Frauenbefreiung

Lida Gustava Heymann, 1932

Frauenbewegung! Wie fern das klingt; es war einmal. Weltkrieg trat dazwischen, wer den und was folgte, mit allen Sinnen erlebte, glaubt Jahrtausende menschlichen Wahnsinns durchrast zu haben. Was vorher unser Sein ausmachte, rückte in weite, weite Ferne. – Und dann? – Vielerorts erfüllte sich nach dem Weltkriege in vollem Umfange, wofür Frauenbewegung den Weg bereitet hatte. Frauen wurden politisch und wirtschaftlich gleichberechtigt, die wichtigste Etappe auf dem Wege zum Ziel war genommen. Und heute? Zwei Argumente sind es, mit denen Frauenbewegung sich jetzt auseinanderzusetzen hat:

Viele Männer und auch Frauen erklären, Frauen haben keineswegs gehalten, was Frauenbewegung von ihnen weissagte.

Frauen rufen bestürzt: Helft, die Errungenschaften der Frauenbewegung sind in Gefahr!

Zul.: Was Frauen, als sie die politische Gleichberechtigung erwarben, in der Welt und den einzelnen Ländern vorfanden, glich einem Tollhaus. Nachdem in den letzten Kriegsjahren der ganze Gemeinde- und Wirtschaftsbetrieb auf die Schultern der Frauen geladen, von ihnen in bewundernswürdiger Weise aufrechterhalten war, brachte der militärische Zusammenbruch ein Chaos ohnegleichen mit sich. Geistig war die Atmosphäre durchseucht von Miasmen, die der Weltkrieg erzeugt hatte; von Geistigkeit und Vernunft keine Spur mehr, nicht der Verstand, die Faust, brutaler Egoismus herrschten auf allen Gebieten; da fehlte jeder Raum, jede Möglichkeit, daß freies Frauentum sich voll auswirken konnte. Hinzu kamen die wirtschaftlichen und finanziellen Kriegsfolgen, die Arbeitslosigkeit setzte ein, die Entwicklung gestaltete sich katastrophal. Nur lächerlicher Stumpfsinn kann annehmen, daß Frauen in 13 Jahren solche Männerstaaten national und international aus ihrer verkrampften Zerfahrenheit hätten erlösen können. Zumal eine Handvoll in die Parlamente gewählter Frauen inmitten einer übermächtigen Majorität in ihren Parteidoktrinen erstarrter Männer, im übrigen ohne allen Einfluß auf Exekutive, Verwaltung und Initiative. Wo alle Vorbedingungen fehlen, ist durchgreifender, für jedermann sichtbarer, in die Augen springender Erfolg nicht denkbar. Man mache sich doch klar, um was es ging. Die Masse der Frauen, durch Jahrtausende im Männerstaat nach Zweck und Willen der Männer gezüchtet, soll, durch Gesetzparagraphen äußerlich befreit, in einer kurzen Zeitspanne von 13 Jahren nicht nur zu ihrem eigenen Ich zurückfinden, sondern sie soll das Zusammenleben, der aus dem Gleichgewicht geschleuderten Menschheit auch noch fruchtbringend neu gestalten? Auch Frauen folgen den Naturgesetzen langsamer Anpassungen und Wandlungen. Was Frauen, wo es ihnen möglich war, in diesen 13 Jahren wirkten, wieviel weiteres Unheil sie verhinderten, darüber zu urteilen, bleibt der Geschichte vorbehalten. Wir, die wir mitten drin im politischen Leben stehen, alle Geschehnisse genau verfolgen, wir wissen, daß alle Voraussagungen der Frauenbewegung sich bis zum letzten Tipfelchen auf dem i erfüllen werden. Wir sind auf dem besten Wege dahin. Die Zahl der weiblichen Menschen, die durch ihre Persönlichkeit oder durch ihre Leistungen – wir nennen nur wenige Namen der letzteren: Käte Kollwitz, Selma Lagerlöf, Ricarda Huch, Jane Addams, Josephine Butler, Olive Schreiner, Madame Curie u. v. a. – die Menschheit fördernd beeinflussen, sind lebendiger Beweis, was Frauen ihrer inneren Veranlagung folgend, der Welt zu geben haben, Erkenntnisse, wie sie von Frauen und Männern in Werken wie „Mütter und Amazonen“ von Sir Galahad (siehe Heft 6 S. 11) „Erkenntnisgeist und Muttergeist“ von Ernst Bergmann (siehe Heft 8 S. 12) „Vom Aufgang und Niedergang des männlichen Zeitalters“ von Ottfried Eberz (siehe Heft 2 S. 5 und 12) und den bekannten Büchern von Dr. Vaerting niedergelegt sind, unterstreichen, was die Frauenbewegung von jeher vertrat, nämlich: Daß aller Aufbau, alles Ewige vom weiblichen Agens zu leisten ist und daß das männliche, als Masse betrachtet, fast nur Besitzergreifung, Gewalt und Analyse erstrebt und wirkt.

Zielsicher schreitet die Frauenbewegung vorwärts, von Versagen keine Spur.

Zu 2.: Warum dann die Kassandrarufe: Helft, die Errungenschaften der Frauenbewegung sind in Gefahr!?

Man lasse sich durch Übergangssymptome nicht täuschen. In Zeiten großer Wandlungen durch brutale Gewalt, unter Diktatur und Faschismus werden nicht nur die Rechte der Frauen, sondern auch die der Männer mit Füßen getreten. Gewiß, was wir heute in Deutschland erleben, daß man verfassungsmäßig festgelegte Rechte der Frauen einfach annulliert, und zwar mit deren eigener Hilfe, weil ein Druck von oben oder von der Partei auf die Frauen ausgeübt wurde, ist Verrat am Fortschritt und an unserer Sache. Aber Frauen, die da mittaten, sind keine Vertreterinnen der Frauenbewegung, deren Wesenskern sie nicht begriffen; die kleinen Maßregeln, zu denen sie die Hand boten, sind Eintagserscheinungen, über welche die Zeit hinwegschreitet. Blickt auf Rußland und erkennt, wie die Gesellschaft Frauen einschätzt, wirken läßt und was sie schaffen!

Daß man allerorts die Frauen unter dem lächerlichen Ruf: „Die Frau gehört ins Haus“ wieder aus den Berufen drängen, daß man sie in den Hörsälen der Universität nicht mehr dulden will, u. dgl. hängt alles mit der wirtschaftlichen Not, mit den Folgen des Weltkrieges zusammen – „erst kommt das Fressen und dann die Moral“. Diktaturen sind niemals von langer Dauer, der wirtschaftlichen Not folgen wieder Zeiten des wirtschaftlichen Aufstieges.

Und die Hitlerei? Die erklärt neuerdings: „Alle Berufe sollen den Frauen offen stehen, ausgenommen die des Soldaten, des Staatslenkers, des Politikers.“ Ein heldisches, männliches Trio! Dieses Trio ist verantwortlicher Erzeuger der heutigen herrlichen Zustände in der Welt. Das besagt alles, zeigt die Hitlerei in ihrer ganzen Beschränktheit. Das Soldatentum bleibe Reservat des Mannes, bis auch er bei gewonnener höherer Kultur es verschmäht. Aber wohl nirgends bedarf es der Mitarbeit der Frauen dringender, als auf dem Gebiet der Staatsaufgaben: der Außen- und der Innenpolitik. Jedoch, es hat keine Gefahr! Die Hitlerei vergeht, indes Frauenbewegung, die heute die ganze Welt umspannt, bestehen bleibt, wächst und vorwärtsschreitet.

Und nun zur Jugend. Auch sie, jedenfalls ein Teil derselben, fürchtet, daß die Errungenschaften der Frauenbewegung in Gefahr sind. Im Juni hielt der Frauenverband Hessen-Nassau und Waldeck in Frankfurt am Main eine Tagung mit dem schwülstigen Hauptthema „Das Generationenschicksal“; dazu sprachen Dr. Gertrud Bäumer und stud. jur. Doris Polligkeit. Helli Knoll kritisiert den Verlauf dieser Tagung in dem Beiblatt der Frankfurter Nachrichten: „Aus dem Reich der Frau“ vom 17. Juli d. J. Ihre Kritik ist scharf und gerecht, geht aber von völlig falschen Voraussetzungen aus.

Sie stellt die Frage, warum alle Bemühungen des Bundes Deutscher Frauenvereine, die Jugend für die Frauenbewegung zu gewinnen, vergeblich bleiben müssen und antwortet darauf:

„Weil es der Deutschen Frauenbewegung an jeglicher Aktivität mangelt!

Weil die deutsche Frauenbewegung in eine Erstarrung geraten ist!

Weil sie sich zu sehr in theoretische Erörterungen verstrickt hat!

Weil sie keinen kämpferischen Geist und keinen Mut besitzt!

Weil sie sich nicht frei halten konnte von den modischen Zeitströmungen in der Beurteilung der Frau!

Weil sie das höchste Gut einer geistigen Bewegung verloren hat: den Individualismus!

Und zuletzt das Wichtigste: Weil sie nicht mehr die alten Ideale und Ziele der Frauenbewegung verfolgt!“

Was ist darauf zu erwidern?: Schon vor mehr als 40 Jahren erkannten junge Frauen, um was es bei der Frauenbefreiung tatsächlich geht, sie erkannten, daß die Arbeiten des Bundes deutscher Frauenvereine nichts mit Frauenbewegung zu tun hatten. Dieser Bund erblickte von jeher seine Aufgabe darin, den Frauen soziale Betätigung zu sichern, sie beruflich zu schulen. Wir verkennen nicht den praktischen Nutzen solchen Vorgehens, aber mit der inneren Befreiung der Frau, wie wir sie auffassen, hat das nur ganz indirekt zu tun. Damals wie heute fehlte es dem Bund deutscher Frauenvereine an äußerer Aktivität, damals wie heute war der Bund in Erstarrung geraten, damals wie heute verstrickte er sich in theoretische, geisttötende Erörterungen, damals wie heute besaß er weder kämpferischen Geist, noch Mut, noch Initiative, noch wahre Begeisterung, die wärmt und fortreißt. Die Ziele der Frauenbewegung hatten Luise Otto Peters, Malwida von Meysenbug, Fanny Lewald voll erkannt, aber der Bund deutscher Frauenvereine erkannte sie nie und lehnte sie ab.

Vor vierzig Jahren fanden sich in Deutschland Frauen, alt und jung zusammen, die sich innerlich berufen fühlten, für die Befreiung des weiblichen Geschlechts zu kämpfen. Sie waren es, die in wenigen Jahren ganz Deutschland aufhorchen ließen, sie schoben Frauenbewegung vorwärts. Mag das heute durch dickleibige Bände, voll theoretischer Betrachtungen und Statistiken bestritten werden, oder nicht, wir, die wir die Zeit mitgestalteten, mitarbeiteten, wir wissen es besser. Heute ist in Deutschland gesetz- und verfassungsgemäß erreicht, was radikale Frauen damals erstrebten, die Gleichberechtigung der Geschlechter, jetzt gilt es, Frauen aller Kreise innerlich zu sich selbst zurückzuführen, zu ihrem eignen Ich, verkümmert durch jahrtausendlange Sklaverei.

Der Kampf der radikalen Frauen für die Befreiung des weiblichen Geschlechts war herrlich; voller Initiative, Begeisterung, geistiger Kraft, voller Wärme und Menschlichkeit: offen die Bahn für das Mädchen, frei im Staate die Frau! Nichts von öder Vorsicht, von Furcht anzustoßen, alles Leben, Leben. Daß andere, die Fortschritte, die solches Vorgehen zeitigen mußte, heute für sich und ihre Lauheit buchen, das schmälert die Köstlichkeit des Kampfes um nichts. Gelegentlich entschlüpft jenen doch das Bekenntnis, daß den Frauen die größten Errungenschaften ohne Kampf (d.h. von ihrer Seite) in den Schoß gefallen seien.

Schon vor vierzig Jahren gab es bei uns kein Philosophieren über typisch männliche und weibliche Berufe. Geschlecht kam für die Ausübung eines Berufes überhaupt nicht in Betracht. Wer sich berufen fühlt, ist eben berufen, daran können Paragraphen nichts ändern und ein Mensch, der wie stud. jur. Polligkeit erklärt hätte: „die Frau hätte im Berufsleben vor dem Manne zurückzutreten,“ wäre damals in einer Versammlung schön abgetrumpft worden. Wir forderten, wie heute die „Open Door Internationale“, gleiches Recht für alle auf allen Gebieten, als grundlegende Voraussetzung für die Befreiung des weiblichen Geschlechtes.

Aber wozu sich in schöne Vergangenheit verlieren, bleiben wir in der Gegenwart, schauen wir in die Zukunft. Was haben wir der Jugend von heute zu sagen, d. h., wenn sie uns überhaupt fragt. Andere Zeiten, andere Sitten, jede Generation muß sich selbst die Wege bahnen, die zum Ziele ihrer Wünsche führen. Wer sich zum Kampf für die innere Befreiung der Frau berufen fühlt, der bedarf keinerlei Anstoß von außen, der wartet nicht auf den Geist anderer, auf Pioniere und Führerinnen, der paktiert nicht mit alten, völlig überlebten, verkalkten Organisationen, der beteiligt sich nicht an doktrinären Diskussionen über Generationenschicksal. Der fühlt sich selbst, nur sich, verantwortlich für das, was ist und was fehlt, der sprengt kraftvoll die Ketten, wo immer er sie fühlt und sieht, der packt das Schicksal bei den Hörnern.

Jeder verankere in sich seine ganze Kraft, sein ganzes Können, meistere das Schicksal, soweit das möglich ist, selbst. Radikale Frauenbewegung von damals erdreistete sich kühn, zu versuchen, der Welt ihren Willen aufzuzwingen und wundert sich schon lange über die heutige Jugend, die sich gelassen neue Schlingen überwerfen läßt.

Jugend heraus, die heute das Gleiche erstrebt! Wartet nicht auf Hilfe von gestern und übermorgen!

Möge die junge Generation, die glaubt, daß Errungenschaften der Frauenbewegung in Gefahr sind, auf sich selbst trauend, vorwärtsstürmen, die Masse der Frauen mit sich reißen, den Männern zeigen, daß Frauen sich nicht mehr treten lassen, daß sie den heiligen Willen hat, ihrer inneren Veranlagung gemäß, ihren Neigungen und ihren Fähigkeiten entsprechend zu leben und zu arbeiten, um so an einer besseren Welt gestaltend mitzuwirken. Die Stunde fordert’s, Eure Zeit ist da!

(Quelle: Heymann, Lida Gustava (1932): Frauenbefreiung. – In: Die Frau im Staat : eine Monatsschrift, Nr. 9/10, S. 5 – 7)

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