Inge Sollwedel: Partnerschaft wird sichtbar

Inge Sollwedel, 1974

Ein Bericht von der Tagung, erschienen in der Frankfurter Rundschau

„… wir laden Sie – Vertreterinnen von Aktionsgruppen und Frauenverbänden, von Fraueribefreiungsbewegungen und pressure groups, aus Politik, Wirtschaft und Kirche, Experten und Interessenten – ein, an diesem Informations- und Diskussionsprozeß teilzunehmen.“ So stand es in einem Brief geschrieben.

Und sie kamen: Über 120 Gewerkschafterinnen, Pfarrfrauen Politikerinnen, Hausfrauen, Studentinnen, Verbandsvertreterinnen und Berufstätige, Junge und Alte, Fortschrittliche und Traditionelle, und Feministen. Gemeinsam mit einem knappen Dutzend männlicher Vertreter wollten sie in der Evangelischen Akademie zu Loccum drei Tage lang über die Emanzipation der Frau referieren, debattieren und rekapitulieren und ein wenig wohl auch polemisieren.

Zwanzig ebenso bekannte wie wahllos zusammengestellte Namen auf dein Programm für Vorträge, Podiumsgespräche und Arbeitsgruppen. Mindestens ebenso viele diskutierfreudige Teilnehmerinnen unter den Zuhörern; dazu eine äußerst zurückhaltende Tagungsleitung – das Chaos schien komplett.

Dabei hatte es wie eine der üblichen Tagungen begonnen. Der Psychologe Dr. Ulrich Beer und der Kultursoziologe Prof. Dr. Demost henes Savramis hielten Plädoyers wider die Degradierung der Frau – klug, frauenfreundlich und mit der angemessenen wissenschaftlichen Untermauerung. Aber eben doch wie der Blinde von der Farbe spricht. Jede der Anwesenden spürte: das war es nicht, weshalb sie gekommen waren. Das waren, die oft gehörten Feststellungen, die stimmen und auch wieder nicht stimmen, die anstoßen und doch nichts verändern. So brach eine Diskussion auf wie ein Sturm. Wild, durcheinander, aggressiv. Gegensätzliche Erfahrungen, unterschiedliche Positionen, kaum vereinbare Denkansätze.

Auf der einen Seite die praktische, allerdings auch selbstzufriedene Gewerkschafterin, auf der anderen Seite die theoretisch fundierte, kämpferische Aktionistin. Viele Worte, viele Reden – und ein verwirrtes Auditorium.

Danach aber klingen andere Töne auf. Leona Siebenschön hat ein Fragezeichen hinter ihr Thema gesetzt. Emanzipation in Familie und Ehe? Und sie fragt bohrend: Wurden der Frau bisher nicht nur solche Rechte eingeräumt, die für ihre Einordnung in eine männliche Welt sorgen? Kommt das scheinbar progressive Leitbild der Karrierefrau nicht mehr dein System zugute als der Frau? Wissen die sogenannten Emanzipierten, die Erfolgreichen nicht längst, daß diese Art Emanzipation ein grober Betrug an ihnen war? Die eigentliche Zielsetzung für die Frau steht noch aus: Erst ist Frauenfeindschaft und Selbstverachtung zu überwinden. Das als Gegenschlag zur verlogenen Mütterlichkeitsideologie entstandene Tabu der Mutterschaft muß sich lösen.

Die Zuhörer sind still geworden. Man merkt: das hier läuft anders. Keine Rolle. Statt Brillanz – Nachdenken. Statt Thesen – ein behutsames Nachfragen, was eine Frau sein könnte. Die Diskussion hat sich verändert. Plötzlich wird wenigstens der kleinste gemeinsame Nenner gesucht. Noch sind sie alle zu sehr mit dem eigenen Erlebnisbereich beschäftigt, um zu akzeptieren, daß Frauenemanzipation als ein kollektives Problem auch kollektiv bewältigt werden muß. Aber die Gruppen, Verbände und Einzelgänger haben sich berührt im Erkennen, daß die Verstümmelung des Menschen, die von der patriarchalen Leistungsgesellschaft ausgeht, sie alle – wo immer sie stehen – gleichermaßen bedroht.

Auftakt am nächsten Morgen: Alice Schwarzer mit dem etwas global geratenen Thema „Emanzipation in unserer Gesellschaft“. Aber was sie daraus macht! Eine blitzgescheite junge Frau erzählt. Erzählt von sich selbst, erzählt von Frauengruppen in USA, in Frankreich, in der Bundesrepublik, von Strategien und Festen, von Aktionen und Theorien, von Arbeit und Solidarität. Sie nennt die Dinge beim Namen, die Unterdrückung wie die Freude, verzichtet auf programmatische Verkündigungen, akzeptiert sich selbst und ihr ganzes Geschlecht.

Die nachfolgenden Referate – Dr. Cornelia Stephans nüchtern-sachliches Fazit beruflicher Notwendigkeiten, Hannelore Mabrys engagierte Analyse des Patriarchats und der gegen den Traditionalismus der Kirche ankämpfende Glaube von Dr. Elisabeth Moltmann-Wendel – fügen sich dann auch bei allen sachlichen und individuellen Unterschieden zu Alice Schwarzers Schlußbekenntnis zusammen: Es ist es wert, eine Frau zu sein!

Die Älteren – gestern noch fast feindlich – begreifen: Was sie gefordert, erkämpft und geleistet haben – diese jungen Frauen leben das nun. Der Nachkriegsalptraum papierner Gleichberechtigung, ohne soziale Wirklichkeit, kehrt sich um. Von Gleichberechtigung ist nicht die Rede eher von der Ungleichbehandlung ungleicher Kräfte als Ende der Sysiphusrolle der Frau und des Prometheusspiels des Mannes. Emanzipation, das könnte so sein …

Das ist neu für Frauen – ihr Recht auf Träume zu proklamieren. Träume von einer Welt, in der das Recht des Schwächeren gilt, in der Verstehen herrscht und gegenseitige Abhängigkeit nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet – die Welt der Feministen.

Längst haben hier in Loccum die Frauen selbst den Tagungsablauf in die Hand genommen, den Hörsaal umgeräumt, so daß man jetzt im Kreis sitzt, Arbeitsgruppen bildet. Die Themen sind nicht neu: Verhältnis zur Kirche, Verhältnis zum Beruf, Verhältnis zur Sexualität, Erziehungsprobleme, Frauengruppen, Frauenpartei.

Auch die am letzten Tage vorgetragenen Arbeitsergebnisse sind so neu nicht. Schließlich kommt fast jeden Monat ein Buch über Frauenfragen heraus – doch hier werden die Arbeitsergebnisse unverkrampfter zur Diskussion gestellt, als das auf Tagungen sonst üblich ist. Keine Forderungen, keine Klagen, keine Beschuldigungen. Dafür der Versuch, bessere Lösungen zu finden als bisher.

Und das Wunder geschieht: die schweigende Mehrheit spricht. 120 Frauen, 120 Gesichter – aber alle sagen „wir“. Und wissen, daß es trotz aller Verschiedenheit paßt, daß sie um das etwas weniger an Entfremdung ringen, das die Frau einzubringen hat, für die Kinder, für die Männer, für eine menschlichere Gesellschaft. Viel beredet, oft bezweifelt, jetzt steht sie greifbar im Raum: Solidarität.

Als zum Abschluß noch einmal „Etablierte“ aus Wissenschaft und Verbänden zu Worte kommen, ist Zusammenarbeit keine leere Formel mehr. Auch Partnerschaft zum Mann wird sichtbar, anders als die derzeit gebotene Formel, in der Mitdenken – Mithandeln nur das Verfolgen männlicher Ziele verlangt. Das ist Feminismus – der sich als System der Hilfe statt des Systems der Gewalt begreift.

(Quelle: Frankfurter Rundschau, 1974)

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