(1826–1899)
„Wir möchten Bürgerinnen sein und die politischen Aufgaben teilen mit den Bürgern – unsern Brüdern!“
Die Schweizer Frauenrechtlerin und Publizistin gilt als Gründerin der Schweizer Frauenbewegung. Inspiriert von der englischen Frauenbewegung, die sie bei einem Aufenthalt in London kennen lernte, rief sie in Genf die ‚Association Internationale des Femmes’ ins Leben. In deren Nachfolgeorganisation, der ‚Assoziation für die Verteidigung der Rechte der Frauen’, waren Kampfgefährtinnen aus vielen Ländern organisiert, darunter die bekannte englische Abolitionistin Josephine Butler, die amerikanische Frauenrechtlerin Elisabeth Cady Stanton oder die deutsche Herausgeberin der Frauen-Zeitung, Louise Otto-Peters. Mit ihrer Assoziation erreichte Goegg die Zulassung von Frauen an die Genfer Universität und die Aufhebung des Gesetzes, das ledige und verwitwete Frauen in mehreren Kantonen unter Vormundschaft stellte. Auch das Stimmrecht für Frauen gehörte zu den Forderungen des Verbandes – ein Recht, auf das die Schweizerinnen noch ein ganzes Jahrhundert lang warten sollten.
Marie Goegg wird am 24. Mai 1826 als Jeanne-Marie Pouchoulin in Genf geboren. Sie ist das einzige Kind ihrer Mutter Andrienne Pautex und ihres Vaters Jean, der Uhrmacher ist. Mit 19 heiratet sie den Handelsreisenden Marc Antoine Mercier, bricht allerdings schon bald wieder aus der Ehe aus: Mercier, der bei seiner verwitweten Mutter lebt, ist ständig auf Reisen und hat die junge Marie offenbar aus pragmatischen Gründen ins Haus geholt, damit die ihre Schwiegermutter versorgt. In den Scheidungspapieren heißt es, Mercier habe sich „grob“ gegen seine Frau benommen. Marie zieht, zusammen mit ihrem Sohn, zurück ins Haus ihrer Eltern.
Diese haben inzwischen einige Zimmer an deutsche Flüchtlinge der 1848er Revolution vermietet. So nimmt die Tochter im Hause Pouchoulin teil an Diskussionen über Demokratie und Liberalismus, über Frieden und Freiheit. Das politische Interesse der 23-Jährigen erwacht. Einer dieser Flüchtlinge ist Amand Goegg. Marie verliebt sich in ihn. Als Goegg 1851 auch aus der Schweiz ausgewiesen wird, folgt die schwangere Marie ihm nach London und kommt dort in Kontakt mit der englischen Frauenbewegung, die hier schon in vollem Gange ist. Sie wird ihre Erfahrungen später in ihrer Erzählung ‚Deux poids et deux mesures’ (Zweierlei Maß und Gewicht) verarbeiten.
Schließlich kehren Marie und Amand Goegg – nach weiteren Stationen im Ausland – wieder nach Genf zurück. Dort wird Goegg Vizepräsident der ‘Ligue internationale pour la paix et la liberté’, der ‚Internationalen Liga für Frieden und Freiheit’. Marie Goegg steht hinter den demokratischen und pazifistischen Zielen der Liga, ist sich jedoch bewusst, dass die Interessen der Frauen eine eigene Vertretung benötigen. Als Marie 1868 bei einem Kongress der ‚Internationalen Arbeiterassoziation’ in Brüssel in einer Rede darum ersucht, dass auch Frauen in die ‚Internationale’ aufgenommen werden, wird der Antrag einhellig abgelehnt.
Goegg veröffentlicht im Verbandsorgan der ‚Liga für Frieden und Freiheit’ Die Vereinigten Staaten von Europa am 24. Februar 1868 einen Appell, in dem sie zur Gründung einer ‚Association internationale des femmes’, einer ‚Internationalen Frauenassoziation’ aufruft. Ihre Idee: Die Frauen sollten in allen europäischen Städten Komitees bilden sowie eigene Lokale mit Büchern und Zeitschriften gründen, um sich dort zu Bildungszwecken und zum Austausch zu treffen. Sie schreibt: „Mut also, Ihr Gründerinnen von Komitees, ihr für alles Gute begeisterten Frauen! Schreckt nicht zurück vor der Schwierigkeit des Unternehmens und der Kargheit eurer Mittel!“
Am 16. Juli 1868 wird die ‚Association internationale des femmes’ gegründet. Artikel 1 der Statuten lautet: „Die internationale Frauenassoziation hat zum Ziel, am moralischen und geistigen Fortschritt der Frau mitzuarbeiten, ebenso an der schrittweisen Verbesserung ihrer Stellung in der Gesellschaft durch Erlangen der menschlichen, zivilen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte. Sie fordert die Gleichberechtigung auf dem Gebiet der Entlöhnung, des Unterrichts, des Familienrechts und vor dem Gesetz.“ In ihrer Eröffnungsrede erklärt die Gründerin: „Wir möchten Bürgerinnen sein und die politischen Aufgaben teilen mit den Bürgern – unsern Brüdern!“ Im Folgejahr 1867 bringt Marie Goegg die erste Schweizer Frauenzeitung heraus: das Journal des femmes, in dessen erster Ausgabe sie einen Überblick über die Frauenbewegungen der ganzen Welt gibt.
Die Schweiz ist wohl das Land in Europa, in welchem das, was man die Frauenfrage nennt, die größten Fortschritte in der kürzesten Zeit gemacht hat.
Doch der deutsch-französische Krieg, der 1870 ausbricht, schwächt die Liga und die Frauenassoziation, die sich kurzfristig auflöst. Als Marie Goegg nach Kriegsende einen Brief von Josephine Butler erhält, die ihre Unterstützung bei der Gründung ihrer ‚Internationalen Föderation zur Bekämpfung der Prostitution’ erbittet, nimmt sie einen zweiten Anlauf. Am 9. Juni 1872 gründet sie die Nachfolgeorganisation der Frauenassoziation unter neuem, kämpferischem Namen: ‚Association pour la défense des droits de la femme’ – ‘Vereinigung zur Verteidigung der Frauenrechte’. Einige der bekanntesten Frauenrechtlerinnen aus England, Amerika, Deutschland, Frankreich und Italien werden Mitglied.
Schon kurz nach der Neugründung erreicht Goegg mit einer Petition, dass im Wintersemester 1872/73 zum ersten Mal auch weibliche Studenten in den Hörsälen der Universität Genf sitzen dürfen. Bald folgen Zürich und Bern. Die Association erreicht auch die Aufhebung der Unmündigkeit lediger und verwitweter Frauen in mehreren Kantonen und die Öffnung der Post- und Telegrafenberufe für Frauen unter gleichen Bedingungen wie für Männer. Inzwischen hat Marie Goegg wieder eine Verbandszeitung gegründet: Die Solidarité, die acht Jahre lang erscheint. In ihr schreibt die Herausgeberin stolz: „Die Schweiz ist wohl das Land in Europa, in welchem das, was man die Frauenfrage nennt, die größten Fortschritte in der kürzesten Zeit gemacht hat.“
1880 löst Marie Goegg die ‚Vereinigung zur Verteidigung der Frauenrechte’ auf. Ob dabei auch private beziehungsweise finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben – Amand Goegg kehrt von einer Propagandareise nicht wieder zu seiner Familie zurück und hat einen Teil von Maries Vermögen mitgehen lassen – lässt sich nicht sicher sagen. Als 1891 die nächste Generation junger Frauenrechtlerinnen die ‚Union des femmes de Genève’ gründen, ziehen sie die Gründerin der Schweizer Frauenbewegung zu Rate und wählen sie zur Vizepräsidentin. Am ersten Frauenkongress der Schweiz 1896 nimmt die 70-jährige Marie Goegg noch teil in der Hoffnung, dass nun auch das Stimmrecht für Frauen unmittelbar bevorstehe. Marie Goegg stirbt am 24. März 1899 in Genf.
Das Wahlrecht sowie das Recht, bei Volksentscheiden mitzustimmen, erhielten die Schweizerinnen erst 1971. Vorkämpferin Marie Goegg tauchte als eine der raren Frauen in den Zwanziger Jahren im Historisch-Biographischen Lexikon auf, wurde aber bald darauf vergessen und erst von der Neuen Schweizer Frauenbewegung wieder entdeckt.
Biografie chronologisch
24.5.1826
Jeanne-Marie Pouchoulin wird als Tochter des Uhrmachers Jean Pouchoulin und der Hausfrau Andrienne Pautex in Genf geboren. Sie bleibt das einzige Kind ihrer Eltern.13.8.1845Marie Pouchoulin heiratet den Handelsreisenden Marc Antoine Mercier.
12.2.1847
Maries Sohn Louis Henry wird geboren.
Jan. 1854
Marie Pouchoulin und Amand Goegg gehen nach London.
1.4.1854
Maries Sohn Egmont wird geboren.
16.7.1854
Die Ehe zwischen Marie Pouchoulin und Marc Antoine Mercier wird geschieden.
1857
Marie Pouchoulin, inzwischen verheiratete Goegg, und Amand Goegg leben wieder in Genf. Am 2. August wird Sohn Gustave geboren.
1861
Amand Goegg wird amnestiert und geht in seine Heimatstadt Offenburg. Marie und die drei Söhne folgen ihm.
ca. 1865
Die Familie zieht wieder nach Genf.
Sept. 1867
Die ‚Internationale Liga für Frieden und Freiheit' wird gegründet.
1868
Marie Goegg veröffentlicht den Appell zur Gründung einer internationalen Frauenassoziation im Verbandsorgan der Liga, den ,Vereinigten Staaten von Europa'. Im Laufe des Jahres erscheint Goeggs Roman ‚Deux poids et deux mésures'.
26.7.1868
Die ‚Association Internationale des Femmes' (AIF) wird gegründet.
Sept. 1868
Marie Goegg erreicht auf einem Kongress der ‚Internationalen Liga für Frieden und Freiheit' die Öffnung der Liga für weibliche Mitglieder. Marie Goegg wird zum Redaktionsmitglied der ,Vereinigten Staaten von Europa' gewählt.
1869
Goegg ruft das ,Journal des femmes' ins Leben.
1870
Die ‚Internationale Frauenassoziation' sowie das ,Journal des femmes' werden aufgelöst.
9.6.1872
Die ‚Association pour la Défense des Droits de la Femme' und ihre Verbandszeitschrift ,Solidarité' werden gegründet.
Okt. 1872
Auf Initiative der Association lässt die Universität Genf erstmalig Frauen zum Studium zu.
1.1.1874
Auf Initiative der Association streicht der Kanton Waadt das Gesetz, das ledige und verwitwete Frauen unter Vormundschaft stellt.
1874
Amand Goegg bricht zu einer Propagandareise auf und kehrt nicht wieder zu seiner Familie zurück.
1880
Die ‚Association pour la Défense des Droits de la Femme' und die ,Solidarité' werden aufgelöst.
1881
Marie Goegg wird zur Vizepräsidentin der ‚Union des Femmes de Genève' gewählt.
1896
Marie Goegg nimmt am ersten Schweizer Frauenkongress teil.
24.3.1899
Marie Goegg stirbt in Genf.
Textauszüge
Die Rede von Marie Goegg in Bern, 26.9.1868
Die Rede von Marie Goegg in Bern, 26.9.1868
Am Montag und Dienstag, 28. und 29. September 1868: ZWEITER KONGRESS DER FRIEDENS-UND FREIHEITS-LIGA. Rede der Frau Marie Gögg, Vorsitzende des internationalen Frauenbundes.
[...] Meine Herren und Damen! Unser Programm bezweckt, wie Sie wissen, in den Familienkreisen die hohen Ideen der Friedens- und Freiheitsliga zu verbreiten und zur Geltung zu bringen. Allein da finden wir in der durch Gewohnheit und Gesetze künstlich geschaffenen Stellung der Frauen ein unübersteigliches Hindernis. Diese, einst von unsern Vorfahren aus Stolz, Selbstsucht und Unmenschlichkeit gemachten Gesetze sind heute für die Männer selbst von grossem Nachteile; denn dadurch haben sie (die Männer) Lebensgefährtinnen, welche für den nunmehr nötigen, grossen, geistigen Kampf nicht vorbereitet sind. › mehr
Gleichberechtigung: der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz
Gleichberechtigung: der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz
Marie Goegg, 1868
In einer Rede vor der Association begründete Marie Goegg diesen Artikel folgendermaßen:
«Die internationale Frauenassoziation will nicht die Gesellschaft in zwei Lager teilen; sie will nicht den Kampf zwischen Mann und Frau; sie will nicht die Elemente teilen, die geschaffen sind, sich zu verbinden; sie will nicht Rechte erobern auf Kosten der Männer. - Sie verlangt vor allem Gleichheit des Rechtes auf Ausbildung, weil sie überzeugt ist, daß die Frau geistig und seelisch dem Mann, mit dem sie das Leben durchschreitet, ebenbürtig ist; daß sie als Erzieherin der Kinder ebenso fähig sein muß wie er, diese große Aufgabe zu erfüllen. › mehr
Artikel über Marie Goegg
Marie Goegg-Pouchoulin (1826-1899): politisches Engagement im Spannungsfeld von dualistischer Geschlechterordnung und feministischem Programm
Marie Goegg-Pouchoulin (1826-1899): politisches Engagement im Spannungsfeld von dualistischer Geschlechterordnung und feministischem Programm
Regula Zürcher, 2002
Verharmlosungsstrategien I: Feministinnen, Öffentlichkeit und Rezeption
Marie Goegg versuchte von Anfang an, ihrer Vereinigung die Unterstützung von einflussreichen Männergruppierungen zu sichern und Frauen den Zugang dazu als gleichberechtigte Mitglieder zu verschaffen. Dies gelang ihr bereits im Gründungsjahr der AIF, als sie mit einem Referat landesweites Aufsehen erregte. › mehr
Marie Goegg-Pouchoulin : 1826-1899 ; die mutige Kämpferin für Frieden, Freiheit und Menschenrechte
Marie Goegg-Pouchoulin : 1826-1899 ; die mutige Kämpferin für Frieden, Freiheit und Menschenrechte
Die Genferin Mme Pauline Chaponniere, spätere Präsidentin des internationalen Frauenbundes, sagte 1899 nach Marie Goeggs Tod:
„Mme Goeggs große Leidenschaft galt der Gerechtigkeit. Diese Liebe zur Gerechtigkeit half ihr, die ihr angeborene Schüchternheit zu überwinden, um an öffentlichen Versammlungen aufzutreten und die Aufgaben zu erfüllen, zu denen ihr Gewissen sie trieb. › mehr
Literaturhinweise
Primärliteratur
Goegg, Marie (1869): Deux poids et deux mesures; dt.: Zweierlei Maß und Gewicht
Goegg, Marie (1878): Deux discours de Mme Marie Goegg, 26 Septembre 1868 - 27 Mars 1870. - In: Goegg, Marie ([1880]): Souvenir de famille : à ma petite fille Alice Mercier. - versch. Orte : versch. Verleger, 16 S.
Goegg, Marie ([1880)]: Souvenir de famille : à ma petite fille Alice Mercier. - versch. Orte : versch. Verleger, getr. Zählung
Zeitschriften herausgegeben von Marie Goegg
Journal des femmes. Hrsg. 1869
Solidarité : bulletin trimestriel. Hrsg. von 1872-1880
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen von Marie Goegg als Autorin oder Herausgeberin: PDF-Download
Sekundärliteratur
Zürcher, Regula (2002): Marie Goegg-Pouchoulin (1826-1899) : politisches Engagement im Spannungsfeld von dualistischer Geschlechterordnung und feministischem Programm. - In: Organisiert und engagiert : Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA. - Huber-Sperl, Rita [Hrsg.]. Königstein/Taunus : Helmer, S. 211 - 231
Rahm, Berta (1993): Marie Goegg (geb. Pouchoulin) : Mitbegründerin der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit, Gründerin des Internationalen Frauenverbundes, des Journal des Femmes und der Solidarité. - Schaffhausen : Ala-Verl., 180 S.
Rahm, Berta (1968): Marie Goegg-Pouchoulin : 1826-1899 ; die mutige Kämpferin für Frieden, Freiheit und Menschenrechte. - Zürich, S. 230 - 235 [Quelle: Gosteli-Stiftung, Archiv, CH-3048 Worblaufen; Fotokopie im FrauenMediaTurm (Köln)]
Liste aller in FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen, die Marie Goegg zum Thema haben (nach Jahr absteigend sortiert): PDF-Download
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