Christian Schulz-Gerstein: Lange Nacht mit Alice Schwarzer

Christian Schulz-Gerstein mit der Frauenrechtlerin auf Deutschland-Tournee

Einer im Saal verstand das ganze Frauen-Gerede nicht, das Gerede von Männermacht und Frauenohnmacht, von sexueller Unterdrückung und ökonomischer Abhängigkeit der Frau.

„Ich bin froh“, erhob sich der kerngesund, wohlgenährt aussehende Mittvierziger, „ich bin froh, ein Mann zu sein. Und alle Mädchen, mit denen ich’s getan hatte, die haben es freiwillig getan und hinterher gesagt, es sei sehr schön gewesen.“

Ein anderer Vertreter des Patriarchats dagegen verstand den Frauenkampf geradezu unterwürfig gut und erzählte in männlich ausschweifender Rede von seiner wundersamen Bekehrung zum Feminismus.

Wo immer Alice Schwarzer, 33, die populärste unter Deutschlands Frauenrechtlerinnen, während ihrer im Oktober gestarteten, kurz vor Weihnachten endenden Diskussionsreihe durch die Republik auftritt, da fühlt sich die Minderheit der Männer in überfüllten Volkshochschulen, Bürgerhäusern und Buchhandlungen herausgefordert. Wenn nach dem halbstündigen Einleitungsreferat zur Situation der Frauen, das Alice Schwarzer längst aus-, aber auch beim 25. Mal noch inwendig vorträgt – mit sanfter Stimme und einem vor Dringlichkeit gehetzten Redefluss – wenn danach die Diskussionen beginnt, dann sind es meist Männer, die sich ermannen und den Anfang machen.

In Büdingen, einer Kleinstadt von 7000 Einwohnern, in der Männer noch Männer sind, muss Alice Schwarzer die stumm und eingeschüchtert dasitzende Frauenmehrheit im randvollen Bürgerhaus ermuntern, sich ein Herz zu fassen und die Diskussion nicht den Männern zu überlassen. Schweigende zum Reden bringen, mutlosen Mut machen und die Schwachen zu stärken, diese charismatische Fähigkeit der Alice Schwarzer verfehlt auch in Büdingen ihre Wirkung nicht.

Eine unscheinbare Frau steht auf, entschuldigt sich lapidar („Mir sind vor ein paar Tagen die Zähne ausgeschlagen worden“) für ihre schlechte Aussprache. Sie hat wie viele Frauen in diesen Versammlungen keine spezielle Frage, sie will nicht diskutieren mit Alice Schwarzer, sie will ihr etwas von sich erzählen. „Ich bin 40 Jahre alt, habe drei Kindern und einen gut verdienenden Mann. Seit einigen Wochen gehe ich putzen. Endlich einmal habe ich eigenes Geld, von dem ich mir jetzt eine Stereoanlage gekauft habe. Außer meinen Kindern ist die Stereoanlage das einzige, was mir nach 20 Ehejahren gehört.“ Vom nächsten Geld werde sie sich dann ein Auto kaufen. „Denn ein Auto hat Räder, und es trägt mich hinaus.“

In Offenbach fasst sich kurz vor Ende eine junge Arbeiterin ein Herz, die in ihrem bisherigen Leben ein einziges Buch gelesen hat, Alice Schwarzers Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“. Ihre Stimme zittert, sie wird rot, schämt sich hier in einer Buchhandlung vor so vielen Leuten, die wahrscheinlich das Abitur haben, ihres breiten hessischen Dialekts.

Alice Schwarzer aber hört unverwandt zu, und die junge Frau erzählt nach so viel Hindernisläufen nun nichts weiter als eine die nebensächliche Begebenheit, wie sie mal Männern in der Kneipe einen Schnaps ausgeben wollte, wie die da richtig beleidigt waren, sie ausgelacht, ihr in den Hintern gekniffen und dann selber einen ausgegeben haben. Es sind immer wieder diese Frauen aus den sozialen Niederungen, Angehörige einer sozialen Schicht, die man sonst in kulturellen Veranstaltungen nicht antrifft, die sich von Alice Schwarzer von vorneherein verstanden fühlen.

Was ist an dieser Person, die in der Medien-Öffentlichkeit als „Hexe mit stechendem Blick“ (Bild), als „frustrierte Tucke“ (Süddeutsche Zeitung), als „Amazone, kämpferisch von Kopf bis Fuß“ (Stern), gilt, dass in Darmstadt, Buß- und Bettag vormittags um elf Uhr 2000 Leute zu dieser „Nachteule mit dem Sex einer Straßenlaterne“ (Münchner Abendzeitung), strömen, dass selbst in Bündigen, wo man nach Einbruch der Dunkelheit keine Menschenseele mehr auf den Straßen trifft, abends das Bürgerhaus gerammelt voll ist und dass sie selbst auf ihre Gegner, in deren Eheleben alles ganz anders als bei ihr beschrieben zugeht, noch sympathisch wirkt?

Es muss wohl an dem kleinen Unterschied liegen zwischen der öffentlichen Figur Alice Schwarzer, die bis zur Karikaturreife als kastrationswütiges Monster populär gemacht wurde, und der leibhaftigen Person, der eine vertrauenseinflößende Melancholie unübersehbar im Gesicht geschrieben steht. In ihren Vorträgen spricht sie auf viel vom „Leidensdruck der Frauen“, von dem Ziel, „die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu vermenschlichen“, davon, dass die Frauenbewegung „ein Klima der Dringlichkeit“ schaffen wolle.

„Wir sind ja keine befreiten Frauen, die andere Frauen befreien wollen und die nun genau wissen, wie man’s macht.“ Die sachlichen Fragen in den Diskussionen, warum Männer aus den Frauengruppen ausgeschlossen seien, ob der eigentliche Feind der Frauen nicht der Mann, sondern das Kapital sei, diese sachlichen Fragen langweilen sie eher. Sie antwortet mit routinierter Schlagfertigkeit, wenn ein Mann wissen will, woher sie die Behauptung von der nervlichen Unempfindlichkeit der Vagina habe: „Haben Sie mal einen Tampon getragen?“

Und die meisten ihrer Entgegnungen beginnt sie mit dem Hinweis, sie habe zwar schon tausendmal gesagt, etwa, dass sie nichts gegen Männer habe, „aber für Sie will ich es gern noch mal sagen“. Denn „Frauenkampf ist nicht in erster Linie ein Kampf gegen Männer, er ist ein Kampf für Frauen. Allerdings richtet er sich gegen Männer, wo sie individuell und gesellschaftlich auf Kosten von Frauen an ihren Privilegien festhalten.“

Zu theoretischen Diskussionen über die sogenannte Geschlechterfrage hat Alice Schwarzer schlicht keine Lust. Auf soziologische Fachsimpeleien – „Was wollen Sie eigentlich mit dem Frauenkampf erreichen? Wollen Sie die Misere dieser Gesellschaft auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilen, oder wollen Sie eine bessere Gesamtgesellschaft?“ – lässt sie sich je nach Stimmung im Saal ein oder nicht.

Bei dieser Art Fragen spielt sie mit ihren Haaren, nippt unwillig-ungeduldig am Selterswasser und reagiert dann allergisch, als ob sie gar nicht zugehört hätte: „Einige Genossen glauben immer, sie haben die Wahrheit gepachtet. Aber ich will hier keine Expertendiskussion, mich interessiert nur die Betroffenheit.“

Gelegentlich auch flieht die in kleinere Gesprächsrunde ganz und gar undogmatische, bis zur Selbstironie humorige Feministin vor dem öffentlichen Zwang, auf alle Fragen eine Antwort wissen zu müssen, eben auch auf Fragen, die sie weder beschäftigen noch interessieren, in die Rolle der Oberlehrerin, die bündig Bescheid gibt, wie überhaupt die Bestimmtheit, mit der Alice Schwarzer reden und auftreten kann, oft wie ein selbst erteilter Befehl wirkt, sich in der Öffentlichkeit keine Blöße zu geben, in der Öffentlichkeit, vor der sie jedes Mal wieder eine Anfangsscheu erst überwinden muss.

Da kommt ihr dann erst in den ersten Minuten forsches Feministinnen-Vokabular nur zögernd über die Lippen; zu Wörtern wie „Männergesellschaft, Männernormen“, die sie schon wenig später ganz selbstverständlich benutzt, zuckt sie leicht mit den Achseln, entschuldigt sich, dass sie das „jetzt mal so verallgemeinernd sagen „müsse, hinterher könne man das ja „noch vertiefen“. „Das Wesen mit Penis“, von dem sie sonst zu sprechen pflegt, umschreibt sie in den ersten Minuten als „Wesen mit… ich weiß auch nicht was, wir brauchen ja auch nicht gleich so in die delikaten Einzelheiten zu gehen.“

Und manchmal, wie in Offenbach, zögert sie überhaupt ihren Auftritt hinaus, geht fünf Minuten vorher in die nächstgelegene Kneipe und lässt sich bei Bier und Schinkenbrot in aller Seelenruhe nieder.

Wenn dann aber glücklich alles vorüber ist und sich zu vorgerückter Stunde die Mühsamen und Beladenen mit ihren persönlichen Nöten um sie scharen, dann lebt sie nach dem anstrengenden Frage- und Antwortspiel wieder auf, schlägt vor, man sollte sich doch in Ruhe in ein Lokal setzen.

Fragt man einmal umgekehrt sie nach ihrem Leben, dann erhält man von Alice Schwarzer einen biografischen Abriss, den sie wachsam gegen psychologisierende Deutung ihrer heutigen Aktivitäten absichert.

Als uneheliche Tochter 1942 in Wuppertal geboren, sei sie bei ihren Großeltern, sozialen Absteigern, aufgewachsen, umhegt von einem zärtlichen Großvater, einem unmännlichen Mann. Diese nicht von dem schlagenden Vater geprägte Kindheit, den man bei einer Feministin vielleicht gern vermutet hätte, war dennoch getrübt durch „die zerrüttete Ehe meiner Großeltern“. „Meine Sympathien gehörten dabei dem leidenden Mann. An meinem Großvater habe ich die Auswirkungen der weiblichen Frustration auch auf den Mann erfahren.“

Ihre „chaotische Schulzeit“ schloss Alice Schwarzer mit der mittleren Reife ab. Mit weitem Kopf und engem Geldbeutel, mit dem einzig konkreten Wunsch, „selbständig zu sein und der Familie nicht auf der Tasche zu liegen“, habe sie nach der Schule „völlig perspektivlos“ vor dem Berufsleben gestanden. Damals sah sie zufällig einen Film, in dem Doris Day, die sie früher schon nicht leiden konnte, eine Innenarchitektin spielte, und die 16-jährige Alice Schwarzer dachte: „Wirst du also mal Innenarchitektin.“ Als das aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes war, als im Kino, machte sie eine kaufmännische Lehre, obwohl „alles kaufmännische mir ein Greuel war“. Sie verdingte sich in der Buchhaltung einer Wuppertaler Firma für Autozubehör, nach Feierabend ging sie tanzen und schwärmte für Elvis Presley.

Als Alice Schwarzer auch in diesem Beruf ihre Fähigkeiten irgendwie brachliegen fühlte, versuchte sie sich als Sekretärin, erst in einer Düsseldorfer Werbeagentur, danach in einem Münchener Verlag. Die Arbeit interessiert sie auch hier nicht im mindesten, aber sie beginnt sich in ihrer immer noch ziellosen Unzufriedenheit Gedanken über ihre Lage und über die Lage anderer zu machen. Nach Feierabend geht sie zu kirchlichen Diskussionszirkeln, sie nimmt am Ostermarsch teil. Eines Tages beschließt Alice Schwarzer, Journalistin zu werden. Sie erinnert sich daran, dass sie ja auch etwas kann, früher schon konnte: schreiben, und sie denkt, dass Schreiben zugleich ja auch eine Tätigkeit sei, mit der man etwas verändern konnte. Alice Schwarzer verlässt Deutschland, zieht nach Paris. Sie geht schrubben, verdient sich Geld für einen Französischkurs an der Sorbonne, wo sie den Völkerkundler Bruno kennen lernt, mit dem sie neun Jahre zusammenlebt. In Deutschland volontiert sie dann zwei Jahre bei den Düsseldorfer Nachrichten, schreibt vor allem über sozialpolitische Themen. Alice Schwarzer wurde später Reporterin, bei Pardon, „einem typisch linken Blatt mit rechter Praxis“, bei dem es sie nicht lange hielt.

1969 kehrt sie zurück nach Paris – als politische Korrespondentin des WDR. Nebenher studiert sie zwei Jahre Psychologie und Soziologie in Vincennes, der aus den Mai-Kämpfen der Studenten hervorgegangenen Experimentier-Universität, an der kein Abitur verlangt wurde. Als 1970 die französische Frauenbewegung gegründet wurde, in der Alice Schwarzer dann mitarbeitete, begann sie, ihr journalistisches Engagement auf die Frauenfrage zu konzentrieren.

Als eine Frau, die im entscheidenden Moment die Ärmel hochkrempelt statt in Tränen auszubrechen, so sieht sie sich selbst und so erzählt es auch ihre Biografie, als die Biografie einer Frau, die im Notfall auf niemanden angewiesen ist.

(Quelle: Die Zeit, 12.12.1975)

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