1971

Der Kampf gegen das Abtreibungsverbot wird in ganz Westeuropa zum Auslöser der Frauenbewegung. Mit ihrem Start im Frühling 1971 sind die Westdeutschen Frauen die letzten, die aufbegehren.

Le Nouvel Observateur, Nr. 334, 5. April 1971
Le Nouvel Observateur, Nr. 334, 5. April 1971

5. April 1971
Das französische Wochenmagazin Nouvel Observateur veröffentlicht das Manifest der 343. 343 Französinnen bekennen: „Je me suis fait avorter“ – Ich habe abgetrieben. Unter den Unterzeichnerinnen sind u.a. Simone de Beauvoir, Marguerite Duras, Francoise Sagan und Jeanne Moreau. Initiatorinnen der Aktion sind die Féministes Révolutionnaires vom Mouvement de Libération des Femmes (MLF).

April/Mai 1971
Die Frauenzeitschrift Brigitte beklagt in einem Artikel über die ‚internationale Emanzipationswelle’: „Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter und Brautkleider. Es gibt keine Schwestern der Lilith wie in Amerika, nicht einmal Dolle Minnas mit Witz wie in Holland. Es gibt keine kämpferische Zeitschrift, es gibt keine wüsten Pamphlete, kein bedeutendes, aufrührerisches Buch. Es gibt keine Wut.“ All das wird sich bald ändern.

Aufruf zur Selbstbezichtigung

Alice Schwarzer, die zu dieser Zeit als Korrespondentin in Paris lebt und eine der Initiatorinnen des MLF-Manifestes ist, exportiert die Aktion der Französinnen nach Deutschland. Die Journalistin gewinnt den Stern für eine Veröffentlichung eines deutschen Manifestes, findet aber nur drei Frauengruppen, die die Aktion gegen den § 218 mittragen wollen: Die Frankfurter Frauenaktion 70, die SPD und FDP nahe stehen, einen Teil der sozialistischen Münchner Roten Frauen und den Sozialistischen Frauenbund Berlin. Nach einigem Zögern beteiligt sich auch der Frankfurter Weiberrat, der die Aktion zunächst für ‚kleinbürgerlich und reformistisch’ hält. Die meisten Unterschriften für die Selbstbezichtigungs-Aktion werden von einzelnen engagierten Frauen gesammelt.

6. Juni 1971
Der Stern erscheint. Auf dem Titel sind 28 Frauen abgebildet – darunter Senta Berger und Romy Schneider – die bekennen: „Wir haben abgetrieben!“

Stern Nr. 24, 6. Juni 1971
Stern Nr. 24, 6. Juni 1971

Insgesamt 374 Frauen haben den Appell unterzeichnet, in dem sie erklären: „Ich bin gegen den Paragraphen 218 und für Wunschkinder!“ Die Stern-Veröffentlichung wird innerhalb von Tagen zum nationalen Skandal – und Auslöser einer Lawine. Frauen schweigen nicht länger. Sie reden über ihre Angst vor nicht gewollten Schwangerschaften. Über ihre Abtreibungen. Über Sexualität. Und über Gewalt. Sie reden überall: In Büros und Fabriken, in Stadtvierteln und Universitäten.

In Düsseldorf findet das 1. Delegiertentreffen „aller am Kampf gegen den § 218 interessierten Gruppen“ statt. Frauen aus sieben Städten nehmen teil. Es werden weiterhin Selbstbezichtigungen und Solidaritäts-Unterschriften gesammelt. Aus den einzelnen 218-Frauengruppen wird langsam ein Netz, das die ganze Bundesrepublik überzieht.

Die Frauenaktion 70 aus Frankfurt, bestehend aus sozialistischen und liberalen Frauen, hatte den Kampf gegen den § 218 bereits 1970 auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings blieb die Breitenwirkung damals (noch) aus. Nun beteiligen sich die Frankfurter Frauen rege am Kampf gegen § 218.

Ute Geißler: Frauen gegen die Kirche : Polizei gegen die Frauen. Flugblatt, , 1973 (FMT-Signatur: FB.05.037)
Flugblatt Ute Geißler (Detail)

22. Juni 1971
Um sechs Uhr früh stürmt die Polizei die Wohnungen der § 218-Aktivistinnen Edda Albrecht-Wagner und Ute Geißler in München. Die Münchner Gruppe ist unter den ‚§ 218-Gruppen’ die bundesweit aktivste und provokanteste. Die Beamten beschlagnahmen rund 2.000 Solidaritätserklärungen und 150 Selbstbezichtigungen.

Anfang Juli durchsucht auch die Essener Polizei die Räume der Aktion 218. Auch hier ist die Staatsanwaltschaft auf der Suche nach Listen mit Selbstbezichtigungen.

Bundesjustizminister Dr. Gerhard Jahn bei einer SPD-Frauenveranstaltung im Münchner Künstlerhaus am 2. Juli 1971. Quelle: EMMA-Archiv
Bundesjustizminister Dr. Gerhard Jahn

10. Juli 1971
In Frankfurt findet das 2. Delegiertentreffen der Aktion 218 statt. Diesmal nehmen knapp 100 Frauen aus 20 Städten teil. Sie zählen 2.345 Selbstbezichtigungen von Frauen, 973 von Männern und über 86.000 Solidaritätserklärungen. In einem Protestschreiben an Justizminister Jahn (SPD) erklären sie: „Die Aktion 218 und ihre weitreichender Erfolg sind der Beweis dafür, dass Frauen den vom Staat auferlegten Gebärzwang nicht länger als ihr individuelles Problem begreifen. Erstmals beanspruchen wir Frauen, nicht als Stimmvieh behandelt zu werden, sondern uns als aktive, politische Bürger zu artikulieren.“

19. Juli 1971
30 Delegierte der Aktion 218 überreichen dem Justizministerium die 86.000 Solidaritätserklärungen.

Flugblatt der Aktion 218 (FMT-Signatur: FB.05.007)
Flugblatt mit dem Justizminister Jahn

15. August 1971
Der Filmemacher Rosa von Praunheim zeigt in einem Berliner Kino seinen Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt. Der Film, den Praunheim im Auftrag des WDR produziert hatte und der in mehreren Fernsehprogrammen ausgestrahlt wurde, wird ein wichtiger Impuls für die deutsche Homosexuellenbewegung.

2. September 1971
Justizminister Jahn (SPD) kündigt eine Reform des § 218 an. Allerdings entscheidet sich der Minister für die sogenannte Indikationslösung: Ein Schwangerschaftsabbruch soll nur bei ‚medizinisch-sozialer’, ‚ethischer’ oder ‚eugenischer’ Indikation möglich sein, sprich: Bei Gefahr für das Leben der Mutter, nach Vergewaltigung und bei Behinderung des Fötus. Die von den SPD-Frauen und dem Koalitionspartner FDP geforderte Fristenlösung, die einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei lässt, lehnt Jahn ab.

Frauen gegen den § 218 : 18 Protokolle, aufgezeichnet von Alice Schwarzer, 1971 (FMT-Signatur: SE.11.158)
Frauen gegen §218

Alice Schwarzer, die – wie viele ihrer engagierten Kolleginnen – ab Juni 71 in den Medien quasi Schreibverbot zum Thema Abtreibung hat, veröffentlicht ihr erstes Buch: Frauen gegen den § 218. In Gesprächen mit 18 Frauen dokumentiert sie die existenziellen Auswirkungen des Abtreibungsverbotes auf das Leben von Frauen. Es ist typisch für den Zeitgeist der kollektiven politischen Arbeit, dass Autorin Schwarzer in ihrem Band auch einen Kollektivtext der Sozialistischen Arbeitsgruppe zur Befreiung der Frau – Aktion 218, München aufnahm. Das sechsköpfige Redaktionskollektiv analysiert darin die politische Funktion des zu dem Zeitpunkt genau 100 Jahre alten § 218. (Schon in der Historischen Frauenbewegung war die Streichung des § 218 eine zentrale Forderung. Minna Cauer: Menschlich oder juristisch?) Und Alice Schwarzer schildert in ihrem Nachwort den Zeitgeist, den Verlauf der Aktion und die Reaktionen von Politik, Ärzteschaft und Kirchen.

9./10. Oktober 1971
Auf dem 3. Bundestreffen der Aktion 218 beschließen die Teilnehmerinnen, zu Demonstrationen in allen größeren Städten aufzurufen, um die SPD/FDP-Regierung unter Druck zu setzen, die ihr Ohr dichter am Vatikan als an den Frauen zu haben scheint.

Privatsammlung Alice Schwarzer
Demo Paris mit Beauvoir

6. November 1971
In vielen deutschen Städten und in fast allen westeuropäischen Ländern demonstrieren Frauen für das Recht auf Abtreibung und die Selbstbestimmung der Frauen. In Paris gehen über 2.000 Frauen auf die Straße, darunter – erstmals an der Seite der jungen Frauenbewegung – Simone de Beauvoir, die Autorin von Das andere Geschlecht, das zum theoretischen Fundament des neuen Feminismus wird. Sie erteilt damit der Priorität des Klassenkampfes (Hauptwiderspruch) eine Absage und setzt auf den Geschlechterkampf (Nebenwiderspruch).

Foto: EMMA-Archiv / Verlag Kiepenheuer & Witsch
Kate Millet

Das Buch Sexus und Herrschaft der amerikanischen Feministin Kate Millett erscheint auf Deutsch. In ihrer Analyse – ihrer Doktorarbeit – konzentriert sich Millett auf zwei Aspekte, die Funktion der Sexualpolitik und die inneren Fesseln der Frauen: „Da Frauen in einem Patriarchat meist nur ‚Randbürger’ sind, gleicht ihre Situation der anderer Minoritäten und sie weisen die bei einer Minorität zu erwartenden Charakteristiken auf: Gruppenselbsthass und Selbstablehnung, Verachtung sowohl ihrer selbst als auch anderer Frauen.“

Schon 1849 erklärte Frauenrechtlerin Louise Dittmar in ihrem Aufsatz Über das Wesen der Ehe: „Weib, Ehe und Liebe tragen das Sklavenbrandmal.“

> weiter zu 1972

< zurück zu 1968

 

Diese Webseite verwendet Cookies.

Weitersurfen bedeutet: Zustimmung zur Cookie-Nutzung.

Mehr Informationen

OK