1984

17. März
Die Herausgeberin und Gründerin der Unseren kleinen Zeitung Kitty Kuse feiert ihren 80.Geburtstag. Die Ausstellung Eldorado, die zwei Monate später eröffnen wird, hat ihre Lebensgesichte aufgezeichnet.[1]

EMMA, 7/1984

18. April
In Hamburg traut erstmals Mal ein Pfarrer ein Frauenpaar: die Taxifahrerin Sabine Löschenkohl und die Hausfrau Sylvia Hansen. Das Medienecho ist groß. „Lesben-Hochzeit: Liebe auf den ersten Blick“ (BILD), „Das lesbische Ehepaar: Ein Herz und eine Seele“ (Bild der Frau)EMMA berichtet in einer Titelgeschichte über die historische Trauung. In ihrem Kommentar plädiert Alice Schwarzer für die Homo-Ehe, die zu diesem Zeitpunkt von einem Großteil der feministischen homosexuellen Frauen selbst als „patriarchales Herrschaftsinstrument“ abgelehnt wird. Schwarzer hingegen argumentiert: „In einer zwangsheterosexuellen Welt wie der unseren ist und bleibt es eine Unerhörtheit, die homosexuelle Liebe so ernst zu nehmen wie die heterosexuelle.“15  Die Ereignisse geben ihr recht: Die nordelbisch-lutherische Kirche strengt ein Verfahren wegen Amtsmissbrauch gegen Pfarrer Christian Arndt an, die Trauung wird für ungültig erklärt. Der Pastor erhält von der Kirche einen Verweis.

EMMA 3/1984

26. Mai
In Berlin eröffnet am 26. Mai die Ausstellung Eldorado – 100 Jahre Homosexuelle in Berlin im Berlin Museum, an der u.a. auch Ilse Kokula mitgearbeitet hat. Der Titel erinnert an fünf Berliner Lokale mit dem Namen Eldorado, die bis zu den 1930er Jahre Szenetreffpunkte von Homosexuellen waren.

Die Geschichte von lesbischen Frauen nimmt inhaltlich und räumlich genau die Hälfte der Ausstellung ein. Zu Beginn der Planung ist dies nicht vorgesehen, über zwei Jahren erkämpfen sich die lesbischen Ausstellungsmacherinnen einen gleichberechtigten Raum.

„Der Prozeß des Sichtbarmachens von Frauen, die Frauen liebten, beinhaltet für die forschende Frau selbst im doppelten Sinne Sichtbarwerden. Geschichtliche Existenzen von frauenliebenden Frauen, ihre Zusammenhänge untereinander werden sichtbar; und sie selbst wird es: Für sich in der gefundenen Tradition – wie für andere.“[2]

Die Ausstellung ist ein Erfolg und es kommen über 40.000 BesucherInnen.

EMMA 6/1984

Sommer
Die Soziologinnen Brigitte Reinberg und Edith Rosbach präsentieren der Öffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Diplomarbeit. Die beiden Frauen haben im Herbst 1981 in einer Arbeitsgruppe im LAZ mit ihrem Forschungsprojekt angefangen. In einer Fragebogenaktion befragen sie 372 lesbische Frauen zu ihren Diskriminierungserfahrungen in einer heterosexuellen Welt. Es ist zu diesem Zeitpunkt die größte Befragung lesbischer Frauen in der Bundesrepublik. Die Befragten sind zwischen 21 und 26 Jahre alt und 87% fühlen sich der Lesben- und Frauenbewegung zugehörig.[3]

Die Ergebnisse sind ernüchternd. 76% der Befragten gaben an, Diskriminierung in der Öffentlichkeit erlebt zu haben. 73% in der Familie, 63% im Freundes- und Bekanntenkreis, 52% in der Schule oder Universität, 48% in medizinischen oder therapeutischen Bereich, 46% am Arbeitsplatz und 23% im Wohnbereich. Dabei waren Doppelnennungen möglich. Zusätzlich hatten 52% Zwänge zu heterosexuellen Handlungen in allen der genannten Bereichen erlebt. Ursache dafür sei die unhinterfragte gesellschaftliche Vorannahme, so die Autorinnen, dass „Männer ein Recht auf die Sexualität von Frauen” hätten. Heterosexualität erhalte und garantiere die soziale Geschlechterhierarchie.[4] Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Umfrage: Ein nicht unerheblicher Teil der Diskriminierung ging auf heterosexuelle Frauen zurück, zum Beispiel Freundinnen, Mütter, Schwestern oder Kolleginnen.[5] Die Autorinnen arbeiten anhand der Erfahrungsberichte zwei Strategien der Diskriminierung heraus: Totschweigen und Missachten der weiblichen Homosexualität vs. Aggressivität gegenüber und Angriff auf Lesben.[6]

In den kommenden Monaten touren die beiden Soziologinnen durch die Republik und präsentieren ihre Ergebnisse auf diversen Veranstaltungen, wie zum Beispiel auf der ersten Berliner Lesbenwoche 1985.

Dagmar Schultz und Audre Lorde 1986, ©FMT

Sommersemester
Die Dichterin und Feministin Audre Lorde kommt als Gastprofessorin an die Freie Universität Berlin. 300 Zuhörinnen erscheinen zu ihrer Antrittsvorlesung. Vor allem für schwarze lesbische Frauen wird die Begegnung mit Lorde zu einem wichtigen Katalysator. Sie entwickelt zusammen mit Schwarzen Aktivistinnen den Begriff „Afrodeutsch“, später „Schwarze Deutsche“. Daraus entwickelt sich neues kollektives Selbstbewußtsein und eine bundesweite Mobilisierung.“[7]

Die Anwesenheit Lordes und ihre Arbeit in der deutschen Frauenbewegung wird für Schwarze Frauen „zu einem einschneidenden Wendepunkt.“[8] Unter anderem inspirierte Lorde die afro-deutschen FrauenLesben zu einem Buchprojekt. 1986 publizieren Dagmar Schultz, Katharina Oguntoye und May Opitz „Farbe bekennen – Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“.[9] Die Schriftstellerin Katharina Oguntoye beschreibt die Antrittsvorlesung auch als ein Schlüsselerlebnis für die weiße bundesdeutsche Frauenbewegung.

FMT, FE.16.028-2020

Die von Zuneigung geprägte Beziehung zwischen Lorde und der Bewegung habe die weißen deutschen Frauen in den folgenden acht Jahren dazu gebracht, sich dem Tabu des Rassismus in Deutschland zu stellen und es letztendlich zu brechen.[10] In ihren Vorlesungen schafft Lorde es, dass sich die Teilnehmenden mit Rassismus und Ausgrenzungsformen auseinandersetzten.[11]

Herbst
Der neu gegründete lesbisch-feministische Schabbeskreises in Berlin thematisiert das Jüdischsein in der deutschen FrauenLesbenbewegung. Der erste öffentliche Auftritt des Kreises auf der Berliner Lesbenwoche 1985 in einer Veranstaltung zu Antisemitismus und Feminismus gerät zum Eklat. Der Kreis lässt sich von den Reaktionen nicht unterkriegen und ist in den folgenden Jahren, bis zu seiner Auflösung 1989, auf verschiedenen Treffen der Bewegung an Diskussionen um Antisemitismus maßgeblich beteiligt. „Ich denke, daß wir im Schabbeskreis gemeinsam ein paar ganz entscheidende Schritte getan haben und zu den ersten gehörten, die die Homogenität der bundesdeutschen Frauenbewegung in Frage stellten“, resümiert eine der GründerInnen.[12]

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[1] Vgl.: Kesse Käthe. In: EMMA 3/1984.

[2] Roggenkamp, Viola: Eldorado. 100 Jahre Homosexuelle in Berlin. Eine Ausstellung. In: EMMA 3/1984, S.49.

[3] Vgl.: Roggenkamp, Viola: Die Angst vor der lesbischen Schwester. In: EMMA 6/1984.

[4] Vgl.: Reinberg, Brigitte; Roßbach, Edith: Stichprobe: LESBEN – Erfahrungen lesbischer Frauen mit ihrer heterosexuellen Umwelt. In: Vorbereitungsgruppe Lesbenwoche [Hrsg.]: „Mit allen Sinnen leben”, Dokumentation der 1. Berliner Lesbenwoche 26.10-2.11.1985, Berlin 1986, S. 70-83, hier S. 71.

[5] Vgl.: Roggenkamp, Viola: Die Angst vor der lesbischen Schwester. In: EMMA 6/1984.

[6] Vgl.: Reinberg, Brigitte; Roßbach, Edith: Stichprobe: LESBEN – Erfahrungen lesbischer Frauen mit ihrer heterosexuellen Umwelt. In: Vorbereitungsgruppe Lesbenwoche [Hrsg.]: „Mit allen Sinnen leben”, Dokumentation der 1. Berliner Lesbenwoche 26.10-2.11.1985, Berlin 1986, S. 70-83, hier S. 76.

[7] Ekpenyong, Ani; Eding, Jasmin; Eggers, Maisha; Kinder, Katja; Piesche, Peggy: Transformationspotentiale, kreative Macht und Auseinandersetzungen mit einer kritischen Differenzperspektive. Schwarze Lesben in Deutschland. In: Dennert, Gabriele/ Leidinger, Christiane/ Rauchhut, Franziska [Hrsg.]: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 164-167, hier S. 166.

[8] Oguntoye, Katharina: Mein Coming-out als Schwarze Lesbe in Deutschland. In: Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchhut, Franziska [Hrsg.]: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 160-163, hier S. 161.

[9] Vgl. Dennert [u.a.], S.133.

[10] Oguntoye, Katharina: Mein Coming-out als Schwarze Lesbe in Deutschland, in: Dennert, Gabriele; Leidinger, Christiane; Rauchhut, Franziska [Hrsg.]: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 160-163, hier S. 161.

[11] Ebd.

[12] Baader, Maria: Zum Abschied. Über den Versuch, als jüdische Feministin in der Berliner Frauenszene einen Platz zu finden. In: Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung Hrsg.v. Hügel, Ika; Lange, Chris; Ayim, May; Bubeck, Ilona; Aktaş, Gülşen; Schultz, Dagmar, Berlin 1993, S. 82-93.

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