Helene Stöcker, 1928
Verehrte Rosa Mayreder!
In eben dem Augenblick, wo ich mit den beredtesten Worten zum Ausdruck bringen möchte, wie ich mich Ihres siebzigjährigen Daseins freue, liege ich, gefällt von schwerer Krankheit, von Fieber und Schmerzen geschwächt.
So kann ich nur in wenigen kargen Sätzen andeuten, wie tief und andauernd die Verehrung ist, die ich Ihrer Persönlichkeit und Ihrem Wirken zolle.
Als vor einem Menschenalter die „Dokumente der Frauen“ erschienen, deren Mitherausgeberin Sie waren, da horchte ich freudig und dankbar auf: das war, innerhalb der organisierten Frauenbewegung, zum erstenmal der Ton, der meiner Wesensart entsprach, die Atmosphäre, in der mir in der Tat möglich erschien, daß eine neue Kultur befreiten männlichen und weiblichen Geistes sich zu entwickeln vermöchte.
Wenige Jahre darauf erschien Ihre ebenso tiefe wie klare Studie: „Zur Kritik der Weiblichkeit“, die übrigens in gleichem Maße eine „Kritik der Männlichkeit“ bedeutete. Die besonderen Vorzüge Ihrer geistigen Eigenart zeigten sich schon darin, wie sie sich bis in Ihre letzten Werke: „Geschlecht und Kultur“ und „Der typische Verlauf sozialer Bewegungen“ erhalten haben; die wundervolle Verbindung resentimentfreier Objektivität mit Lebenswärme, die reife Überlegenheit Ihres echt philosophischen Geistes.
Man spürte aus jedem Ihrer Worte, daß Sie nicht, wie Nietzsche es einmal genannt hat, zu den „denkenden Fröschen“ gehören, „kein Objektivier- und Registrierapparat mit kalt gestellten Eingeweiden“ waren.
Es war mir eine besondere Ehre und Freude, Sie für die kurz vorher von mir geschaffene Zeitschrift: „Die Neue Generation“ als Mitarbeiterin gewinnen zu dürfen, in der ich den Ihren verwandte Ziele verfolgte und verfolge.
Während des letzten Menschenalters habe ich, glaube ich, keine andere Darstellung und Untersuchung der Verschiedenheit männlichen und weiblichen Wesens kennengelernt, die so tief schürft wie die Ihre, so frei über dem Stoff schwebt und damit Männern und Frauen, die für Betrachtungen so überlegener Art überhaupt zugänglich sind, einzige wundervolle Verständigungsmittel in die Hand gegeben hat.
Denen, welche – wie ich – das Glück hatten, auch ein wenig persönliche Freundschaft zu genießen, wurde zugleich die Freude zuteil, neben den reichen Gaben Ihres Geistes auch die unerschöpfliche Lebenskraft, den kostbaren Humor, die Wärme Ihres natürlichen Wesen zu empfinden.
So sind wir dem Schicksal für ein Geschenk so erlesener Art: Ihr Schaffen und Ihre Persönlichkeit kennengelernt zu haben – zu ganz besonderer Dankbarkeit verpflichtet. Und wir haben am heutigen tage nur einen Wunsch an das Schicksal: wir möchten Sie uns in Ihrer herrlichen Jugendfrische, Ihrer köstlichen harmonischen Ausgeglichenheit von Kämpferin und Denkerin, in Ihrer geistigen Leistungsfähigkeit noch lange, lange erhalten wissen.
H.St.
(Quelle: Stöcker, Helene (1928): Zu Rosa Mayreders 70. Geburtstag. – In: Die neue Generation : Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz und der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform, Nr. 12, S. 415 – 416)