Mathilde Franziska Anneke, 1873
Kein größeres Hindernis gibt es, das der Verbesserung der allgemeinen Zustände mehr im Wege steht, keine schlimmere Klippe, daran die Veredlung und höhere Vervollkommnung der Menschheit scheitert, kein brutalereres Unrecht, das auf dem großen Gewisen der heutigen Gesellschaft lastet – als die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere.
Die gepriesenste Stellung der Frau ist nach den Begriffen von Menschenwürde und allgemeinen Menschenrechten keine geziemende; die anscheinend gesichertste nur eine schwankende, fortwährend in Gefahr schwebende; die scheinbar gesittetste allen Willkürlichkeiten preisgegeben, so lange sie nach dem Willen und Gutdünken anderer geregelt werden kann. Die Gleichberechtigung vor dem Gesetz gibt ihr erst einen sittlichen Halt; ihre Teilnahme an der Gesetzgebung eine feste, rechtliche Basis; die Ausübung des Stimmrechts die Gewähr für den Bestand.
Die Gleichberechtigung soll das weibliche Geschlecht aus dem Gefühl der Erniedrigung und Abhängigkeit zu dem Bewußtsein der Gleichstellung und Selbstbestimmung, soll es zu seiner Menschenwürde erheben. Diese Teilnahme an der Gesetzgebung soll das Weib verantwortlich machen an der Regulierung politischer und sozialer Zeitfragen und befugt, die Ungerechtigkeiten auszumerzen und die Rechtlosigkeit abzuschaffen, die in den Gesetzen überall gegen sie obwalten. Das Stimmrecht soll sie ermächtigen, in allen öffentlichen Angelegenheiten mitzuzählen und in Fragen, die ihre eigenen, nächsten Interessen sind, als Ehe und Eherechte, Erziehung und Kindesrechte, ein endgültiges Wort mitzusprechen. Ihr Stimmrecht soll Schutz und Schild der wiedergeborenen Rechtlichkeit im Staatsleben und die Abwehr jeglicher Korruption sein. Es soll die Begeisterung und Teilnahme erwecken für die höchsten Güter im menschlichen Leben, und durch die Tätigkeit, die mit den öffentlichen Interessen verknüpft sind, das Weib von dem eitlen und kindischen Tand erlösen, in welchem Untätigkeit und falsche Lebensrichtung sie bis jetzt befangen hielten. Es soll sie auch aus den Banden befreien, in welchen sie teilweise noch von Pfaffentum und Kirche beherrscht und welchen dunklen Mächten sie in sturem Egoismus von den Mächtigen der Erde trotz der fortschreitenden wissenschaftlichen Aufklärung überantwortet wurde; es soll sie führen vom blinden Glauben und Vorurteil zur Gedankentätigkeit, die ihr praktischen Halt und Lebensfrische gibt und das siegende Bewußtsein, durch eigene Tatkraft, eigene Bildung und eigene Verstandesrichtung ein menschenwürdiges Dasein erringen zu können, das sich nicht mehr auf den Himmel und das Jenseits vertrösten läßt.
Nach der Gleichstellung und ihrer Manifestation durch das allgemeine Wahlrecht, nach diesem Palladium eines freien Volkes haben länger denn ein Vierteljahrhundert die Frauen dieses Landes gerungen. Unerschütterlich haben sie durch unausgesetzte Forderungen, durch eifrigstes Propagandieren und durch die geschicktesten, alle Zweifel erschöpfenden Beweisführungen den Gegnern Achtung und näheres Eingehen in die Frage abgenötigt; sie haben persönlich vor dem Kongreß dargetan, daß die Prinzipien, worauf das stolze Gebäude der Union beruht, Lügen seien und ihre Institutionen eitle Prahlereien solange sie die eine größere Hälfte ihrer Bürger von der Teilnahme an der Gesetzgebung ausschließen und sie der andern gegenüber in Unterwürfigkeit halten; sie haben einsichtsvolle Staatsmänner zur Prüfung ihrer Forderungen veranlaßt, und Kongreß wie Legislaturen vermocht, den Versuch zu machen, die betreffenden Konstitutionen zu amendieren, ev. dahin abzuändern: das Wort „male“ (männlich) das sich auf die privilegierten Bürger bezieht, aus ihren Zeilen gänzlich zu streichen. Sie haben endlich die größten Philosophen und die Männer der Wissenschaft aller Länder dahin gebracht, der Wahrheit die Ehre zu geben und die unumstößliche Erkenntnis zu propagieren, daß auch das Weib zu den Menschen gehöre.
Nach all diesen Resultaten, die die Unterdrückten selbst – verstehen Sie wohl, die Darniedergetretenen selbst – ihren Machthabern abgerungen haben, nach einem Vierteljahrhundert so rastloser Arbeit und Mühen von Seiten der Frauen, erschien es endlich wohl an der Zeit, auf Grund der Auslegung der verschiedenen Amendements, zu Gunsten der Gleichberechtigung, speziell der Frauen mit den Männern – erschien es wohl gebieterisch notwendig, die Stimme des Richteramtes zu befragen, jenes heilige Orakel, das die Stimme keines Gottes, aber des Volkes, die Stimme seines geläuterten Rechtsbewußtseins sein soll – ob denn nicht endlich Recht vor Gnade ergehen und das Weib zur Selbstbestimmung über sein Wohl und Wehe, zur Teilnahme an der Gesetzgebung müsse zugelassen werden. Es sollte diese Frage zu einer Testfrage gemacht werden. Durch eine solche sogenannte Testfrage geschah es nämlich von jeher bei Prinzipienfragen in den Vereinigten Staaten, dieselben zur endgültigen Auslegung, zum Austrag zu bringen, indem sich die Vertreter von Prinzipien zur faktischen Ausführung herbeiließen und den erleuchteten Richter darüber entscheiden ließen, nicht nach dem starren Buchstaben des Gesetzes, sondern nach dem vom Zeitgeist getragenen und geläuterten Rechtsbewußtsein zu urteilen.
Susan B. Anthony, jene so klare, mutige, uneigennützige, allezeit bereite Kämpferin für radikale Prinzipien jeder Art stellte sich in die Bresche. Sie tat es aus dem tiefinnigsten Drange ihres ernsten unermüdlichen Strebens, ihrer heiligsten Überzeugung. Sie tat es prüfend die Echtheit der Worte, die aber nichts wie gleißnerische Worte waren, jener verrotteten Partei, die sich die herrschende nannte und die sich durch die Hilfe der Frauen zur siegenden zu machen wußte.
Sie gab in Treuen und Glauben ihre Stimme ab in ihrer Vaterstadt Rochester. Sie gab sie in dem Bewußtsein einer gebietenden Pflicht als Bürgerin der Vereinigten Staaten, als Vertreterin eines großen Menschheitsprinzips. Sie legte sie in die Urne mit Bewilligung der an der Stätte wachthabenden Inspektoren, die von der Frauen Recht zu stimmen, durchdrungen waren. Sie legte sie nieder, ermutigt durch die Meinung eines funktionierenden Gesetzgebers, den sie befragt, geäußert hatte, daß das Recht unwiderlegbar sei. Sie hatte Grund zu hoffen, wenn sie für ihre glorreiche Tat zur Verantwortung vor den Richterstuhl gezogen würde, daß die Wahrheit ihres Prinzips, für das sie und die besten Frauen unseres Landes gekämpft, das sanktioniert von den Bessern und Besten unseres Volkes und anderer Völker, auch in die Herzen der Richter gedrungen sei, und zum Test erhoben werden würde, durch ihren erhabenen Spruch. Sie hatte sich geirrt. Geirrt mit ihr hatten sich die Bessern und Besten. Sie ist verurteilt worden, weil sie gestimmt hat und – nur ein Weib ist!
Hätte sie sich an die Wahlurne geschlichen, hätte sie zehn für ein Mal ihre Stimme abgegeben, hätte sie falsch gestimmt – wäre sie nur nicht als Weib gekommen! – sie würde nicht verurteilt worden sein. Aber nein, nein, nein, sie stimmte recht, sie stimmte ehrlich, sie stimmte mit den erhabensten Intentionen, die je ein Herz zur Urne gedrängt hatte – sie stimmte, ein Weib, und wurde in den Kerker geworfen, wurde verurteilt. Es ist zu spät, sagt der Cincinnati Commercial, von einer Beschränkung oder Verkürzung des Stimmrechts durch Census, Bildungsgrad oder Race zu reden. Alle diese Schranken sind niedergebrochen. Wir haben das Experiment des allgemeinen Stimmrechts insofern es die Männer betrifft, erprobt. Die Arena ist erweitert mit dem Fortschritt der Zivilisation, bis alle eingeschlossen sind, ohne Unterschied auf Race, Fähigkeit noch sonstige Bedingungen. Nur die Frauen, die Blödsinnigen und die Verbrecher sind ausgeschlossen! Tag für Tag und Jahr für Jahr haben Frauen ihre Fähigkeiten für öffentliche Amtspflichten gezeigt und ihre Berechtigung bewiesen. Es gibt fast keinen Beruf mehr, in welchem wir nicht Frauen haben als erfolgreiche Vertreterinnen gesehen. Die Künste und Wissenschaften zählen zu ihrer glänzendsten Jüngerschaft edle Frauen. Sie haben Talente in den praktischen Handlungen des Lebens, in der Durchführung großer Unternehmungen. Sie sind kompetente Rechenmeister, treue Gehilfen und kluge Finanziers. Die Tatsache, daß unter ihnen viele sind, die Eigentum besitzen und dasselbe klug verwalten, beweist ihre Verständigkeit. Warum soll ihnen nicht gestattet sein, ihre Stimme bei der Wahl abzugeben? Was für Gründe hat der Staat, die gleiche Teilhaberschaft seinen Bürgern zu versagen?
(Quelle: Anneke, Mathilde Franziska (1873): Die Verurteilung Susan B. Anthonys. – In: Die gebrochenen Ketten : Erzählungen, Reportagen