine Strömung, welche die Emanzipation der Frau auf eine sexuelle Entartung der Frau, auf sexuell annormale Individuen – auf homosexuale Individuen zurückführen will.
Zunächst: Was ist Homosexualität? Liebe zum gleichen Geschlecht. Liebe der Frau zur Frau – Liebe des Mannes zum Manne.
Was hat die Liebe der Frau zur Frau mit der Emanzipation der Frau zu tun?
Man sagt, die Liebe der Frau zur Frau ist ein Zug zum Männlichen – die Emanzipation der Frau ebenfalls. Die Frau strebt, sie greift nach „spezifisch männlichen“ Allüren und „spezifisch männlichen“ Berufen. Ergo: hier liegt ein kausaler Zusammenhang vor. Beides bedingt sich – das Eine geht aus dem Andern hervor. Die Emanzipationsbestrebungen aus der Homosexualität.
Was ist das Wesen der Homosexualität, der Liebe zum eigenen Geschlecht? Natürlich die Ausschließung des konträren Geschlechts, des männlichen bezw. des weiblichen. Wie kann nun die Liebe der Frau zur Frau einen Zug zum „Männlichen“ haben? Das Männliche wird doch ausgeschlossen. Man könnte doch eher das Gegenteil behaupten und sagen: in der Liebe der Frau zur Frau manifestiere sich ein Zug zum Weiblichen!
Und tatsächlich ist es so. Der oder die Homosexuale liebt das eigene Geschlecht. Es sind immer die Zwei, nicht nur der Eine des Bundes, die im andern das eigene Geschlecht lieben und mehr oder weniger dem konträren Geschlecht abgewandt sind. Wenn also zwei Frauen einander lieben, so ist diese interessante Tatsache noch lange nicht dadurch erklärt, daß man sagt, die eine repräsentiert quasi den Mann, sie empfindet männlich, die andere, die Frau repräsentierend, weiblich, also – normal! Empfände die eine weiblich, also normal, dann könnte sie doch nicht eine Frau lieben, also doch nicht abnorm – ihr Instinkt müßte sie doch zum Manne treiben, zum normalen Manne! Beide empfinden eben nicht normal, sondern beide empfinden abnorm und zwar beide weiblich bezw. männlich. Beide werden sie nicht zum Manne getrieben. Beide treibt der Instinkt zur Frau, zum eigenen Geschlecht. Beide lieben im andern das eigene Geschlecht – das weibliche. Nicht das männliche. Sonst wäre doch ein homosexuelles Verhältnis überhaupt nicht möglich. Folglich: Es handelt sich hier um einen Zug zum Weiblichen – vom Weiblichen zum Weiblichen.
Inwiefern kann also die Homosexualität der Frau im ursächlichen Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau stehen – im ursächlichen Zusammenhang mit dem Zug nach „spezifisch männlichen“ Allüren und Berufen? Offensichtlich in keinem.
Homosexualität eine bisexuelle Varietät – keine Entartung
II.
Ist nun die Homosexualität tatsächlich ein Entartungszustand und wäre es deshalb berechtigt, die Frauenemanzipation einfach als Entartungszustand abzutun?
In meiner Abhandlung „Homosexualität eine bisexuelle Varietät“ bin ich auf die Frage der Entartung des Näheren eingetreten und auf Grund wissenschaftlicher Feststellungen zu dem Resultat gekommen, daß die Homosexualität kein Entartungszustand, sondern eine Varietät der bisexuellen Anlage ist. Wer sich für die einzelnen Ausführungen interessiert, den bitte ich, sie in jener Abhandlung nachzulesen, da ich mich hier nicht wiederholen möchte. Hier nur das:
Das weibliche und das männliche Geschlecht ist in jedem menschlichen Individuum, gleichviel, ob Mann oder Weib, enthalten. Jeder Mann besitzt also neben seinen spezifisch männlichen Organen auch die spezifisch weiblichen und umgekehrt, jede Frau neben ihren spezifisch weiblichen Organen auch die spezifisch männlichen. Jeder Mann bezw. jedes Weib hat also neben seinem Hauptgeschlecht noch ein konträres Nebengeschlecht. Jeder Mann hat etwas vom Weibe – jedes Weib etwas vom Manne! Das ist eine biologische, durch keinen Sophismus aus der Welt zu schaffende Tatsache! Diese biologische Tatsache ist die sogenannte bisexuelle Anlage. Sie ist der Untergrund der sogenannten Homosexualität.
Das konträre Nebengeschlecht tritt in der Regel in der Entwicklung gegen das Hauptgeschlecht zurück, ist wenig entwickelt oder rudimentär und funktioniert nicht als Fortpflanzungsorgan.
In gewissen Fällen aber kommen im bisexuellen Organsystem Entwicklungszustände vor, welche eine Verschiebung und Komplizierung der Geschlechtsneigungen bedingen.
Häufig hat das Individuum ausgesprochene Zuneigung nur zu Personen des andern Geschlechts. Diese sind die sogenannten Normalgeschlechtlichen. Es ist anzunehmen, daß bei diesen Personen das konträre Nebengeschlecht, insbesondere dessen nervöser Teil, rudimentär geblieben ist.
In andern Fällen jedoch, die wahrscheinlich ebenso häufig wie die vorhergehenden sind, hat das Individuum, bei vollständig normaler, funktionskräftiger Ausbildung des Hauptgeschlechts, ausgesprochene Zuneigungen zu beiden Geschlechtern. Allerdings soll auch vorkommen, daß Neigung nur zum eigenen Geschlecht besteht. Wir müssen annehmen, daß in diesen Fällen die nervösen Elemente beider Geschlechter entwickelt wurden, bezw. das nervöse Element des konträren Nebengeschlechts auf Kosten des Hauptgeschlechts.
Sei es nun, wie es sei – die Bisexualität ist jedenfalls ein normaler, embryologisch-physiologisch bedingter Zustand, die Prämisse (oder der Folgezustand?) der geschlechtlichen Differenzierung, also der Entstehung von Mann und Weib. Die geschlechtliche Differenzierung ohne Bisexualität ist uns heute einfach undenkbar. (Späteren Generationen, die vor der Tatsache eines Fortschrittes der geschlechtlichen Differenzierung stehen, vielleicht nicht.)
Durch diesen normalen Zustand der Bisexualität ist aber die Möglichkeit einer mannigfaltigen natürlichen Varietät gegeben. Und zwar einer Mannigfaltigkeit, die sich zwischen den zwei Punkten Mann und Weib bewegt. Es sind also so viele Varietäten möglich, wie Entwicklungsgrade der bisexuellen Anlage möglich sind, so viele Mischungsmöglichkeiten, so viele Formenübergänge vom Männlichen zum Weiblichen gegeben sind.
War aber je eine Varietät Entartung? Warum eine bisexuelle Varietät? Entwickelt sie sich nicht aus einem embryologisch-physiologisch bedingten und gegebenen Zustande? Warum soll sie selbst nicht physiologisch, warum soll sie pathologisch sein – ist sie nicht eine bestimmte Form, Art oder Varietät des bisexuellen Zustandes? Schlägt Sie etwa aus der Art, verkümmert und geht unter? Sicher nicht. Die bisexuelle Varietät in Form der Homosexualität lebt und gedeiht so lange die historische Erinnerung zurückreicht und so weit wie die Erde reicht.
Oder ist etwa mit der Homosexualität notwendig ein geistiger oder moralischer Defekt verbunden? Das muß erst bewiesen, nachgewiesen werden. So lange dies nicht geschieht, ist es wissenschaftlich unzulässig, die Homosexualität als Psychopathie zu bezeichnen.
Es gäbe psychopathische Homosexuale? Gewiß gibt es die, genau so, wie es psychopathische Normalsexuelle gibt. Und es ist ganz in der Ordnung, wenn gegen diese scharf vorgegangen wird. Gegen die einen mit Irrenhaus – gegen die andern, der Verbrechernaturen, mit dem Zuchthaus. – Ich habe selbst solche verbrecherische, zum Teil verrückte Homosexuale in meinem Leben kennen gelernt, ich selbst habe gegen sie scharf Front gemacht und konnte nur bedauern, daß gegen sie keine gesetzliche Handhabe vorlag.
Für die rede ich ganz gewiß nicht. Aber für die Homosexualen, die ein gesundes Gehirn, d.h. einen gesunden Geist und eine gesunde Moral haben, die also weder verrückt noch verbrecherisch sind, die wissen, was sie tun und wie weit sie zu gehen haben, die ihren homosexuellen Gelüsten so wenig ein junges Menschenleben opfern, wie ein Normalsexueller seinen normalsexuellen.
Nun heißt es von den homosexualen Frauen, in ihnen sei das männliche Geschlecht stark entwickelt, deshalb hätten sie männliche Neigungen, männlichen Charakter usw. Diese Frauen seien es, welche hinter den Emanzipationsbestrebungen stünden. Nicht wahr, wie klug?! Warum sind es nun aber trotzdem Frauen?? Immerhin Frauen. Gewöhnliche Frauen? Wäre das männliche Geschlecht stark entwickelt, dann wären es doch Männer! Nicht wahr, wie klug?! Nein, mit solchen phantastischen Deutungen wird das homosexuale Problem nicht gelöst. Was im letzten Grunde den homosexualen Neigungen zugrunde liegt, welche nervöse Bildungen und Konstellationen, das wissen wir noch gar nicht.
Im übrigen: Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht. Wen geht’s an? Doch nur die, die es sind. Die sich mit ihrer Annormalität abzufinden haben, wie die anderen mit ihrer Normalität. Wen geht’s an? Doch höchstens nur noch die Natur – Gott! Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Auch den Homosexualen.
Sind wir homosexual – gut, dann lasse man uns. Sind die Emanzipationsbestrebungen des Weibes, (das einmal angenommen, ohne es zuzugeben) auf eine sexuelle Annormalität zurückzuführen – warum sie dann bekämpfen? Dann ist es ja ausgeschlossen, daß die normalen Frauen sich emanzipieren. Und die Annormalen – die haben dann doch alles physiologisch-psychologische Recht darauf, sich auf anderen Gebieten, als den sexuellen, betätigen zu können. Von des Weibes sog. natürlichster Bestätigung: der Ehe id est Fortpflanzung, sind sie doch häufig ausgeschlossen, ausgeschlossen durch die Natur und geradezu prädestiniert für die sogenannten männlichen Berufe. Eine Betätigung müssen sie doch haben. Ohne Betätigung ist ja alles organische Leben sinnlos, hört einfach auf. Ist doch organisches Leben Betätigung katerochen, des Lebens conditio sine qua non!
Ich komme zu dem Schluß: wären die Emanzipationsbestrebungen der Frau tatsächlich auf Homosexualität zurückzuführen – die Wissenschaft hätte kein Recht, deshalb gegen sie zu reden und sie als Entartungszustand verächtlich beiseite zu schieben.
Die Metaphysik der Herren Naturwissenschaftler und ihres weiblichen und männlichen Prinzips
III.
Aber abgesehen davon – abgesehen davon, ob die Homosexualität der Frau nun ein Zug zum Weiblichen oder zum Männlichen sei, ob sie ein Entartungszustand sei oder nicht – ein Zusammenhang zwischen Homosexualität und Emanzipation der Frau ist auf alle Fälle ausgeschlossen. Ausgeschlossen, weil ein Zusammenhang zwischen Geschlechtsverschiedenheit einerseits und Charakter und Berufen andererseits überhaupt ausgeschlossen ist, gleichgültig, ob es sich um einen normalen oder annormalen Sexus handelt. Aus der physiologischen Tatsache der Bisexualität ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit, daß ein Unterschied zwischen Mann und Weib – ausgenommen den eng geschlechtlichen – nicht bestehen kann, kein prinzipieller, kein Unterschied, der Mann und Weib auf den Gebieten des Lebens sozial gegenseitig sich ausschließen ließ. Denn wir wissen, daß die männliche und weibliche Geschlechtseigenschaft aus ein und derselben Anlage hervorgehen, daß sie denselben gemeinschaftlichen Ursprung haben und diese Beiden gegenseitig zum gemeinsamen Zweck (Bildung der Embryonalzelle bezw. des Kindes) wieder sich verbinden. Sich diese Beiden gegenseitig also bedingen, nicht ausschließen – das das Eine oder das Andere keinen Sinn und Zweck hat. (. . .)
(Textauszug aus: Elberskirchen, Johanna (1904): Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht? : Revolution und Erlösung des Weibes ; eine Abrechnung mit dem Mann – ein Wegweiser in die Zukunft! – Berlin : Magazin-Verl., S. 3 – 11)