Alice Schwarzer: Simone de Beauvoirs Wende zum Feminismus

Alice Schwarzer: Interview mit Beauvoir, 1972

Dieses Interview machte Frauengeschichte. 23 Jahre nach Erscheinen von „Das andere Geschlecht“, in dem Simone de Beauvoir ausdrücklich geschrieben hatte, sie sei Anti-Feministin und hoffe auf die Befreiung der Frauen durch den Sozialismus, machte diese bedeutendste Theoretikerin der Frauenfrage eine Kehrtwendung: Seite an Seite mit der neuen Frauenbewegung ging sie auf die Straße, bezichtigte sich selbst der Abtreibung und forderte die Frauen auf zur autonomen Organisation. Gerade auch in der Bundesrepublik, wo viele der Frauen schwer am Legitimationsdruck der Linken gegenüber trugen, war dieses Interview ein Durchbruch: es wurde mit Eifer gelesen, vervielfältigt, propagiert. Das Gespräch führte Alice Schwarzer.

Hier die wesentlichsten Auszüge:

Frage: Madame, Ihre Analyse der Situation der Frau ist immer noch die radikalste. Seit Erscheinen Ihres Buches „Das andere Geschlecht“ im Jahre 1949 ist kein Autor weiter gegangen als Sie, und Sie vor allem haben die neuen Frauenbewegungen inspiriert. Aber erst jetzt – nach 23 Jahren – haben Sie sich erstmals aktiv in dem konkreten und kollektiven Kampf der Frauen engagiert. Sie sind in Paris mit den Französinnen auf die Straße gegangen und beim internationalen Frauenmarsch mitmarschiert. Warum?

Simone de Beauvoir: Weil sich in den letzten 20 Jahren die Situation der Frau nicht wirklich geändert hat. Und als mich die Frauen von der französischen Frauenbewegung fragten, ob ich nicht mit ihnen zusammen an dem Abtreibungs-Manifest, in dem wir uns selbst der Abtreibung beschuldigt haben, arbeiten wolle, da habe ich gedacht: Das ist der richtige Weg, um die Aufmerksamkeit auf diesen größten Skandal, den es heute überhaupt gibt, auf das Abtreibungs-Verbot, zu lenken! So hat das angefangen.

Frage: Über den Begriff „Feminismus“ gibt es viele Mißverständnisse. Wie ist Ihre Definition?

Simone de Beauvoir: Ich erinnere mich, daß ich am Ende des „Anderen Geschlechts“ sagte, ich sei Anti-Feministin, denn ich dachte, daß die Probleme der Frauen sich in einer Entwicklung zum Sozialismus von selbst lösen würden. – Feministen sind Frauen – oder auch sogar Männer -, die (vielleicht in Verbindung mit dem Klassenkampf, aber doch außerhalb) für die Frau kämpfen ohne die erstrebte Veränderung unbedingt von der Gesamtgesellschaft abhängig zu machen. In diesem Sinne bin ich heute Feministin. Denn ich habe eingesehen, daß der Kampf auf der politischen Ebene nicht so schnell zum Ziel führt. Wir müssen also für die konkrete Situation der Frau kämpfen, bevor der erträumte Sozialismus kommt. Außerdem habe ich eingesehen, daß selbst in den sozialistischen Ländern die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau nicht eingetreten ist.

Hinzu kommt – und das ist, glaube ich, für viele Frauen einer der Gründe, warum sie die Frauenbewegungen geschaffen haben —, daß selbst in den linken, ja sogar in den revolutionären Gruppen und Organisationen eine tiefe Ungleichheit zwischen Mann und Frau besteht. Die niedrigsten, langweiligsten und bescheidensten Arbeiten wurden immer noch von Frauen gemacht, und die Männer führten immer noch das Wort, sie schrieben die Artikel, sie machten alle interessanten Dinge und übernahmen die größten Verantwortungen. Selbst innerhalb dieser Gruppen also, die im Prinzip dazu da sind, alle zu befreien – auch die Frauen und die Jugend -, selbst da blieb die Frau minderwertig. Es ist also unbedingt notwendig, daß die Frauen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen.

Frage: Was halten Sie – im augenblicklichen Stadium der Auseinandersetzung — von der Ausschließung der Männer aus der kollektiven Frauenarbeit, wie es ja bei der Mehrheit der Frauenbewegungen und auch in Frankreich der Fall ist?

Simone de Beauvoir: Ja, da bin ich dafür. Ich bin für die Ausschließung der Männer, bis zu einem gewissen Punkt. Das ist eine Frage des Stadiums. Es gibt dafür mehrere Gründe: Zunächst einmal muß man damit rechnen, daß die Männer auch in diesen Gruppen sich die männlichen Reflexe nicht verkneifen könnten, daß sie sprechen und kommandieren würden. Andererseits haben viele Frauen — was immer sie auch sagen, und oft wissen sie es auch — ein gewisses Gefühl der Minderwertigkeit, eine gewisse Schüchternheit. Wenn Männer da sind, würden viele es nicht wagen, so frei zu sprechen, wie sie es tun, wenn sie unter sich sind. Besonders wichtig ist es, daß die Frauen innerhalb ihrer Gruppen nicht auf ihren Mann oder Freund stoßen, auf niemanden, an den sie zu sehr gebunden sind, weil sie sich ja gerade auch von ihm befreien müssen.
Im Augenblick erlaubt weder die Mentalität der Männer noch die der Frauen eine wirklich ehrliche Diskussion in einer gemischten Gruppe.

Frage: Ist die Ausschließung der Männer für Sie nur eine praktische Frage, weil die Frauen gehemmter wären usw.? Oder ist sie auch eine politische Frage? Weil – so argumentieren die Feministinnen – der Mann nicht nur das die Frau ausbeutende System geschaffen hat und es repräsentiert, sondern weil er von der Unterdrückung der Frau auch individuell profitiert und darum, in einer ersten Etappe, Feind Nummer eins ist.

Simone de Beauvoir: Ja, sicher, aber das ist nicht so einfach. Da trifft zu, was Marx über die Kapitalisten sagte: Auch sie sind Opfer. Selbstverständlich ist es zu abstrakt, zu sagen, wie ich es eine Zeitlang getan habe, daß man nur gegen das System angehen müsse. Man muß als Frau selbstverständlich gegen die Männer angehen. Schließlich ist man nicht ungestraft Komplize und Profiteur eines Systems, selbst wenn man es nicht geschaffen hat, selbst wenn es nicht von den Männern von heute gemacht worden ist. Ein Mann von dreißig, zum Beispiel, hat diese patriarchalische Welt nicht eingerichtet, aber er profitiert in einer gewissen Weise, selbst wenn er zu denen gehört, die nicht profitieren wollen. Er tut es trotzdem, denn er hat sicherlich eine Menge Dinge verinnerlicht. Folglich muß man einmal gegen das System angehen und zum zweiten den Männern, wenn schon nicht feindlich, so doch mindestens mißtrauisch gegenüberstehen. Die Frauen müssen also gleich das System und die Männer angreifen.

Frage: Nach Erscheinen des „Anderen Geschlechts“ hat man Ihnen oft vorgeworfen, bei der Analyse stehengeblieben zu sein und keine Taktik für die Befreiung der Frauen entwickelt zu haben.

Simone de Beauvoir: Das stimmt. Ich gebe zu, daß das in meinem Buch zu kurz kommt. Ich höre mit einem vagen Vertrauen in die Zukunft, in die Revolution und in die Sozialisten auf.

Frage: Welche konkreten Möglichkeiten sehen Sie zur Befreiung der Frauen? Individuell und kollektiv?

Simone de Beauvoir: Als allererstes müssen die Frauen außer Haus arbeiten. Als zweites, wenn möglich, die Heirat verweigern. Ich hätte ja auch Sartre heiraten können, aber ich glaube, daß wir klug waren, es nicht getan zu haben. Denn wenn man verheiratet ist, dann behandeln die Leute einen auch als verheiratet, und zum Schluß hält man sich selbst für verheiratet. Man hat als Verheiratete durchaus nicht dieselben Beziehungen zur Gesellschaft wie eine Nicht-Verheiratete. Die Heirat ist gefährlich für die Frau.
Was aber vor allem zählt, wenn man wirklich unabhängig sein will, das ist ein Beruf, das ist die Arbeit. Den Rat gebe ich allen Frauen, die mich fragen. Das ist die notwendige Voraussetzung, die ihnen erlaubt, sich scheiden zu lassen, wenn sie wollen. So können sie sich selbst und ihre Kinder ernähren, sie sind nicht abhängig und können ihr Leben realisieren.
Das heißt, die Arbeit ist auch kein Wunderheilmittel. Ich weiß sehr gut, daß die 4 Mark Stundenlohn einer Arbeiterin oder Putzfrau nicht gerade wirklich unabhängig machen. Ich weiß, daß heute die Arbeit nicht nur befreiend sondern auch entfremdend ist. Folglich müssen Frauen oft zwischen zwei Entfremdungen wählen: die der Hausfrau und die der Berufstätigen. Trotzdem ist die Lohnarbeit die erste Voraussetzung zur Unabhängigkeit.

Frage: Haben Sie die Vision einer Welt, in der die Frauen befreit sein werden?

Simone de Beauvoir: Ich glaube nicht, daß etwas Besonderes von der Weiblichkeit zu erwarten ist. Trotz allem ist es doch eine Assimilierung, die wir anstreben und nicht die Entwicklung spezifisch weiblicher Qualitäten. Ich glaube nicht, daß die Frauen, wenn sie die Gleichberechtigung erreicht haben, etwas ganz besonders Interessantes, Poetisches, eben weibliche Werte entwickeln. Es ist eine Tatsache, daß die universale Kultur, die Zivilisation und die Werte alle von Männern geschaffen wurden. Doch genau wie das Proletariat ablehnt, daß die Bourgeoisie die universale Klasse sei, ohne aber alle bourgeoisen Werte abzulehnen, sondern sie sich aneignet, genauso sollten die Frauen in Gleichheit mit den Männern sich die von Männern geschaffenen Werte aneignen statt sie abzulehnen. Beim Schaffen der universalen Werte haben ihnen die Männer sehr oft ihre eigene, virile Note gegeben. Sie haben beides – Universalität und Männlichkeit – auf eine sehr tückische und subtile Art und Weise vermischt. Es handelt sich also darum, das eine vom anderen zu trennen, die Trübung zu entfernen. Das ist möglich, und das ist eine der Aufgaben, die die Frauen haben. Aber was heißt das denn letzten Endes: das männliche Modell ablehnen? Wenn eine Frau Karate lernt, dann ist das doch männlich. Und ich finde gut, daß sie es tut. Man darf die Welt der Männer nicht ablehnen, denn sie ist gleichzeitig die Welt überhaupt. Und schließlich auch unsere Welt. Die Frau wird, ebenso wie der Mann etwas schaffen, das so anders und so neu ist wie das der anderen Männer. Aber ich denke nicht, daß sie neue Werte schaffen wird. Wenn man das glaubt, dann glaubt man an eine weibliche Natur – wogegen ich mich immer gewehrt habe.

(Quelle: Pardon, 1972, Nr. 2 )

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