Mathilde Franziska Anneke, 1872
Seit dem frühesten Kindesalter der Menschheit hat das weibliche Geschlecht sich in einem Zustand der Knechtschaft den Männern gegenüber befunden. Was größerer Manneskraft und Stärke sich rühmen konnte – was bloß eine physische Tatsache war, – wurde bald in ein legales Recht verwandelt und man gab ihm die Sanktion der Gesellschaft, die grundsätzlich bestrebt war, die Ungleichheit, den Gehorsam gesetzlich zu machen. Das Weib wurde leibeigen. Die Sklaverei wurde geregelt und man kam auf der männlichen Seite überein, sich gegenseitig im Besitz seiner Errungenschaft zu schützen. In früheren Zeiten war die Mehrzahl des männlichen Geschlechts ebenso Sklaven, wie die gesamte weibliche. Jahrhunderte verflossen, ehe ein Denker auftrat, das Recht und die absolute Notwendigkeit der Sklaverei überhaupt in Frage zu ziehen. Nach und nach standen ausgewählte Geister und Charaktere auf, welche den allgemeinen Fortschritt der Gesellschaft unterstützten, die Sklaverei des männlichen Geschlechtes gänzlich aufhoben und die des weiblichen in eine mildere Form der Abhängigkeit verwandelten. Diese Abhängigkeit, wenn auch gemildert und gemäßigt, wie im allgemeinen die Sitten und Beziehungen der Menschen untereinander gerechter und humaner geworden sind, ist trotzdem ein innerlich nicht wegzuleugnender Zustand der Unfreiheit. Wem das Recht benommen ist, nach eigenem Gesetz selbst zu leben, der lebt unter eines ändern Herrschaft, abhängig von dessen Bestimmungen und dessen Willen – ist unfrei!
. . . Ungerechte Institutionen führen zur Entartung des menschlichen Herzens. Wer kennt nicht den menschlichen Charakter ohne zu wissen, daß derjenige, welcher im Besitz einer Macht ist – und sei er der Edelsinnigste – dieselbe bis in den äußersten Punkt mit Argusaugen wahrt und sich im Gefühl seines Besitzes, der Ausübung dieser Macht oft nur zu sehr im Übermaße erfreut.
Bei den von der Natur rohen und moralisch am wenigsten erzogenen Menschen bringt die gesetzliche Unterordnung der Frau, und daß dieselbe physisch seinem Willen als Werkzeug unterworfen ist, ein Gefühl der Geringschätzung des Mannes gegen die eigene Frau hervor. Und auch nicht nur bei dem Mann ohne Gesittung und Bildung erfahren wir diese Tatsache. Hat doch selbst jüngst noch eine ganze Körperschaft von Männern – Männern, die die Gesittung des deutschen Landes repräsentieren sollen, einen Beleg für den Mangel der ihnen innewohnenden Hochachtung für das Weib, ja für die Mutter sogar abgelegt. Von dem schnöden Gebaren der Presse in unserm Lande will ich hier nicht reden. Können wir doch selbst in unseren deutschen Blättern täglich zur Genüge auf Beispiele stoßen, wo die edelsten, selbstaufopferndsten Bestrebungen von Frauen in Hohn, Spott und Feststellungen aller Art ihren Lohn ernten. Es ist charakteristisch, wie man in solchen Journalen die beredtste Sprache für die aller Welt einleuchtende eherne Notwendigkeit irgendwelcher Reform für Frauenlos und Frauenleiden finden wird und gleich in einer andern Spalte die Anbahnung solcher Reform mit den beliebten Gänsefüßen in der Topographie mißachtet und begeifert. Ist das Männlichkeit und Gerechtigkeit, an die wir appellieren, Ihr Repräsentanten der Freiheit?
Ungerechte Institutionen führen naturgemäß zur Entartung des menschlichen Herzens, und wir erkennen deutlich, daß wir uns nie und in keinem Falle, wo das Szepter der Herrschaft von Gottes- und Menschengnaden auch noch so milde geführt wird, mit den Institutionen befreunden wollen, die schnurstraks gegen das Prinzip der heiligen Freiheit – die gegen Menschenrechte und Menschenwürde sind. . . An Euch, Ihr Repräsentanten der Freiheit, die Ihr Euch im Vollgenuß derselben erst dann befinden werdet, wenn Ihr keine, keine Ungleichheit mehr neben Euch duldet, will ich mit der ganzen Überzeugungstreue und Begeisterung meines Herzens appellieren. Befreit das Weib. Erhebt es zur wirklichen Erzieherin der Menschheit, zur Hüterin Eurer Freiheit. . Erweitert die Sphäre seiner Tätigkeit, ihr verdoppelt die Intelligenz im Dienste der Menschheit. Und was ihr mit vollem Recht gehört, laßt nicht die Hälfte dessen ungenützt. Ihr habt keinen Überfluß an Kräften und Talenten. Gebt dem Weibe das Bewußtsein, ein freier Mensch gleich den ändern Freien zu sein, die die Berechtigung haben, sich den Lebenszweck selbst zu wählen. Speist uns nicht ab mit dem Hinweis auf Eure Ritterlichkeit, Euren Schutz! Weist uns nicht auf die Sphäre des Hauses, des heimatlichen Herdes. Millionen und abermals Millionen meines Geschlechts haben kein Daheim, keinen Herd. Millionen, sage ich Euch! Schaut hinüber nach Albions dynastisch wankendem Gestade, dort ergibt die eben vollzogene Zählung der Bevölkerung eine Million mehr meines Geschlechts als des Eurigen. Ja, Neu-England zählt es nach den Tausenden. In Deutschland und Frankreich stellt sich das Verhältnis nicht günstiger heraus, wo Kruppsche Kanonen und Mittrailleusen tabula rasa gemacht haben mit den Menschenblüten männlicherseits, und wo die weiblichen in doppelter Anzahl ihnen nachwelken – o Gott, geknickte, zertretene Menschenblüten.
Schließt Euch den besten Geistern Eurer Zeit an und kämpft für die Gleichberechtigung – den letzten, den heiligsten Kampf. Laßt Euch nicht den Vorwurf machen, daß Ihr Deutsche, deren Vorväter in Freya, der Göttin des Heiligen Hains, die Liebe und Freiheit zugleich anbeteten, eine andere als eine freie Maid freien könntet.
Und nun zu Euch, Frauenherzen, bereitet Euch vor auf den Tag des Heils. Er kommt! Die Schranke fällt zwischen unserm Leben der Unterjochung und dem Leben vernünftiger Freiheit. Der Tag der sittlichen und geistigen Erhebung der Menschheit beginnt in Wahrheit mit unserer Befreiung, wenn unsere Lebensbeziehungen unter dem Gesetz gleicher Gerechtigkeit stehen und wir als Menschen lernen, unsere stärksten Sympathien mit Menschen zu pflegen, die an Rechten und Pflichten uns gleich stehen. Er beginnt, wenn wir an Selbstschätzung gewinnen und hochgeschätzt werden, wie wir es verdienen … Die Unbilligkeit hört auf, die da bestimmt: wir könnten von unserer Geburt an und vermöge derselben, zu jenen Beschäftigungen, die den untergeordnetsten des anderen Geschlechts offen stehen, nicht tüchtig werden, oder wir würden – so befähigt wir auch seien, von der Ausübung fern bleiben, damit dem Mann der ausschließliche Vorteil gewährt werde. Man wird nicht mehr die geringere geistige Kapazität unseres Geschlechtes preisen – daran glaubt im Ernste doch heute niemand mehr – denn in den Kämpfen des öffentlichen Lebens – von denen die Frauen nicht ausgeschlossen blieben, ward unsere Begabung erprobt. Wir haben die Prüfung bestanden! Wir glauben der beschwichtigenden Sprache nicht mehr, die uns begreiflich machen will, alles geschehe zu unserem Besten, ohne daß wir selbst unser Bestes bestimmen. Rings um uns gewahren wir keinen Überfluß an Menschen, die sich für die Erfüllung höherer Aufgaben eignen, daß die Gesellschaft unsere Dienste abweisen könnte. Man wird uns die Mitbewerbung zur Ausübung unserer Pflichten gestatten, und wir werden uns nicht zu Berufen drängen, in welchen wir Mitbewerbern untergeordnet sind. Wir werden auch dem Berufe Vorzug geben, in dem wir keine Mitbewerbung haben. Wir werden Mütter, Gattinnen und Erzieherinnen sein und erst dann unseren Beruf als Mutter und Weib treu und recht erfüllen, wenn wir die Freiheit haben, unseren Beruf zu wählen und für denselben einzustehen. Man wird uns Funktionen öffentlicher Natur anvertrauen müssen; man wird uns als Bürgerinnen in dem Bürgertum dieser freien Staaten teilnehmen lassen, an der Wahl solcher Personen, denen ein öffentliches Vertrauensamt übertragen werden soll. Der Besitz einer Stimme im allgemeinen Wahlrecht ist ein Mittel des Selbstschutzes, das jedem zustehen muß, eine Garantie für seine Wohlfahrt, eine Garantie zur geistigen und sittlichen Erhebung, ein Symbol der Gleichberechtigung, die Losung der Zeit.
In vier Jahren feiert unser Adoptivvaterland, dessen Töchter und stolz bewußte Bürgerinnen wir sind, feiert unsere Republik ihren hundertjährigen Geburtstag. Bereitet Euch vor zu diesem Festtag der Freiheit. Er wird ein Versöhnungstag, ein Tag der größten Glorie sein. Die Zeichen der Zeit trügen nicht.
Bereitet Eure Hallen, schön wie diese, die Ihr eben erbaut habt, schmückt sie mit Eichen und Myrthen für den Brauttag der vollen Unabhängigkeit. Errichtet an Stätten wie dieser, lichtvoll und schön das Palladium des Volkes und senkt Eure Stimme in das unentweihbare Gefäß. Denn umflossen von dem Zauber der Harmonien, deren Vertreterinnen wir werden wollen, streben wir gemeinsam mit Euch, Ihr Männerherzen, Vertreter der Freiheit, der Beglückung der Menschheit entgegen.
(Quelle: Anneke, Mathilde Franziska (1872): Zur Eröffnung der deutschen Halle in Milwaukee : (über die Gleichberechtigung der Frauen). – In: Die gebrochenen Ketten : Erzählungen, Reportagen und Reden (1861-1873). – Wagner, Maria [Hrsg.]. Stuttgart : Heinz, Akad. Verl., 1983, S. 219 – 222)