Minna Cauer: Nachruf von Helene Stöcker

Minna Cauer
Helene Stöcker, 1922

In der Nacht vom 2. zum 3. August d. J. starb die bekannte Vorkämpferin der deutschen Frauenbewegung: Frau Minna Cauer, die als Tochter eines evangelischen Pfarrers in der Mark aufgewachsen ist und achtzig Jahre vollendet hat. Sie kam nach dem Tode ihres Mannes, des Historikers und Schulrates Cauer, in Beziehung zu den Kreisen führender liberaler Politiker, und vom Ende der achtziger Jahre an datiert ihr Interesse, wie ihre Arbeit für die Befreiung der Frau.

Wir haben bereits in der November-Nummer der N. G. 1920 zum 79. Geburtstag ihrer Arbeit gedacht. Für die Gegenwart mag ihre Gestalt schon ein wenig in den Hintergrund getreten sein. Aber wer auf dem radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung seit dreißig Jahren kämpfte, weiß, wie große, außerordentliche Verdienste sich Frau Cauer erworben hat. Während der sogenannte „gemäßigte Flügel“ unter Helene Lange mehr die Frauenberufsfragen und die Frage der höheren Mädchenschulbildung allein in den Vordergrund stellte, war es das besondere Verdienst von Frau Cauer, schon damals die Notwendigkeit zu erkennen, das gesamte Gebiet des menschlichen Lebens für die Frauenbefreiung in Betracht zu ziehen. Nicht nur die Frage: Mädchenschule oder Gymnasium schien ihr wichtig; auch die Erörterung der Probleme der Prostitution, der Interessen der Arbeiterinnen, des Frauenstimmrechtes, sowie eine lebhafte Betätigung in der Oeffentlichkeit durch Presse und Versammlungen wurden von ihr und ihrem Kreise als ein Erfordernis der Zeit erkannt.

Als Leiterin des Vereins „Frauenwohl“ hat Minna Cauer es verstanden, eine Fülle von Problemen in der Oeffentlichkeit zum ersten Male zur Diskussion zu stellen und ihre Durchdenkung und Lösung anzuregen.

Sie hat u.a. den „Kaufmännischen Hilfsverein für weibliche Angestellte“ gegründet, der die erste Berufsorganisation von Frauen war. Im Anschluß an den Verein „Frauenwohl“, der eine Reihe von Jahren die Fahne der Befreiung der Frau am weitesten vorantrug, bildete sich der „Verband Fortschrittlicher Frauenvereine“. Wer sich noch der schweren Kämpfe im „Bund deutscher Frauenvereine“ entsinnt, der herben Mißachtung, die den Vertretern der „radikalen Richtung“ dort zuteil wurde, der grandiosen Verachtung, die von der konservativen Mehrheit damals dem an Zahl erheblich kleineren radikalen Flügel, der „fortschrittlichen Frauenvereine“ (zu dessen Vorstand damals Dr. Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Dr. Käthe Schirmacher, Maria Lischnewska und Helene Stöcker gehörten), der weiß, wie viel die freiheitlichere Entwicklung Frau Minna Cauer für ihr frühzeitiges Verständnis schuldet.

In ihrer Zeitschrift „Die Frauenbewegung“, die sie 25 Jahre lang oft unter großen Schwierigkeiten – eine Zeitlang, mit Frau Lily Braun gemeinsam – herausgab, hat sie den von ihr vertretenen Anschauungen Ausdruck gegeben und Raum zu schaffen gewußt. Mir ist es stets als eines der größten Verdienste in Frau Cauers Wirken erschienen, daß sie, deren Natur sich weniger durch die herbe Wucht und Geschlossenheit anderer Führerinnen der Frauenbewegung offenbarte, als vielmehr durch ein feines, intuitives Verständnis für das Kommende und Zukunftsreiche, dadurch einer Reihe von neuen Bewegungen und jungen Persönlichkeiten Raum zur Entfaltung geschaffen hat, die sonst in der kalten Atmosphäre der strengen Nichts als Lehrerin- und Berufsfrage jener Jahre hätten verkümmern müssen. Durch Frau Cauer intwickelte sich – in besonderer Gemeinschaft mit Dr. Augspurg und Lida Gustava Heymann – die politische Stimmrechtsbewegung. Die Arbeit für das Stimmrecht hat wohl die letzten Jahrzehnte ihres Lebens ganz ausgefüllt. Aus dem Kreise um Frau Cauer ging auch die neue Art von Frauenbewegung – die eine Bewegung beider Geschlechter sein wollte – unsere Bewegung für „Mutterschutz und Sexualreform“ hervor, an der sie selbst zwar keinen tätigen Anteil nahm, die ihr vielleicht auch persönlich nicht ganz lag – sie hat selbst immer betont, daß sie diesen Problemen im Grunde fern stand – für die sie aber doch soviel Toleranz, Tapferkeit und Einsicht bekundete, um gegenüber den Verunglimpfungen und Verdächtigungen der Motive und Tendenzen – gerade auch aus den Kreisen der bürgerlichen Frauenbewegung – den Mut zur Unterstützung und zur Verteidigung der neuen Bewegung aufzubringen.

Der Krieg und seine Folgen haben auch ihre letzten Lebensjahre, wie so vieler anderer Persönlichkeiten, schmerzlich beinträchtigt. Zwar sah sie eine Sehnsucht ihres Lebens – die Gewährung des Frauenstimmrechts – durch die Revolution erfüllt; aber der politische und wirtschaftliche Zustand Deutschlands, wie der Welt überhaupt, hat sie tief deprimiert und erschüttert.

Nun ist auch sie, die ein langes Leben voller Arbeit hinter sich hat, ihren Leiden erlegen. Wir alle grüßen dankbar in der Erinnerung die alte Kämpferin, der unzählige Frauen, die vielleicht nicht einmal ihren Namen kennen, tief zu Dank verpflichtet sind.

Denn von der Härte und Schwere dieses Kampfes um die Entwicklungsfreiheit der Frau macht ein junges Geschlecht von Frauen, dem die heiß erstrebten Güter nun als reife Frucht in den Schoß fielen, sich vielleicht kaum eine klare Vorstellung. Nur in den leidenschaftlichen politischen Kämpfen unserer Tage ist vielleicht eine ähnliche gegenseitige Schärfe und Verbitterung erhalten. Wir, die wir Frau Cauers Wirken gekannt haben, müssen an ihrem Grabe aufs neue mit dem Dank an das, was von ihr geleistet ist, die Erkenntnis verbinden, wie verantwortlich unser aller Stellung ist, die wir glauben zu wissen, was not tut. Eine verdienstvolle alte Kämpferin hat die Waffen niedergelegt. Nun haben wir um so verantwortlichkeitsbewußter und energischer den Kampf um Freiheit, um ein volles Menschenrecht und Menschenglück der Frau – wie der Menschen überhaupt -, den Kampf, der vielleicht nie ganz zu Ende geführt werden kann, an unsererm Teil weiter zu führen.

(Quelle: Stöcker, Helene (1922): Minna Cauer. – In: Die Neue Generation : Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz und der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform, Nr. 7/8, S. 314 -315)

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