Solidarität und Diskriminierung

Forderung nach Abschaffung der Diskriminierung von Lesben, FMT, FB.04.127

Lesben-, Frauen- und Schwulenbewegung

„Mit wem können wir nun diese alternativen Lebensformen politisch offensiv vertreten?“[1] Diese Frage stellt Ilse Kokula 1985 auf der 1.Berliner Lesbenwoche. Seit Beginn der 1970er Jahre sind Lesben in der Bundesrepublik auf der Suche nach Verbündeten und Räumen, in denen sie ihre Sexualität leben und für ihre politischen Rechte kämpfen können. Möglichkeiten dazu finden sie sowohl in der Frauen- wie auch der Schwulenbewegung. In beiden Bewegungen engagieren sich lesbische Gruppen seit Anfang der 1970er Jahre.

Verbündete finden Lesben in der Schwulenbewegung, deren Aktivisten ihre Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Sexualität teilen. Vielerorts, zum Beispiel in Köln und Berlin nennen sich lesbische Frauen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre „schwule Frauen.“ Mit der Frauenbewegung teilen sie die Ablehnung des patriarchalen Systems.

Die Neue Frauenbewegung erleben lesbische Frauen sowohl als befreiend wie auch als Ort erneuter Zurückweisung und politischer Enttäuschung. So erlebt eine Kölnerin auf dem Bundesfrauenkongress 1972 offen gelebte lesbische Liebe und kommt zu dem Schluss, „daß die Liebe unter Frauen ihren Ort in der Gesamt-Frauenbewegung haben muß. Hier wären sie nicht isoliert …“[2]

Aber das stößt zumindest Anfang der 1970er Jahre schnell an Grenzen, vor allem, wenn Lesben ihre Sexualität aus dem Bereich des Privaten in den des Politischen holen wollen. Eine Frau aus dem Rheinland berichtet:

Ich schlug vor, einen Arbeitskreis innerhalb der ‘Aktion 218’ zu gründen, in dem lesbische Frauen ihre eigene Problematik angehen und verändern könnten. Die Reaktion der Gesamtgruppe auf diesen Vorschlag schwankte zwischen betretenem Schweigen, spöttischen Lächeln und offener Ablehnung. ‘Eine solche Gruppe hat innerhalb der Aktion nichts zu suchen.’”[3] Frauen aus Münster berichten, dass ihre heterosexuellen Mitstreiterinnen „[…] erschrecken, wenn das Wort ‚lesbisch‘ überhaupt fällt.“[4]

Frauenzentrum Hornstraße, FMT, FT.02.0237

Aufgrund von Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen fühlen sich manche Lesben zu Beginn der 1970er Jahre zunächst mehr zur Schwulenbewegung hingezogen. Diese entsteht im Zuge der Reformierung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches im Jahr 1969 und gewinnt mit der Ausstrahlung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim weiter an Kraft. Der Kampf gegen den Paragrafen 175, der bis 1994 weiterhin im Strafgesetzbuch steht, ist im Laufe der Jahre immer wieder ein Anlass zur Solidarisierung von Lesben mit der Schwulenbewegung.

Das bekannteste Beispiel für die Zusammenarbeit mit Schwulengruppen ist die Gruppe Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW), die seit 1971 existiert und seit 1972 eine Frauengruppe hat. Zusammen kämpfen Lesben und Schwule für Rechte und Sichtbarkeit von Homosexualität. Eine gemeinsame Aktion der Männer- und Frauengruppe ist das „Kiss-In“ 1973. Gleichgeschlechtliche Paare der HAW knutschen in Berlin auf offener Straße und verteilen dabei Flugblätter zu Homosexualität.

Unabhängig davon, ob Lesben in Schwulen- oder Frauengruppen organisiert sind, treffen sie sich seit 1972 in Berlin zum Internationalen Pfingsttreffen der HAW. In den ersten Jahren treffen sich Schwule und Lesben gemeinsam, ab Mitte der 1970er Jahre organisieren Lesben ihre eigene Veranstaltung: das Lesbenpfingsttreffen. Dieses Treffen wird zum zentralen Termin der Lesbenbewegung. Hier diskutieren sie zum Beispiel, ob sie den Ausdruck der „schwulen Frau“ weiterverwenden wollen, „da der Volksmund damit nur Männer verbindet.”[5] Wiederholt wird auf den Lesbenpfingsttreffen das Verhältnis zur Frauenbewegung diskutiert. Mit der Wiederaneignung des Begriffs „lesbisch“ beginnt eine vorläufige Abnabelung von der Schwulenbewegung.[6]

Flugblatt gegen das Urteil im Ihns-Andersen-Prozess, 01.10.1974(FMT-Signatur: FB.04.129)
Flugblatt gegen das Urteil im Ihns-Andersen-Prozess, FMT, FB.04.129

Einer der Gründe dafür: Auch innerhalb der Schwulenbewegung erleben lesbische Frauen Diskriminierung. Konflikte entstehen, weil die Männer sich frauenfeindlich verhalten und kein Verständnis für feministische, emanzipatorischen Sichtweisen aufbringen.[7] Lesbische Frauen werden auf besondere Weise unterdrückt, da sie sich den klassischen Frauenrollen der Zeit – Ehe, Kinder, Hausfrau – entziehen. Schwule Männer hingegen haben als Männer mehr Freiräume, ihr Leben zu organisieren. Viele Lesben entscheiden sich deshalb für die Mitarbeit in der Frauenbewegung.[8] Vielerorts verschaffen lesbische Frauen ihren Zielen innerhalb der Frauenbewegung Gehör, um „für ihre Situation und gegen die Unterdrückung nicht nur als Frau, sondern als lesbische Frau zu kämpfen.”[9] Innerhalb bestehender Frauengruppen und Frauenzentren entstehen Lesbengruppen sowie Lesbenberatungsstellen.

Ein Schlüsselereignis für das Verhältnis von Lesben- und Frauenbewegung in der BRD ist der Prozess gegen Marion Ihns und Judy Andersen. Für gemeinsame Protestaktionen solidarisieren sich erstmals heterosexuelle Frauen öffentlich mit Lesben. In der Folgezeit outen sich immer mehr Frauen und es entstehen zahlreiche neue Lesbengruppen. Lesbische Frauen entwickeln, organisieren und verwirklichen Projekte und Aktionen innerhalb der Frauenbewegung und prägen somit die bundesdeutsche feministisch-lesbische Subkultur. So sind zum Beispiel die Berliner Frauen der HAW entscheidend am Aufbau des ersten Frauenzentrums der Bundesrepublik beteiligt.

Auf internationalen und nationalen Frauenfesten feiern heterosexuelle und homosexuelle Frauen zusammen ihre Verbundenheit. Manche heterosexuellen Frauen innerhalb der Frauenbewegung verlieben sich nun auch in Frauen. In den Räumen der Frauenbewegung sei es möglich gewesen, eine „eigene, selbstbewusste, nicht defizitäre, lesbische Identität zu entwickeln.“[10] Der Slogan „Feminismus ist die Theorie – Lesbianismus die Praxis“[11] wird in der Szene zum geflügelten Wort. Die Musikwissenschaftlerin und Zeitgenossin Eva Rieger reflektiert 1976 in Unserer kleinen Zeitung über das Verhältnis zwischen Lesben- und Frauenbewegung: „Wir sind aufeinander angewiesen, ohne Lesbierinnen wäre die Frauenbewegung einiger ihrer fähigsten und tüchtigsten Mitarbeiterinnen beraubt […].”[12]

Eröffnung Lesbenzentrum, FMT, PT.1976-05

Dennoch bleibt das Verhältnis konfliktreich. Auf der ersten Sommeruniversität der Frauen 1976 sind lesbische Frauen maßgeblich an Aufbau und Organisation der Veranstaltung beteiligt – aber im Programm und in den Diskussionen nicht sichtbar. Immer wieder erfahren lesbische Frauen, dass ihre Anliegen und Probleme von heterosexuellen Frauen kaum bis gar nicht beachtet werden. Viele fühlen sich in der Frauenbewegung „unsichtbar“ oder als „Randerscheinung“ oder werden auch dort mit Vorurteilen konfrontiert:

„In der Frauengruppe sahen wir u.a. [sic!] eine solche Möglichkeit [unsere Ängste als Lesbe zu durchbrechen], mußten aber erleben, daß wir auch hier zuerst als Lesben angesehen werden. Dann erst gelten wir als Frauen! Das fängt damit an, daß Einzelbeiträge nicht immer unbedingt als solche eingeordnet werden, sondern daß bestimmte unbequeme oder aggressive Äußerungen allzu leicht als kollektive Meinung ‚der Lesben‘ gelten und so in Umlauf gesetzt werden. Diskussionsbeiträge, die sich gegen Männer richten, erhalten ein anderes Schwergewicht, wenn sie von einer lesbischen Frau ausgesprochen werden – das mündet sogar in die übliche Klischeevorstellung ‚Lesben hassen natürlich Männer‘, wobei einer lesbischen Frau nicht das Recht zugesprochen wird, als Frau zu argumentieren. Ist dieser fatale Mechanismus – nahezu alle Äußerungen dem ‚Lesbisch-sein‘ zuzuordnen – einmal in Gang gesetzt, können damit Argumente entkräftigt, Diskussionen zur Farce werden und viel schlimmer, wird damit die Basis für solidarisches Handeln als Frauen eingeengt.[13]

CSD 1982, FMT, FB.04.128

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beginnen manche Lesbengruppen sich von den Frauengruppen zu distanzieren, wie zum Beispiel in Frankfurt, Hannover, Hamburg und Bochum, wo eigene Lesbenzentren entstehen.[14]

Die 1980er Jahre sind geprägt vom Aufbau sowie der Organisation und Politisierung der eigenen Bewegung. So wird zum Beispiel 1982 der Dachverband der Lesbenbewegung, der Lesbenring, gegründet. Er möchte neben der Vernetzung von Lesben in der Bundesrepublik vor allem die rechtliche Situation homosexueller Menschen verbessern. „Denn noch immer ist Homosexualität eine diskriminierte Randerscheinung, ungefährlich und uninteressant, solange sie sich weitgehend aus den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen heraushält […].“[15] So arbeiten in vielen Städten der Bundesrepublik lesbische mit schwulen Gruppen zusammen oder verbinden sich in Vereinen, wie in der Deutschen Lesbischen Schwulen Initiative (DeLSI). Ziel solcher Initiativen ist die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung von Homosexuellen.[16]

Jährlicher Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Schwulen und Lesben ist der Christopher-Street-Day, der seit 1979 in der Bundesrepublik gefeiert wird. Ab den 1980er Jahren werden in verschiedenen Städten wie in Hamburg, München und Gießen Schwulen- und Lesbenwochen als Auftakt zum CSD veranstaltet. Bis heute ist der CSD ein zentraler Feiertag in der Community. Lesben- und Frauenbewegung arbeiten in den 1980er Jahren weiterhin miteinander, so zum Beispiel in der Friedensbewegung, auf der Sommeruniversität und für andere feministischen Projekte und Kampagnen. Die Lesbenbewegung baut aber darüber hinaus eigene Strukturen auf: Treffen und Initiativen und eine eigenständige lesbische Kultur.

 

Chronik der Lesbenwegegung

 

[1] Kokula, Ilse: Zur Strategie der ‘Lesbenbewegung’ – Eine Bestandsaufnahme des bisher erreichten, in: (Hrsg.) Vorbereitungsgruppe Lesbenwoche: “Mit allen Sinnen leben” Dokumentation der 1. Berliner Lesbenwoche 26.10-2.11.1985, Berlin 1986, S.146-155, hier S.147.

[2] Zit. Nach: Pracht, Andrea: Uns über den Mut zur Konfrontation überall frei bewegen. Lesbenbewegung in Köln? In: Kölner Frauengeschichtsverein [Hrsg.]: „10 Uhr pünktlich Gürzenich“ Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln – zur Geschichte der Organisationen und Vereine, Münster 1995, 354-362, hier S.355.

[3] Eine Frau aus dem Rheinland, in: Lesben gemeinsam sind stark. in: Frankfurter Frauen [Hrsg.]: Frauenjahrbuch 1975, Frankfurt 1975, S.202.

[4] Dokumentation Internationales Lesbentreffen 1972-1975, S.2 [LE.11.023]

[5] Dokumentation Internationales Lesbentreffen 1972-1975, S.3.

[6] Lenz,Ilse (Hrsg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S.228.

[7] Rundbrief Nr. 1 für Lesben 1975, S.3.

[8] Dokumentation Internationales Lesbentreffen 1972-1975, S.3.

[9] Probleme von Lesben in Frauengruppen, in Frauenzeitung Nr.4, Sept. 1974, S.10-11, hier S.10.

[10] Keinhorst, Anette: Lesben jenseits der Metropolen: Frauenbewegung, Diskriminierung, Vernetzung, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv. URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/lesben-jenseits-der-metropolen-frauenbewegung-diskriminierung-vernetzung

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[11] Frauenbeziehung. Frauenliebe etc.

[12] Unsere Kleine Zeitung Nr.5/1976, S.4.

[13] Probleme von Lesben in Frauengruppen, in Frauenzeitung Nr.4, Sept. 1974, S.10-11, hier S.10.

[14] Lenz,Ilse (Hrsg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S.235.

[15] Trampenau, Beatrice/ Schiller, Heike: Lesben und Schwule gemeinsam? in: [Hrsg.] Vorbereitungsgruppe Lesbenwoche: “Mit allen Sinnen leben” Dokumentation der 1. Berliner Lesbenwoche 26.10-2.11.1985, Berlin 1986, S.98-100, hier S.100.

[16] Trampenau, Beatrice/ Schiller, Heike: Lesben und Schwule gemeinsam? in: [Hrsg.] Vorbereitungsgruppe Lesbenwoche: “Mit allen Sinnen leben” Dokumentation der 1. Berliner Lesbenwoche 26.10-2.11.1985, Berlin 1986, S.98-100, hier S.100.

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