Mit phantasievollen und provokanten Aktionen schafft die deutsche Frauenbewegung Öffentlichkeit. Homosexuelle Frauen, die zuvor mit Männern organisiert waren, stoßen zu den Feministinnen.
Januar 1973
Rund 40 Frauengruppen von Brot und Rosen in Berlin bis zum Interessenkreis Frauenemanzipation in Wiesbaden, von F.R.A.U. bis S.O.F.A. haben sich gegründet. Liste der Frauengruppen
In Berlin eröffnet Deutschlands erstes Frauenzentrum. Rund 120 Frauen haben das Zentrum in der Kreuzberger Hornstraße 2 gegründet, Initiatorinnen sind hauptsächlich die Gruppe Brot und Rosen und die Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW). Mit der Gründung des Zentrums lösen sich die HAW-Frauen zusehends von den homosexuellen Männern und wenden sich verstärkt der Zusammenarbeit mit den Frauenzentrumsgruppen zu. Ab 24. März 1973 ist das Zentrum täglich geöffnet. Flugblatt
Die Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung hatten Vorgängerinnen: 76 Jahre vor ihnen erkannten bereits die historischen Frauenrechtlerinnen um Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, „dass wir durchaus ein eigenes Haus haben mussten“ (mehr). Sie eröffneten 1897 in der Hamburger Paulstraße 25 ein Frauenzentrum.
10.-12. Februar 1973
Zum Bundesfrauentreffen in München kommen rund 30 Frauengruppen aus ganz Deutschland sowie Paris und Amsterdam. Themen sind Streiks von Arbeiterinnen gegen die sogenannten Leichtlohngruppen, die Separation/Zusammenarbeit mit Männern in der Bewegung und natürlich der Kampf gegen den § 218. Annie Cohen und Alice Schwarzer vom Pariser MLF kommen mit dem französischen Arzt René Frydman zum Kongress, um Feministinnen und Ärztinnen bekannt zu machen mit der ‚Karman-Methode’ (Absaugmethode) – der schonendsten Methode für einen Schwangerschaftsabbruch, die in Deutschland jedoch nicht angewendet wird. Nach amerikanischem Vorbild praktizieren jetzt auch deutsche Feministinnen das ‚Consciousness Raising’ (CR): In Selbsterfahrungsgruppen reden sie über das Private, das eben auch politisch ist.
17. Februar 1973
Die HAW-Frauengruppe startet eine Protestaktion gegen eine Serie der Bild-Zeitung: Die Verbrechen der lesbischen Frauen. Anlass für die Serie ist die Verhaftung von Marion Ihns und Judy Andersen. Die beiden Frauen, ein Liebespaar, hatten Ihns’ prügelnden und misshandelnden Ehemann von einem Auftragsmörder umbringen lassen. Die Bild-Serie ist ein Schlag gegen die aufbegehrenden – homo- und heterosexuellen – Frauen. „Den Lesern, insbesondere den Leserinnen, soll mit dieser Serie eingeimpft werden, dass Frauen, die ihre in der Gesellschaft geforderte Rolle als brave Ehefrau und Mutter nicht für sich akzeptieren wollen, sowieso nur kriminell sein können“, schreibt die HAW in ihrem Flugblatt. Erstmals seit Beginn der Neuen Frauenbewegung gehen lesbische Frauen an die Öffentlichkeit, um gegen Diskriminierung und Kriminalisierung zu protestieren.
Ende Februar 1973
Rund 50 junge Schülerinnen, Lehrlinge und Studentinnen stürmen mit Schweinshaxen und Flugblättern der Frauengruppe Revolutionärer Kampf die ‚Wahl der Miss-Teenager-Beine’ in der Frankfurter Diskothek Number One. Motto: „Ihr verkauft hier unser Knie wie der Bauer ein Stück Vieh!“ Die Aktion ist einer der ersten öffentlichen Proteste gegen den alltäglichen Sexismus.
Frühjahr 1973
In der edition suhrkamp erscheint das zweite Buch von Alice Schwarzer: Frauenarbeit – Frauenbefreiung. Die Autorin arbeitet erneut mit der Methode der verdichteten Monologe (Protokolle), von der Supermarkt-Kassiererin bis zur Filmemacherin. Essays analysieren den Konflikt von Frauen zwischen Beruf und Familie. Und im Anhang sind die zu dem Zeitpunkt bekannten Adressen autonomer Frauengruppen veröffentlicht. Es sind 42 in Westdeutschland und Westberlin, und je zwei in Österreich und in der Schweiz.
8. März 1973
In Frankfurt starten die Frauengruppen von Weiberrat über Hochschulgruppe bis Revolutionärer Kampf Aktionen gegen Sexismus. Sie besprühen Boutiquen-Schaufenster („Wir sind keine Puppen!“) und fordern bei einem ‚Go-In’ in der Poliklinik die Streichung des § 218, Schwangerschaftsabbruch auf Krankenschein und die kostenlose Pille. Auch die Forderung nach Räumen für ein Frauenzentrum wird laut.
Ende März 1973
Frauengruppen reagieren auf die harte Anti-Abtreibungs-Politik der katholischen Kirche und starten eine Kirchenaustritts-Kampagne. „Können wir weiter verantworten, dass wir eine männliche Institution finanzieren, die uns Frauen abspricht, berufstätig zu sein, eine Ausbildung zu bekommen, sinnvoll Schwangerschaft zu verhüten, kurzum: Die uns wie eh und je ins Haus, zum Kochen und Kinderhüten, vor allem aber zum Kinderkriegen verdammt?“
Während der Verlesung des Hirtenbriefes zum § 218 stürmen etwa 100 Frauen den Frankfurter Dom und übertönen mit ihren Sprechchören („Ungebornes wird geschützt – Geborenes wird ausgenützt!“) die Verlesung. Ein Polizeiaufgebot nimmt 31 Frauen und 20 Männer in Gewahrsam.
14. April 1973
Mit Mehltüten, gekochten Nudeln und Babypuder sprengen rund 70 Frauen die Jahreshauptversammlung des hessischen Hartmannbundes in Oberursel. Die konservative Ärzte-Ständeorganisation hatte sich mehrmals scharf gegen die Fristenlösung ausgesprochen und auch die schonende ‚Karman-Methode’ blockiert. Bei einer Umfrage der Bild-Zeitung hatten 63 Prozent der befragten Ärzte (u.a. des Hartmannbundes) erklärt, sie seien nicht bereit, Schwangerschaftsabbrüche ohne medizinische Notwendigkeit vorzunehmen.
Mai 1973
In ganz Deutschland starten Frauengruppen Aktionen zum Muttertag. Motto: „Wir wollen Rechte – keine Rosen!“ Flugblatt
5./6. Mai 1973
An der Delegiertenkonferenz in Frankfurt nehmen 37 Frauengruppen aus ganz Deutschland teil. Ein Konflikt entbrennt an der Erstausgabe der Zeitung efa, die von der Sozialistischen Frauengruppe Köln (S.O.F.A.) herausgegeben wird. Die Mehrheit der Anwesenden plädiert jedoch für eine autonome Zeitung, die im Wechsel von verschiedenen Frauengruppen herausgegeben werden soll. Der Streit verdeutlicht die zunehmenden Spannungen zwischen den autonom-feministischen und sozialistisch-feministischen Positionen.
15. Mai 1973
Die Zeit der Hausbesetzungen. Meist junge Menschen aus der ‚Szene’ besetzen leerstehende Häuser (oft Objekte von Spekulanten), um billigen Wohnraum zu schaffen. Auch Frauengruppen beginnen, Häuser zu besetzen. In Berlin wird die erste Hausbesetzung durch Frauen mit einer Hundertschaft und zwei Wasserwerfern beendet. Eine Gruppe junger Frauen – Studentinnen und Angestellte – hatte eine leerstehende Wohnung in der Freiherr-vom-Stein-Straße besetzt, um als ‚Frauenkollektiv’ darin zu wohnen.
4. Juni 1973
Die National Organization for Women (NOW) lädt zur 1. Internationalen Feministischen Planungskonferenz nach Cambridge/USA (einziger männlicher Teilnehmer: John Lennon, an der Seite von Yoko Ono). Die 300 Teilnehmerinnen aus aller Welt beschließen im Hinblick auf das für 1975 geplante UNO-‚Jahr der Frau’, im nächsten Jahr in Belgien oder Schweden eine erste internationale feministische Frauenkonferenz abzuhalten.
2. Juni 1973
Auf einer Großdemonstration in Bonn fordern Frauen aus ganz Deutschland die Fristenlösung. Der Bundestag will im Laufe des Jahres über eine Reform des § 218 entscheiden. Der Kanzler heißt Willy Brandt, es regiert eine rot-gelbe Koalition. Laut Umfragen sind 83 Prozent aller deutschen Frauen gegen das Abtreibungsverbot. Doch die SPD zögert. Die FDP dagegen spricht sich klar für die Fristenlösung aus.
Pfingsten 1973
Beim zweiten überregionalen Pfingsttreffen der HAW, an dem auch rund 50 Frauen teilnehmen, initiiert die Frauengruppe erstmals eigene Veranstaltungen. Die lesbischen Frauen gründen eine Arbeitsgruppe mit dem Titel Von der Notwendigkeit für Lesben, feministisch zu werden und erklären: „In unserer patriarchalischen Gesellschaft gilt die Frau – und die schwule Frau erst recht – nicht als selbstständiges Subjekt, das seine Interessen verwirklichen kann, sondern sie bleibt Objekt und Lustobjekt der Männer. Die schwulen Frauen müssen die Funktion des genormten Rollenverhaltens der Geschlechter erkennen, sich von diesen Klischeevorstellungen lösen und gegen sie vorgehen.“ Während des Treffens wird der ZDF-Fernsehfilm Zärtlichkeit und Rebellion gedreht (Autorin: Eva Müthel).
Juli 1973
Berliner Frauengruppen starten die Postkartenaktion Frau in der Werbung gegen sexistische Werbespots. Sie fordern den Sender Freies Berlin auf, „nicht länger Sendezeit einer öffentlich-rechtlichen Anstalt für die Diskriminierung der Frau zur Verfügung zu stellen!“
Der Bundestag beschließt die vierte Sexualstrafrechtsreform, die unter anderem die Freigabe ‚einfacher’ Pornografie an Erwachsene vorsieht. Zunächst begrüßen auch Feministinnen diesen Schritt als ‚sexuelle Befreiung’. Zwei Jahre später jedoch wird es anlässlich des Films Geschichte der O die ersten ‚Anti-Porno-Proteste’ gegen die Folgen der Reform geben.
In der SPD gründet sich die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF). In Ludwigshafen findet der erste AsF-Bundeskongress statt. Motto: „Benachteiligungen überwinden“.
Sommer 1973
Auf der dänischen Insel Femø treffen sich Frauen aus vielen europäischen Ländern zum 1. Internationalen Frauenzeltlager. Das von skandinavischen Feministinnen initiierte Sommertreffen wird rasch zur Legende. Frauen aus ganz Europa, ja sogar aus den USA, reisen in den kommenden Jahren Sommer für Sommer an, um für ein paar Wochen das Leben im ‚Frauenland’ zu genießen. Erste Träume von vergangenen ‚Matriarchaten’ und zukünftigem ‚Frauenland’ regen sich. Erste Spannungen zwischen den Separatistinnen und den Aktivistinnen tauchen auf: Erstere wollen sich ganz von ‚den Männern’ absetzen und sich auf reines Frauenterrain zurückziehen. Zweitere wollen weiter in die Gesellschaft hineinwirken und auf die Gleichheit von Frauen und Männern hinarbeiten.
Eine Welle von Frauenstreiks bricht los. Am 16. Juli treten fast 4.000 ArbeiterInnen der Lippstädter Hellawerke in den Streik. Auslöser war eine Lohnerhöhung im Bereich Werkzeugbau, der ausschließlich den Männer zugute kam. Die (überwiegend ausländischen) Frauen der niedrigen Lohngruppen gingen leer aus. Am 13. August streiken 2.000 Arbeiterinnen der Neusser Vergaserfabrik Pierburg für eine Lohnerhöhung um eine Mark pro Stunde und die Abschaffung der Leichtlohngruppe 2. Die Frauen, davon rund 1.600 Türkinnen, Griechinnen und Italienerinnen, gewinnen den Arbeitskampf. In den Herner Optal-Werken erkämpfen 30 Arbeiterinnen eine Teuerungszulage. In Köln protestieren Näherinnen erfolgreich gegen die Steigerung des Arbeitstempos
Es ist die Zeit, in der Linke aus maoistischen, spontaneistischen und kommunistischen Splittergruppen der Theorie adé gesagt und sich praktisch engagiert haben. Viele von ihnen sind in die Fabriken, an die Fließbänder und Werkbänke gegangen. Ziel: Die ‚Agitation des Proletariats’. Unter diesen Agitatoren sind auch Frauen – und sie richten sich in erster Linie an das weibliche Proletariat. Die Streiks sind nicht immer, aber manchmal von ihnen initiiert oder mit organisiert.
September 1973
In Frankfurt eröffnet ein weiteres Frauenzentrum, das zweite in Deutschland. Initiatorinnen sind vor allem der Weiberrat und die Frauengruppe Revolutionärer Kampf. Die Gründerinnen kündigen an: Die Aufhebung der Isolation von Frauen, Frauenliteraturkreise, CR-Gruppen und Selbstuntersuchungen.
Oktober 1973
Die Frauenzeitung – Frauen gemeinsam sind stark erscheint. Das Themenspektrum reicht von Verhütung und § 218 über Lesben bis zu Frauenstreiks in Frankreich und Erfahrungen in Femø. Die Frauenzeitung wird abwechselnd von Frauengruppen verschiedener Städte produziert und erscheint bis 1976 insgesamt acht mal.
15.-18. November 1973
Im Berliner Kino Arsenal findet das 1. Internationale Frauenfilm-Seminar statt. Titel: Dokumentar- und Zielgruppenfilme zur Situation der Frau. Organisatorinnen sind Helke Sander und Claudia von Alemann. Während des viertägigen Filmseminars geht es um die Themen ‚Frauen im Arbeitskampf’, ‚Frauen in der Darstellung der Medien’, ‚§ 218, Sexualität, Rollenverhalten’ und ‚Frauenbewegung in Europa und den USA’.
November 1973
Im Berliner Frauenzentrum führen zwei Amerikanerinnen aus dem Frauengesundheitszentrum Los Angeles eine öffentliche Selbstuntersuchung mit dem Spekulum vor. 300 Zuschauerinnen drängeln sich in das überfüllte Zentrum in der Hornstraße.
Zwei Jahre nach den USA startet nun auch in Deutschland die feministische Frauengesundheitsbewegung (EMMA 5/2003) mit Selbsthilfe in Verhütungsfragen, Schwangerschaft, Abtreibung und Frauenkrankheiten. Ab 1976 erscheint in Berlin die Frauengesundheits-Zeitschrift CLIO. 1977 wird ebenfalls in Berlin das erste Feministische Frauengesundheitszentrum (FFGZ) eröffnet.