Minna Cauer, 1908
Auf der nächsten Tagung des Bundes Deutscher Frauenvereine zu Breslau am 5.-9. Oktober d. J. soll der Reform des Strafrechts besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zu diesem Zweck sind von der Rechtskommission des Bundes „Frauenforderungen zur Strafrechtsreform“ ausgearbeitet worden, die in Form einer Broschüre erschienen sind. […]
Jedoch die Aufgabe, die ich mir in diesem Artikel gestellt hatte, sollte sich nur auf einen einzigen Paragraphen beziehen, einen Paragraphen im Strafgesetzbuch, der das vitalste Interesse der Frau betrifft. Ich meine den § 218. Er lautet:
„Eine Schwangere, welche die Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.
Dieselben Strafvorschriften finden auf diejenigen Anwendung, welche mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zur Abtreibung oder Tötung bei ihr anwenden oder ihr beigebracht.“
Auch die §§ 219, 220 sind noch zu beachten, der grundlegende jedoch ist § 218. Um diesen allein handelt es sich hier, um diesen haben sich die Verhandlungen und Beratungen hauptsächlich zu drehen. Die Rechtskommission des Bundes ist bei diesem Paragraphen in erfreulicher Weise radikal vorgegangen. Sie will ihn gestrichen haben. Die Begründung für diese Streichung zeigt in kurzen Worten, daß der Paragraph ein Unding ist. Die Auffassung von „belebter und unbelebter Frucht“, wie im englischen Recht, enthält doch wenigstens eine Ahnung von dem, was im Frauenkörper vor sich geht. Das deutsche Strafgesetzbuch weiß, wie es scheint, nichts von physiologischen Vorgängen, noch viel weniger von psychologischen. Wenn, wie es in der Begründung heißt, das Reichsgericht diesem Paragraphen folgende Auslegung gegeben hat „Jeder Versuch ist strafbar, der untaugliche Versuch ist Versuch, folglich ist auch der untaugliche Versuch strafbar“, so sollte die deutsche Frauenwelt alle die Männer vor ihr Forum fordern, die das grenzenlose Leiden vieler Tausende von Frauen hervorrufen, sie in Elend und Schande stürzen und dann keine Verantwortung dafür tragen, wenn Versuche traurigster Art gemacht werden, oft gemacht werden müssen.
Ja müssen! Haben Juristen, haben Männer denn eine Ahnung von dem, was im Frauenleben körperlich, geistig und seelisch vor sich geht, wenn die Frau die Empfängnis spürt? Was wissen denn Männer von dieser Seelenangst, von dieser namenlosen Sorge, von der Verzweiflung, wenn die Folgen eines leichtsinnigen oder eines im Rausche der Liebe und Leidenschaft geschlossenen Verkehrs empfunden werden? In einer Polizeiverordnung, die Prostituierten betreffend, in welche mir Einsicht gegeben war, las ich einmal zu meinem großen Erstaunen folgenden Satz: „Selbst in der verworfensten Dirne ist noch ein Funken weiblichen Empfindens zu finden, die Liebe, sei es zu ihrem furchtbaren Quälgeist, ihrem Zuhälter oder zu ihrem Kinde, das sie einmal in Schanden geboren hat.“
Nun denn, seid menschlich, Ihr Juristen, und schreibt nicht folgenden entsetzlichen Satz in eure gewundenen Deduktionen:
„Der Vorschlag, ist die Abtreibung überhaupt straflos zu lassen, wenn die Schwangerschaft das Ergebnis eines Verbrechens gegen die geschlechtliche Freiheit der Schwangeren war, dürfte dagegen, weil zu einer Vermehrung der ohnehin häufigen fingierten Unzuchtsbeschuldigungen beitragend, zu verwerfen sein.“
Wer diesen Satz durchdenkt, als Frau durchdenkt, schaudert. Also Vergewaltigung, vielleicht durch einen Verbrecher, einen Mörder, einen Wahnsinnigen, also Leben geben zu müssen, wo die Zeugung Verbrechen war, – man kann es sich nicht ausdenken!“
„Fingierte Unzuchtsbeschuldigungen“ werden dagegen ins Feld geführt. Wie jämmerlich! Denen zu begegnen ist wohl der Mann gewachsen, wenn er sich rein von Unzucht hält. Aber abgesehen von diesem kalten und verständnislosen juristischen Empfinden finden wir leider in der Frauenwelt vorläufig auch mehr graue, kalte Theorie, als ein tiefes psychologisches Verstehen desjenigen Frauenlebens, das sich auf diesen Punkt bezieht. Was mir bis zu diesem Augenblick zu Gesicht gekommen ist, deckt sich meist mit der kalten, psychologisch verständnislosen Auffassung der Juristen. Entschuldigt können diese Frauen nur dadurch werden, daß sie unverheiratet sind und nichts, gar nichts von dem entsetzlichen Elend eines unglücklichen Ehelebens kennen können, in welchem Vergewaltigungen furchtbarster Art vorkommen. Ich spreche es den unverheirateten Frauen nicht ab, über diese Dinge zu urteilen; ich kenne z.B. in der Mutterschutzbewegung Frauen, die mit dem tiefsten und feinsten Empfinden beseelt sind und sich in die innersten Verästelungen der sinnigen Liebe, ihre Freude und ihre Qualen zu versenken verstehen, aber bei diesem Paragraphen haben dennoch in erster Linie verheiratete Frauen zu sprechen, Frauen, die all das Elend, den Jammer, durchgemacht haben, die eine unglückliche Ehe hervorruft, oder Frauen, die das volle Glück der Ehe genießen, aber die gerade in diesem Glücke sich vorstellen können, welche furchtbare Wirkung auf das ganze innere Seelenleben der Frau eine ungewollte Empfängnis hervorzurufen imstande ist.
Seid menschlich, ihr Frauen, versucht doch nicht, den Juristen nachzuahmen, die in verzwickten Theorien sich ergehen und dabei so selten dem innersten und tiefsten Lebensgedanken und Lebensempfinden gerecht zu werden vermögen. Erst einmal menschlich diesen Paragraphen durchdacht, dann mag der Gesetzgeber sprechen, falls er überhaupt auf Frauendarlegungen und Frauenforderungen Rücksicht nimmt. Und noch eins! Das Interesse des Staates, die Bevölkerungsfrage, wird bei diesem Paragraphen nicht nur von Juristen, Aerzten usw., sondern sogar auch von Frauen herangezogen. Das Staatsinteresse verlange, so heißt es, eine Zunahme der Geburten: Hauptsächlichstes Motiv dafür: Heer, Flotte, Soldaten, Krieger. Erstens werden nicht nur Knaben geboren, eine Ueberzahl von Frauen ist vorhanden, dann liegt doch geradezu eine Brutalität darin, Leben geben zu sollen mit dem Hinblick, daß die Aussicht sein kann, es in furchtbaren Schlachten zu verlieren. Diese Motivierung ist unsittlich. Sie findet auch nur da noch Fürsprecher, wo die Sehnsucht nach einem Kriege vorherrschend ist, dank überhitzter, falscher, nationaler Gefühle.
Und wer trägt denn die Hauptlast der Vermehrung der Bevölkerung? Die Arbeiterin! In den oberen Kreisen herrscht schon überwiegend das Zweikindersystem. Eine Untersuchung von Dr. Hamburger über „die Frage der Konzeptionsbeschränkung“ in Arbeiterfamilien weist nach, daß den 7300 Konzeptionen aus Arbeiterkreisen nur einige Hundert (450) Konzeptionen aus reichen und wohlhabenden Kreisen (6000 M. jährliches Einkommen und darüber) gegenüberstehen. Er weist aber auch nach, durch 2 Jahre lange Untersuchungen bezw. Enquete bestätigt, daß, je mehr Konzeptionen stattfinden, desto mehr Fehlgeburten, Totgeborene; über 50,64 % gingen von den 7261 Konzipierten zugrunde. Was für ein Bild des Elends, der Mühsal, der Leiden rollen diese Zahlen allein schon auf! Gern würde ich der Gesamtfrauenwelt zurufen: Frauen, seid – nicht nur mit Phrasen und Wohltätigkeitsfesten – zur Abwechslung einmal menschlich! Doch wo ist die Gesamtfrauenwelt zu finden, die an all diese schweren Probleme im Frauenleben herangeht?
Dürfen wir Hoffnung auf die Frauenbewegung und die darin arbeitenden Frauen setzen? Sicher ist, daß nur die Frauen der Frauenbewegung sich mit diesen Problemen beschäftigen, aber seid menschlich, nicht nur juristisch, ihr Frauen in der Frauenbewegung!
Textauszug aus: Cauer, Minna: Menschlich oder juristisch. In: Die Frauenbewegung. XIV. Jahrgang, September 1908, S. 137-138