Nachkriegspsychose

Lida Gustava Heymann, 1931

Leser der Fr. i. St. werden schon häufig gefragt haben, warum der Nationalsozialismus = Hitlerbewegung, in diesen Spalten nicht mehr in das Reich der Erörterung gezogen wurde. Die klipp und klare Antwort auf diese Frage lautet: Weil ungeistige Gewaltbewegungen und alles, was damit in Verbindung steht, von denkenden Frauen und Politikern nicht ernst genommen zu werden verdienen.

Spätere Geschichtsschreiber werden es schwerlich verstehen können, wie es im Lande der Dichter und Denker möglich war, daß eine Bewegung, wie die der Nationalsozialisten, die nur auf Brutalität und Schlagwörter eingestellt ist, jeder Geistigkeit entbehrt, keine Ahnung hat von den wirtschaftlichen und von den Zusammenhängen des Weltorganismus überhaupt, eine so große Anhängerschaft gewinnen konnte.

Weltkriegsverzweiflung, völlige wirtschaftliche Depression bei Alt und Jung, Arbeitslosigkeit, Versagen aller politischen Parteien, ungeistige auf Chauvinismus und Materialismus eingestellte Erziehung in den Schulen, hat den Sinn der Menschen völlig umnebelt. Sie sind wirklich nicht mehr verantwortlich für ihr Tun; selbst Frauen hat gleicher Taumel erfaßt. Wer sich darüber empört, vergesse nicht, daß es eine Grenze für die Spannkraft jeder Vernunft gibt, daß Frauen den gleichen Gesetzen unterworfen sind, wie die Männer.

Solche krampfhaften Nachkriegspsychosen wie die Hitler-Bewegung, toben sich am schnellsten aus, wenn sie totgeschwiegen werden. Statt dessen aber erlebten wir in Deutschland, daß die jeweiligen Regierungen und andere maßstebende Kreise in unbegreiflicher Kurzsichtigkeit diese Bewegung anfangs tatkräftig unterstützten und förderten. Die Geister, die ich rief, die werde ich nun nicht los. Internationale und nationale Politiker, sowie internationale und nationale Presse maßen dieser ungefügen Gewaltbewegung eine Wichtigkeit bei, die jeder Grundlage entbehrte, nur dadurch war es möglich, daß der Nationalsozialismus solchen Umfang, solche Bedeutung in Deutschland erreichen konnte, wie er heute hat. Jetzt hilft keine Reserve, kein Totschweigen, kein Übergehen mehr. Jetzt heißt es sich mit ihm kritisch auseinandersetzen und das ist besonders für uns Frauen von größter Wichtigkeit, denn im Dritten Reich werden Frauen wieder wie zu Wilhelms Zeiten auf die drei K’s: Kinder, Küche, Kirche verwiesen, zu Gebärmaschinen und zur Dienstmagd des Mannes erniedrigt. Der Nationalsozialismus kennt keinen Ehebruch des verheirateten Mannes, sobald das außereheliche Verhältnis ein Kind zur Folge hat. (Mythos des 20. Jahrhunderts, Rosenberg.)

Politische Rechte werden den Frauen aberkannt. Unter den 107 Abgeordneten des Reichstages befindet sich keine Frau, was seitens der Nazis mit besonderer Genugtuung konstatiert wurde. Als der Abgeordnete Leicht eine Rede begann: „Meine Damen und Herren“ und sich zu den Nazi’s wendend sagte, „ach. Sie haben ja keine Frauen“, erscholl es von dort zurück, „Nein, Gott sei Dank.“

Was wir Frauen von diesen Männern zu erwarten haben, dafür erhalten wir ein schlagendes Beispiel durch Manfred von Killinger in seinem Buche „Ernstes und Heiteres“. Er schildert wie Nationalsozialisten eine gefangene Arbeiterin behandeln: „Zwei Mann packen sie, sie will beißen, eine Maulschelle bringt sie zur Raison. Im Hofe wird sie über die Wagendeichsel gelegt und so lange mit der Fahrerpeitsche bearbeitet, bis kein weißer Fleck mehr auf ihrer Rückseite war. Die spuckt keinen Brigadier mehr an. Jetzt wird sie erst einmal drei Wochen auf dem Bauche liegen, sagt der Feldwebel Hermann.“ Hier offenbart sich unverhüllt eine Gesinnung, wie sie erbärmlicher nicht auszudenken ist, es gibt keine Worte, die solches Vorgehen gebührend kennzeichnen. Zwei Männer gegen eine hilflose Arbeiterin! Namenloser Ekel, tiefste Verachtung ist alles, was man für solche feigen Schurken aufbringen kann.

In Frankfurt a. M. schlug ein Nationalsozialist im Stadtrat zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor, alle Kranken und Schwachen zu vernichten. Als das allgemeine Entsetzen auf diese maßlose Roheit, als die Erstarrung sich löste wurde er ersucht, nähere Angaben zu machen und erklärte: „Wie das zu geschehen hat, das werden wir euch im Dritten Reich zeigen.“ Die Überheblichkeit des Mannes tritt bei den Nationalsozialisten überall zutage. Das deutsche Mädchen, die Staatsangehörige ist – das deutsche Volk zerfällt im Dritten Reich in zwei Klassen, Staatsangehörige und Staatsbürger – wird mit ihrer Verheiratung Bürgerin. Alle Staatsbürger müssen gleiche Rechte und Pflichten besitzen. Daß das nicht für die Frauen gilt, dafür spricht die Haltung der Partei, das sehen wir in bezug auf Ehebruch.

Versucht man nun die Nationalsozialisten in sachlicher Weise darauf aufmerksam zu machen, daß sie durch ihr unerhörtes Benehmen Deutschland um den Kredit im Auslande bringen, so erklären sie: Kredit? Warten Sie mir ab, sind wir erst am Ruder, dann werden wir uns schon Kredit zu verschaffen wissen. Aber so dumm, zurückzuzahlen, werden wir nicht sein. Das Trostlose ist, daß nicht nur einzelne in der Partei, sondern daß die Mehrheit von solcher korrupten Gesinnung und Gewaltpolitik durchseucht ist.

Das rüpelhafte Verhalten der 107 Abgeordneten im Reichstage, das Vorgehen der Nationalsozialisten beim Remarque-Film, ihre Stellung zur Rassenfrage, die jeder Rechtfertigung und geschichtlichen Kenntnis entbehrt, die andauernden Schlägereien der Nazi-Jünger mit Andersdenkenden, ihre Mordtaten, das Hetzen und Lügen in der Presse und tausend andere Dinge mehr, öffnen den Wählern vom September 1930 allmählich die Augen. Aber soll die Gefahr gebannt werden, bleibt noch unendlich viel zu tun übrig. Denn die Geldquellen der Nationalsozialisten scheinen vorläufig noch unerschöpflich. Wer heute aber über Geld, Ämter und Pöstchen verfügt, dem laufen die Urteilslosen und Dummen und vor allen Dingen die aus Not und Elend Verzweifeltet nach, wie dem Rattenfänger von Hameln.

Es gilt die wirtschaftlichen Zustände zu bessern, es gilt den Arbeitslosen Arbeit zu geben, es gilt Aufklärung zu schaffen. Jeder, der das tun will, muß aber selber orientiert sein, d. h. er muß das Programm der Nationalsozialisten kennen, das, wie man sich leicht überzeugen kann, nicht einmal ihren Wählern bekannt ist. Dieses Programm enthält auf 64 Seiten einige vernünftige und viele völlig unmögliche Forderungen. Um alle Kreise vom Kapitalisten bis zum Arbeitslosen zu gewinnen, werden Versprechungen gemacht, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit für jeden Urteilsfähigen ausschließen. Dem Programm fehlt es an Sachkenntnis und geschichtlicher Einfühlung, mit maßloser Überheblichkeit und Brutalität erklärt man, alle Schwierigkeiten der heutigen Lage meistern zu können. Im Programm – von dem Hitler sagt, das Programm liegt fest und niemals dulde ich, daß an den programmatischen Grundlagen der Gesamtbewegung gerüttelt wird – heißt es: Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen die bewußte politische Lüge und ihre Verbreitung in der Presse. Und was tut die gesamte nationalsozialistische Presse? Man lese den Völkischen Beobachter; bewußte politische Lügen auf jeder Spalte. Und was sagt Hitler in „Mein Kampf‘, 2. Bd., S. 121. „Laß Dich nie in Diskussion ein; das ganze System könnte dabei ins Wanken kommen. Und sei nicht kleinlich in bezug auf Wahrhaftigkeit. Eine kleine Lüge zur rechten Zeit, kann von ungeheurem Vorteil sein.“

Aber genug der Einzelheiten. Wem es ernst ist um die Bekämpfung der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland, der orientiere sich genau und unterlasse dann nicht, weiteste Aufklärung unter Frauen und Männern zu verbreiten über das hohle Phrasengedresch der Nationalsozialisten.

Der Nationalsozialismus hat heute seine stärkste Stütze auf dem Lande und in den Schulen. Wir wollen seine Gefahr weder über-, noch unterschätzen, wir wollen aber auch nicht vergessen, daß die Geschichte uns zeigt, daß nach großen Katastrophen, wie der Weltkrieg eine war, die Masse das Gleichgewicht verlor, daß nicht Einsicht, sondern Wahnsinn die Oberhand gewann. Mit Ruhe, Ausdauer, Sachlichkeit und tatkräftiger Energie, muß der Spuk des Nationalsozialismus in Deutschland überwunden werden.

Deutsches Volk! setze deine Ehre drein, daß er bis zum Goethetag 1932 geschwunden ist.

(Quelle: Heymann, Lida Gustava (1931): Nachkriegspsychose. – In: Die Frau im Staat : eine Monatschrift, Nr. 3, S. 1 – 2)

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