Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit 1915-1924

Lida Gustava Heymann, 1924

Amsterdam, Januar 1915. Haag, Mai 1915. Zürich, Mai 1919. Wien, Juni 1921. Haag, Dez. 1922. Dies sind die Tagungen der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit seit ihrer Gründung. In diesen Städten trafen sich die Mitglieder der Frauenliga, die dem Weltkrieg trotzten. Wer diese Tagungen mitmachen konnte, weiß, daß sie vielen von uns zu tiefem Erlebnis wurden.

In Kongreßberichten liegen die auf unsern Konferenzen und Kongressen gefaßten Resolutionen gedruckt vor. Sie zeigen, daß wir Frauen die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungserscheinungen moderner Zivilisationsstaaten in Betracht ziehen und daß wir wohl wissen, daß wir uns mit ihnen auseinandersetzen müssen, um einen Weltfrieden zu sichern. Die praktische Arbeit unserer nationalen Sektionen, Kommissionen und Sommerschulen ist aus den Jahresberichten und den in Genf erscheinenden Bulletins ersichtlich. Ich habe nicht die Absicht zu wiederholen, was bereits gedruckt ist, betrachte es vielmehr als meine Aufgabe, Ihnen den Geist nahe zu bringen, der seit Beginn die treibende Kraft in der Frauenliga war. Nicht die Arbeit an sich ist das Wesentliche, sondern der Geist, in dem diese Arbeit geschah; dieser Geist ist es auch, der unsere Liga von allen anderen internationalen Organisationen unterscheidet, er ist meiner Überzeugung nach das Agens, welches allein imstande ist, die Völker der Erde zu einem gesunden, alle Teile befriedigenden Zusammenleben zu führen.

Die Behauptung, alles sei in der Geschichte der Völker schon einmal dagewesen, wird durch die Existenz unserer Internationalen Frauenliga widerlegt. Noch nie, solange die Erde steht, haben Frauen von verschiedenen Völkern sich zusammengeschlossen, während die Männer auf den Schlachtfeldern in der schauerlichsten und noch nie dagewesenen Weise sich zerfleischten. Während Städte in Flammen aufgingen, Frauen vergewaltigt wurden, Kunstschätze, industrielle und wirtschaftliche Werte, hundertjähriger Waldbestand, ländliches Kulturland zerstört wurden, während Völkerhaß die Nationen, Länder- und Geldgier die Herrschenden erfüllte, die Welt aus dem Gleichgewicht schleuderte, während die Grenzen der Meere und Länder der strengsten militärischen Überwachung unterlagen, fanden Frauen verschiedener Länder die Kraft, sich in treuer Kameradschaft in gegenseitigem Verstehen, über Regierungen, Völker, Sitten, Gebräuche, Traditionen und Vorschriften hinweg die Hände zu reichen, um dem größten Verbrechen, das die Menschheit jemals beging, dem Weltkriege zu trotzen und zu versuchen, die Regierungen zu zwingen, dem unendlichen Greuel, der sinnlosen Zerstörung ein Ende zu bereiten. Dieses Vorgehen bedeutet ein neues Kapitel in der Geschichte der internationalen Frauenarbeit. Daß ein sofortiger Erfolg ausblieb, macht die Tat um nichts geringer, sondern ist nur ein Beweis für die Kurzsichtigkeit der Herrscher und Völker.

Viele fragen heute, wie war dieses Vorgehen der Frauen während des Weltkrieges überhaupt möglich? Es war möglich, weil es in den verschiedenen Ländern – trotz Erziehung, Gewöhnung; und sonstiger moderner, vielgepriesener Errungenschaften – Frauen gab, die sich selbst, d.h. ihrer weiblichen Individualität treu geblieben waren, die sich ihre schöpferische Intuition, ihren gesunden Instinkt bewahrt hatten. Die nicht die politische Gleichberechtigung für die Frauen forderten, um es den Männern gleich zu tun, sondern die gewillt waren, ihre weibliche Eigenart als Gegengewicht der männlichen dem Staate nutzbar zu machen. Diese Frauen waren sich der Pflichten nicht nur gegen ihre eigene Nation, sondern gegen die Menschheit bewußt und deshalb fanden sie die Kraft, einer Welt in Waffen furchtlos zu trotzen. Aber nicht nur die Frauen der kriegführenden Länder taten es, sondern auch die der neutralen, deren Regierungen alle ohne Ausnahme während des Weltkrieges versagten, teils aus Furcht Vorteile zu verlieren, teils aus falscher Achtung: vor der militärischen Macht der Koloßstaaten. So erlebten wir, daß, während die Regierungen der neutralen Länder sich zu keiner aufrechten, entschiedenen Stellungnahme während des Weltkrieges aufraffen konnten, Frauen dieser Länder ihren Schwestern aus den kriegführenden Ländern Gastfreundschaft gewährten und mit ihnen die Beendigung des Krieges forderten.

Bei unserer Gründung 1915 trugen wir den Namen: Internationaler Frauenausschuß für einen dauernden Frieden; 1919 in Zürich änderten wir ihn und nannten uns Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit. Dauernder Friede ist nur durch Freiheit zu gewährleisten und mir will es scheinen, daß nur Persönlichkeiten, die sich innerlich frei fühlen, mit Erfolg für unsere Sache arbeiten können. Unser Name allein bedeutet ein Programm.

Es ist mir keine internationale Organisation bekannt, die eine so freie, einfache Verfassung hat, wie die der Internationalen Frauenliga, sie besteht aus wenigen Artikeln. Wir arbeiten nun neun Jahre mit dieser Verfassung, sie hat sich vorzüglich bewährt Warum? Weil sie keinerlei Bindung gibt, weil die Menschen, die sich in sie einzufügen hatten, von der Wahrheit durchdrungen waren, daß Freiheit nicht Zügellosigkeit bedeutet, sondern erhöhte Verantwortlichkeit. Die Freiheit wurde nicht dazu mißbraucht, um einzelne Sektionen oder Personen zu unterdrücken, um anderen Vorteile zu verschaffen, wie das im Zusammenleben der Völker und in internationalen Organisationen an der Tagesordnung ist.

Ich gebe weitere Beispiele für die Gesinnung, welche in unseren Reihen von jeher geherrscht hat. In einer Zeit, wo die ganze Welt gegen Deutschland stand, wählte man in unserer Liga eine deutsche Frau zur Vizepräsidentin. Seit 1921 gehören unserem Vorstande, der 10 Personen umfaßt, zwei deutsche und eine österreichische Frau an. Was das bedeutet, wird jedem klar, wenn er bedenkt, daß es heute noch internationale Organisationen gibt, in denen Deutsche nicht zugelassen werden. Das war in unserer Liga möglich, weil die Mitglieder sich nicht nur als Vertreter ihrer eignen Nation fühlten, sondern weil sie sich bei jeder Handlung bewußt waren, daß sie die Interessen der Völker der gesamten Welt zu wahren hatten. Ein solches Verantwortlichkeitsgefühl fordert in erster Linie ohne jede Rücksichtnahme auf die eigene Regierung eine streng objektive Kritik über alles, was den internationalen Frieden gefährden könnte.

Die deutschen Mitglieder der Liga haben von jeher den preußisch-militaristischen und imperialistischen Geist auf das Schärfste verurteilt, sie haben den Einfall in Belgien beim Kriegsausbruch nicht gebilligt, sie haben versucht, dies mit den ihnen damals zu Gebote stehenden Mitteln der Welt bekanntzugeben. Als deutsche Frauen 1915 in Amsterdam und im Haag waren, fühlten sie die schwere Schuld, die Deutschland Belgien gegenüber zu sühnen hatte. Weil sie so fühlten, war es möglich, daß belgische und französische Frauen mit ihnen arbeiten konnten und Verständnis zwischen ihnen gesichert war.

Englische, französische und amerikanische Frauen haben 1919 in Zürich mit aller Schärfe ohne Rücksicht auf nationale Voreingenommenheit den damals eben veröffentlichten Friedensvertrag von Versailles kritisiert. Delegationen wurden zu den Entente-Regierungen in Paris entsandt und drangen auf Abänderung. Ohne Rücksicht auf das Urteil von Regierungen und Presse, hat die Internationale Frauenliga diese ihre Forderung aufrecht erhalten und im Dezember 1922 auf ihrer Konferenz im Haag erneut zum Ausdruck gebracht, indem sie „Einen Neuen Frieden“ forderte. Es geschah dies nicht etwa, um für diese oder jene Nation Vorteile zu erringen, sondern aus der Überzeugung, daß der in Versailles beschlossene Friedensvertrag kein Friedensvertrag ist, weil seine Bestimmungen keinen Frieden schaffen, sondern lediglich neue Kriege vorbereiten. Die Verhandlungen im Haag beruhten auf der Erkenntnis, daß der Weltkrieg und alles, was vor und nachher geschah, offenbarte, daß das Zusammenleben der Staaten auf falscher Grundlage beruht. Vergewaltigung, Haß, Habgier und brutaler Egoismus sind zersetzende Kräfte, die letzten Endes zu Kriegen, Hungerrevolten, Revolutionen führen. Sie schaffen auf der einen Seite Wohlleben, Reichtum und Überfluß, auf der anderen Armut und Elend. Hätten wir 1915 und 1919 Regierungen und Völker gefunden, die von der Frauenliga im Haag und Zurich gestellten Forderungen zu erfüllen, dann wäre, wir können das ohne jede Überhebung sagen, aufbauende Arbeit geleistet worden und die Welt wäre heute in ihrer Entwicklung, das Zusammenleben der Völker auf gegenseitiger Verständigung zu regeln, um ein gut Stück weiter und glücklicher und zufriedener.

Wir haben während der 9 Jahre in unserer Liga nicht nur Forderungen aufgestellt und theorisiert, sondern wir haben, – und das ist der springende Punkt, – unser eigenes Zusammenleben in Einklang mit unseren Theorien gebracht, wir haben unseren Ideen nachgelebt, sie in Taten umgesetzt. Wir haben in gemeinsamer Arbeit während dieser schweren, trostlosen Jahre manchen Konflikt gelöst. In unseren Reihen waren Frauen der verschiedensten Weltanschauungen, aber ohne Majorisierung wurde immer ein gangbarer Weg gefunden, der zu gegenseitigem Verständnis und Einvernehmen führte. Die Fähigkeiten unserer Mitarbeiter wurden im Interesse der gemeinsamen Sache verwertet und jeder war bereit, seine persönlichen Wünsche der Sache unterzuordnen. In anderen Organisationen wird man Mitglied, zahlt seinen Beitrag und arbeitet mit, oder auch nicht. Dies genügt bei uns nicht. Wir haben unseren inneren Menschen zu wandeln, wir haben jeder Gewalt zu entsagen, wir haben uns frei zu machen, wir müssen allen unseren Mitarbeitern Freiheit gewähren. Nur innere und äußere Freiheit führt zum Frieden und wo dieser gestört ist, da ist irgend etwas mit der Freiheit nicht in Ordnung. 14 Nationen waren im Haag 1915 vertreten, jetzt stehen wir mit 39 Nationen in Verbindung. Unser Kreis hat sich erweitert wir können heute sagen, in unserm Reich geht die Sonne nicht unter. Das ist ein herrliches Gefühl. Diese Weltweite erhöht aber die Verantwortung, es wächst die Gefahr, daß der alte schöne Geist, geboren in einer Zeit tiefster Not, vielleicht nicht mehr von allen empfunden und ihm noch weniger nachgelebt wird. Die Jahre gehen dahin, der Weltkrieg ist vorbei, neue Zeiten steigen herauf und stellen neue Bedingungen, fordern neue Arbeit und vielleicht auch neue Grundsätze. Geschichte ist ständige Entwicklung; Zeit muß uns bereit finden. Wir können unser Ziel nur erreichen, wenn wir Frauen auch heute fest zusammenstehen, alle uns entgegenstehenden Hemmungen, mit gleicher Kraft, Überzeugung, Ausdauer innerer Unabhängigkeit und Freiheit wie im Jahre 1915 bekämpfen. Frauen bleibt Euch selber treu! Glaubt weder den Regierungen, noch der Presse, wenn sie Euch belügen, noch den Gesetzen, wenn sie schlecht sind. Verachtet jede Gewalttat, verlaßt Euch nur auf Euer eigenes Gefühl, es weist Euch den richtigen Weg. Macht Euch innerlich frei und gebt Euren Mitmenschen Freiheit, dann erwächst gegenseitige Verständigung und gegenseitiges Vertrauen von selbst und unsere Sache muß siegen. Unser Name – Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit – sei auch in Zukunft unser Programm.

(Quelle: Heymann, Lida Gustava (1924): Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit 1915-1924. – In: Die Frau im Staat : eine Monatsschrift, Nr. 4/5, S. 1 – 3)

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